Witkiewicz, Stanislaw Ignacy Abschied vom Herbst

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Übersetzung aus dem Polnischen von Walter Tiel

 

© für diese Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2019
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Nienasycenie« bei Dom Ksiażki Polskiej Spólka Akcyjna, Warschau 1930
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München 1966/1986
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Motto

Was ist, o Natur, Deiner Tröstungen Wort

gegen die Begierden, die Du weckst durch Deiner Finsternisse Raum

(Deinen dunklen Raum)

Vorwort

Da ich die Versprechungen, die das erste Vorwort enthielt, nicht eingelöst habe, das nämlich zu schreiben, was ich einen »metaphysischen Roman« nenne, verfasse ich ein zweites – nur ein paar Worte.

 

  1. Vorweg weise ich den Vorwurf zurück, dass dieser Roman pornografisch sei. Meines Erachtens muss die Beschreibung bestimmter Dinge erlaubt sein, soweit sie einen Vorwand zu anderen, wesentlicheren Aussagen abgeben. Stefan Żeromski[1] vermerkte in seinem Roman Vorfrühling, dass er an gegebener Stelle von der Beschreibung bestimmter Szenen absehe, weil das polnische Publikum so etwas nicht liebt. Ich halte das nicht für richtig. Gemessen an dem, was die Franzosen schreiben (im Moment fallt mir Mirbeau, Paul Adam, Margueritte ein), meine ich nicht, dass die Dinge in diesem Buch zu monströs dargestellt sind. Manchmal sind der Punkt auf dem »i« und das Schwänzchen am »e« besser als diskrete Pünktchen und Gedankenstriche. Seitdem Berent[2] das Wort »Hurensohn« drucken ließ (in Wintersaat) und Boy[3] einen Satz, in dem der Ausdruck vorkam: »Sie paaren sich wie wilde Esel« (im Vorwort zu Fräulein de Maupin), finde ich, dass man sich gelegentlich nicht genieren muss, wenn es sich entsprechend lohnt. Freilich kann man immer sagen: Was dem Fürsten erlaubt ist, ist dem Schwein nicht erlaubt – na ja, man muss etwas riskieren.
  2. Ich lehne ebenfalls von vornherein den etwaigen Vorwurf ab, ich hätte ein leichtfertiges Verhältnis zu religiösen Fragen. Bei uns gibt es so viele bornierte Leute, dass so etwas durchaus möglich sein könnte. Energisch protestiere ich dagegen.
  3. Gesellschaftliche Fragen werden naiv behandelt, ohne Fachkenntnisse, die ich nicht besitze. Es geht um den Hintergrund. Ich mache keinerlei Anspielungen auf aktuelle Dinge: nichts von Maiereignissen des Jahres 1926, keine Märzereignisse des Jahres 1927. Ich hätte diese ganze Geschichte ebenso gut in Venezuela oder in Paraguay ansiedeln können und die »Helden« mit spanischen oder sogar portugiesischen Namen ausstatten können. Das hätte das Wesen der Dinge nicht geändert.
  4. Weil ich keine Ahnung davon habe, was ein luxuriöses Leben ist, behandle ich diese Fragen etwas humoristisch und fantastisch à la Madzia Samoswaniec[4]. Die Idee, fantastische Bezeichnungen zum Beispiel für nicht existierende Speisen einzuführen, entnahm ich dem leider 1917 vernichteten Roman Kardynal Poniflet von Leon Chwistek[5]. Er schrieb ihn 1906, und dort »traten« nicht existierende Pflanzen »auf«. Anstatt irgendein »Menü« zu kopieren aus dem Hotel Australia in Sydney oder von einem Festessen beim Major der Stadt Bendigo bei Melbourne oder einfach von Rydz in Warschau, zog ich es einfach vor, Bezeichnungen nicht existierender Speisen zu verwenden. Auf diese Weise könnten diese Speisen sogar für einen Feinschmeckerklub in Paris einen gewissen Reiz haben. Dasselbe gilt für die purpurroten Pferde, Möbel, Bilder und so weiter.
  5. Indien kenne ich nicht, außer von einem mehrstündigen Aufenthalt in Bombay. Dafür war ich auf der Durchreise nach Australien im Jahr 1914 zwei Wochen auf Ceylon (damit muss ich mich brüsten, denn wenn ich ein Snob bin, dann nur ein australischer). Ich weiß dagegen nicht, weshalb ich bestimmte Ereignisse in Indien angesiedelt habe, davon ausgehend, was ich in Ceylon gesehen hatte. Auch an die Landesgeografie habe ich mich nicht genau gehalten.
  6. Als Motto nehme ich ein Bruchstück aus einem Gedicht eines meiner schlimmsten »Feinde«, Anton Slonimskis, nicht um falsche Objektivität vorzutäuschen, sondern einfach deshalb, weil mir dieses Gedicht sehr gut gefällt und weil es als Motto passt. Ich muss aber betonen, dass ich mich in meinen Urteilen über Kunst von keinen persönlichen Rücksichten leiten lasse, auch nicht von Politik oder sonstigem, außer davon, ob ich die gegebene Sache für künstlerisch gut halte oder für schlecht. Leider muss ich feststellen, dass dieses Verhältnis zu Kunstwerken bei uns eine Seltenheit ist.
  7. Das, was mein zweiter sehr unangenehmer »Feind«, Karol Irzykowski[6], über das Verhältnis der Kritik zum Kunstwerk in Bezug auf den Autor schreibt, ist völlig richtig. Den Autor aufgrund seines Werkes in den Dreck zu ziehen, ist indiskret, ungehörig, nicht gentlemanlike. Leider kann jeder einer solchen Schweinerei ausgesetzt werden. Das ist sehr unangenehm.
    P. S. Für einen »schlimmen Feind« halte ich denjenigen, mit dem man sich nicht auseinandersetzen kann, weil ihm ein eindeutiges System von Begriffen fehlt, und denjenigen, der sich selbst gegenüber nicht aufrichtig ist – der sich selbst nicht genau genug analysiert, wenn er sich zur Kritik oder zur Polemik anschickt, tja – und der die Ideen seines Gegners nicht versteht.
  8. Ich weise noch darauf hin, dass dieser Roman der zweite ist, den ich geschrieben habe. Den ersten, 622 Stürze des Bung oder Das dämonische Weib, schrieb ich in den Jahren 1910–1911. Aus Gründen, die mit mir nichts zu tun haben, kann er nicht veröffentlicht werden.
  9. Den Roman halte ich nicht für ein Kunstwerk, entsprechend meiner Definition der Kunst im allgemeinen. Ansichten über den Roman habe ich 1925 im Januarheft des Skamander geäußert anlässlich einer Kritik von]. M. Rytards[7] Himmelfahrt
  10. Niemand wird mich dazu zwingen, dass ich das schön klingende zweisilbige Wort »tryumf« – »triumf« schreibe. Dadurch verwandelt es sich in ein einsilbiges Wort, was völlig unvereinbar ist mit dem Geist der polnischen Sprache. Man kann nicht wegen irgendwelcher orthografischer Forderungen den seit Jahrhunderten gebräuchlichen Klang der Worte verändern, umso mehr, wenn sie ganz objektiv in der früheren Schreibweise besser klingen. Mir scheint, das ist alles.

30. X. 1926 S. I. W.

I. Kapitel

Hela Bertz

Es war ein Nachmittag im Herbst. Atanazy Bazakbal, sehr unbemittelt, weit über zwanzig, ausgezeichnet gebaut und ungewöhnlich gut aussehend, brünett, kleidete sich eilig und doch sorgfältig an. Seine hellgrünen Augen, seine gerade Nase und sein recht stolzer, gewölbter Mund von der Farbe roher Leber stellten eine verhältnismäßig sympathische Gruppe der sichtbaren Organe seines Körpers dar. Der Duft der schwarzblau gemusterten Krawatte erinnerte ihn an seine vorletzte Geliebte, eine Blondine mit langen, schlanken Beinen und einem fehlerhaften Nasenansatz. Die Erinnerung an die sinnlosen Worte, die sie beim endgültigen Abschied gesagt hatte, explodierte wie eine ferne Granate und fiel mit dem Verschwinden schwacher Parfumdüfte in sich zusammen.

Vor einer halben Stunde hatte Atanazy endgültig beschlossen, zu Hela Bertz zu gehen. Er war übrigens schon mehrmals dort gewesen, aber nie deswegen … Jedenfalls nicht programmatisch. Der Zweck dieses Besuchs entsetzte ihn, aber gleichzeitig war alles so klein und unwichtig wie diese paar Fliegen, die um die nicht angezündete Lampe an der Zimmerdecke herumflogen im gelben Abglanz der Sonne, der von dem Haus gegenüber reflektiert wurde. Die lnkommensurabilität der inneren Zustände und des tatsächlichen Materials würgte wie ein Polyp, der sich von innen her in die wesentlichsten, lebenspendenden Eingeweide eingesaugt hatte – vielleicht war es das Herz.

Atanazy hatte sich zu diesem Schritt entschlossen, weil er es nicht länger ertragen konnte. Nicht etwa ohne Hela Bertz, obgleich sie ihm einmal ganz gefährlich gut gefallen hatte – nein: Er konnte einfach das gewaltige Übermaß seiner Liebe zu seiner Verlobten nicht. mehr ertragen, die er gerade in dieser Zeit zu sehr zu lieben begonnen hatte. Kann man auf der Basis von Gegenseitigkeit zu sehr lieben? Unsinn – und dennoch war Atanazys Situation fatal: die Liebe dieses gewohnheitsmäßigen Analytikers potenzierte sich auf eine fantastische Art, aus ihm völlig unverständlichen Gründen. Hela Bertz war natürlich Jüdin und zugleich die Verkörperung alles dessen, was Atanazy an einer Frau an sich gefallen konnte. Außerdem war sie, bis zu gewissen unüberschreitbaren Grenzen, eine notorisch leichtsinnige Frau. Davon hatte sich Atanazy bei einer Abendgesellschaft überzeugen können, die mit einer Trinkerei a la maniere russe geendet hatte. Doch ob diese Leichtigkeit beim ersten Mal auf weite Sicht nicht irgendwelche Hinterhalte verbarg?

»Oh, welch sonderbare Formen kann der Wahnsinn gesunder Menschen annehmen« – so hatte neulich, das letzte Mal seine Hand drückend, Gina Beer, geborene Osłabędzka, die Frau eines reichen Juden und Cousine seiner augenblicklichen Verlobten, zu ihm gesagt. Zum ersten Mal dachte er über diesen scheinbar sinnlosen Satz nach. Eine Sekunde lang stand er vor einem Abgrund, der in seinem Inneren klaffte, unerwartet wie ein feuerspeiender Krater zwischen den langweiligen Feldern der masowischen Tiefebene: gurgito nel campo vasto – ein von wer weiß wo herbeigeirrter Satz. Wenn er wollte, könnte er in diesem Augenblick viele wichtige Dinge erfahren: er brauchte nur zu fragen, und eine geheime Stimme würde alles mit mathematischer Präzision beantworten und das Wesen der gewichtigsten Vorbestimmungen aufdecken. Doch Atanazy war – in diesem Zustand – von den kleinen Dingen des Lebens gefangen, noch dazu von denen des »sexuellen Bereichs«. Abscheulich! Wie viele derartige Momente hatte er schon einfach aus Faulheit vergeudet sowie durch Einfügung nicht entsprechender Zahlen an die Stelle von X und Ypsilon in jene Gleichungen des reinen Schicksals, die ihm der Zufall unverdienter Offenbarungen vor sein inneres Auge stellte. Heute waren seine Verlobte und Hela Bertz die Parameter; und die Variable, vielmehr ihr System, war wie gewöhnlich er selbst, aufgespalten in mehr als ein Dutzend Doppelgänger. »Warum gerade Hela Bertz, und nicht zum Beispiel die arme Gina« (so arm war sie wiederum nicht) »oder irgendeine von den anderen ehemaligen oder potenziellen Geliebten? Mit einer anderen wäre es kein Treubruch, ich muss sie aber wirklich betrügen. Hela ist die schönste und intelligenteste« (und reichste – flüsterte etwas) »Frau, die ich kenne. Sie allein entspricht jenem höchsten ›Standard‹ der Untreue, der notwendig ist. – Wozu dieser ›Standard‹? Es genügt, sie zu küssen – aber mit anderen …? Ja – das ist der Wahnsinn gesunder Menschen! Vielleicht bin ich wirklich wahnsinnig?« – Er war entsetzt, aber nur kurz: wieder sah er Zosias grüne Augen vor sich. »Sie würde mich sogar vor dem Wahnsinn retten«, dachte er mit maßloser, alle anderen Gefühle zermalmender Liebe. Er empfand sich selbst als kleines, nichtswürdiges Geschöpf und begehrte mit wahnsinniger Kraft irgendeine Erhöhung über sich hinaus. Vorläufig jedoch änderte er seine Entschlüsse nicht. Das war eben sein fatales Schicksal. Aber was ging das irgend jemanden an? Und dennoch …

Seinen widerlichen Plan beschloss Atanazy a coup sur auszuführen. »Wenn ich nur nicht zufällig ein ganz gewöhnliches, kleines, gemeines, trauriges Schwein bin, ›un cochon triste‹?« dachte er und griff zum Telefonhörer.

»Fräulein Hela?«

»Ja, wer ist da?«

»Bazakbal. Sind Sie allein?«

»Ja. Das heißt … eigentlich …«

»Ich möchte kommen und mit Ihnen über Proust und Valery sprechen und so weiter …«

»Gerne – aber gleich. Um fünf Uhr fahren Kuba und ich zu dieser Ausstellung von Scheußlichkeiten. Niemand versteht es, so wie er …« Atanazy legte plötzlich den Hörer auf. Ihn überkam die bekannte Atmosphäre des sogenannten wirklichen »Dämonismus«, dieser »weiblichen Welt«, dieser Schweinerei, in der Körper, Seelen und Kleider nur lockende Ergänzung selbstständig lebender Geschlechtsorgane sind, wie Blütenblätter um Stempel und Staubfaden. Nur, dass es da schön ist … Ein wahnsinniger Ekel vor dem Geschlecht überhaupt schüttelte ihn von Grund auf. »Oh, wäre es doch hermaphroditisch wie bei den Schnecken, ohne diese Spaltung der Persönlichkeit! Ach, wer hat diese ganze wilde Phantasmagorie erdacht! Nun ja, wir gewöhnen uns so daran, dass es für uns aufhört, sonderbar zu sein. Doch wenn man darüber nachdenkt, dass jemand das da in jenes und dabei …« Die metaphysische Scheußlichkeit der Erotik wurde ihm klar wie noch nie. Und dennoch stand seine Verlobte Zosia gewissermaßen außerhalb. »Liebe ist etwas anderes, muss es sein – und wenn das nicht an sich schon so ist, werde ich es bewusst erschaffen. Nur diese Zutaten … Eine einzige Frau lieben wie einen Freund (auch das ist ekelhaft) und außerdem eine beliebige Anzahl von Geliebten haben (was gibt es Ekelhafteres?) – das wäre das Ideal. Und sie ebenso? Nein – Symmetrie ist hier ausgeschlossen. Der Treubruch einer Frau ist etwas ganz anderes als der Treubruch eines Mannes.« »Wir stecken nur das da in jenes, sie aber stecken Gefühl hinein (wo hinein?)«, erinnerte er sich an den peinlichen Satz eines ehemaligen Freundes, des bolschewisierenden Poeten Sajetan Tempe. »Den grundsätzlichen Unterschied beider Arten von Treubruch beweist auch das Märchen von dem Experiment mit einem weißen Kaninchenweibchen. Nachdem diese Dame ihren weißen Gatten nur ein einziges Mal mit einem schwarzen Geliebten betrogen hatte, gebar sie bis an ihr Lebensende ab und zu scheckige Kinder.«

Die transzendentale Ausweglosigkeit der Situation und die Unlösbarkeit der mit ihr verbundenen Probleme wurden ihm klar wie die Sonne, wie 2 x 2. Und trotzdem musste man weiter in dieses Knäuel von Widersprüchen, Leben genannt, eindringen, in jenes Leben, von dem man in psychologischsozialen Dimensionen spricht, in dieses sogar in seinen kleinen Ungewöhnlichkeiten gewöhnliche Leben; schlimmer noch, man musste in das ganze Dasein eindringen, bereits auf der zweiten Etage der Probleme, dort, wo unveränderliche, notwendige Begriffe und ihre notwendigen Verbindungen bestehen, in die Sphäre der allgemeinen Ontologie. Die Unvereinbarkeit beider Welten wurde immer quälender und sinnloser. Wie eine Emulsion aus Öl und Wasser immer – auch wenn sie noch so sorgfältig gemischt ist – bei hinreichender Vergrößerung stets einzelne Fettkügelchen aufweisen wird. »Dennoch steckt am Grunde des Daseins, an seinem Ursprung selbst irgendein höllischer Nonsens, obendrein noch ein langweiliger Nonsens. Aber diese Langeweile ist das Ergebnis der heutigen Zeiten. Früher war das groß und schön. Heute ist das Geheimnis auf den Hund gekommen, und es gibt immer weniger Menschen, die noch darum wissen. Bis am Ende eintöniges Grau alles bedeckt, für viele, viele Jahre, noch bevor die Sonne erlischt.« Atanazy fiel Arrhenius’ Buch Das Schicksal der Planeten ein, und eine Unlust, nicht mehr metaphysisch, sondern geologisch-astronomisch, bedrückte ihn eine Weile lang zutiefst. Also ein kompletter »Aprenuledelüschisme«? Und die Menschheit, und die allgemeinen Ideale, und das allgemeine Glück? »Aus der Gesellschaft kannst du dich nicht davonstehlen, Brüderchen – aus ihr bist du gekommen, und keinerlei Abstraktionen werden dir da helfen«, hatte dieser verfluchte Tempe einmal gesagt. Der Kreis der Widersprüche schloss sich bei diesem Gedanken wie Wasser über einem hineingeworfenen Stein. Genug. Atanazy erstarrte plötzlich in dem Gefühl, dass die Resultate seiner Entschlüsse unwiderruflich seien. (Die frühere Welt versank lautlos in irgendeiner vom Zuschauerraum des Bewusstseins aus unsichtbaren Versenkung.) Selbst wenn er zur Zeit ausgehalten worden wäre (was man ihm wegen der Romanze mit Frau Beer unterstellte), so hätte das seine in diesem Moment vollkommene Proportion psychischer Daten um kein Haar geändert. Wie eine Kanonenkugel, aus dem geheimnisvollen Abgrund des Daseins abgeschossen, raste er dahin, um das Endziel seines Lebens zu treffen und an ihm zu zerschellen, mit der gleichen Sinnlosigkeit, mit der auch alles andere seinem Ende zueilte. Geld hatte er etwas, er verdiente es als Rechtsanwaltsgehilfe. »Oh, wenn ich alles, was sich hier abspielt, in funktionale und nicht in kausale Verbindungen fassen könnte«, dachte er voller Neid auf irgendeinen unbekannten, ja sogar unvorstellbaren Herrn, der wahrscheinlich alles genauso erfasste. »Nichts in ordinäre Ursachen- und Folgekomplexe zerteilen, nichts von kleinen Zielstrebigkeiten wissen – die strömende Woge der Lust und des Leidens in den verschlungenen Knäueln der Ganzheit des Daseins fühlen, in der endlosen Verzahnung von allem mit allem, das an das Nichtsein grenzt, an das Absolute Nichts. Mit einem Wort, die Psychologie einer Amöbe …« Kleine Dinge, verbunden mit dem Verlassen seines Hauses, unterbrachen glücklicherweise diese Gedankengänge beziehungsweise Gedankenverirrungen. »So durchlebt Gott das Weltall«, »dachte« er noch mit Mühe, nun schon völlig unaufrichtig. Das vor einer Weile verklungene Telefongespräch flog gewissermaßen in Gestalt aneinanderschlagender kleiner Metallbleche an ihm vorbei, mit dem herben Geschmack der unwiderruflichen Konvergenz von Ereignissen. »Ich muss sie gerade heute betrügen, sonst wird auch sie nicht glücklich – es ist der letzte Tag – morgen bin ich dazu nicht mehr imstande.« Er klebte diese Worte auf den gegenwärtigen Moment wie eine Briefmarke auf einen lügnerischen Brief. Er hatte nichts mehr zu bedenken, und das schreckliche Gefühl der großen, grundlosen Liebe zu seiner Verlobten, Zosia Osłabędzka, stürzte wieder mit unerträglicher Last auf ihn herab. Er fühlte, dass er keine Kraft zur Erfüllung seiner Absicht hatte, und die nicht analysierbare, drohende Lawine eines gewaltigeren Gefühls türmte sich himmelhoch vor ihm auf. Wie kann man dieses unüberwindliche Hindernis überspringen? Wie kann man so ohne Grund, ohne Vorbehalt, sogar ohne Glauben an diese Liebe – so lieben – eben so? Das könnte nicht einmal Strug beschreiben.

Er wusste, dass die Rückkehr zu einer seiner früheren Geliebten hier ein Nichts wäre, ein Stäubchen im Verhältnis zu den ungeheuren eisernen Hanteln, mit denen er unter Aufbietung der letzten Kräfte noch jonglierte und dabei dem Beobachter zulächelte, der ihm in solchen Momenten ein größeres Publikum ersetzte. Maßlose Traurigkeit, verbunden mit der Notwendigkeit dieser programmatischen Untreue, überzog wie nahendes, langwährendes Schlechtwetter den ganzen psychischen Horizont. Und ohne das …? – Die würgende Qual eines unerträglichen Gefühls, das alles wie ein bösartiges Geschwür auffraß. Das dachte er mit folgenden Worten: »Es gibt eigentlich gar nichts zu fressen – ich bin ja nichts. Und dennoch… es gibt nur ein einziges Leben.« Zum ersten Mal machte er sich diese peinliche Binsenwahrheit wirklich bewusst und beschloss unwiderruflich, sich zu wehren. Es fehlte nicht viel, und er hätte geweint. Er biss die Zähne zusammen und schluckte mit großer Anstrengung einen riesigen Klumpen kondensierten Leids hinunter.

»Imaginäre Probleme«, knurrte er wütend einen Nichtexistierenden an, der ihm ganz deutlich diesen Vorwurf machte. Wer war es? Eine ferne Perspektive verschiedenartiger Wahnideen tat sich auf wie eine nächtliche Landschaft im Schein eines plötzlichen Blitzes und schrumpfte wieder, von der Dunkelheit verschlungen, zu dem wie üblich unverständlichen gegenwärtigen Augenblick.

Soeben bog er in die Untere Mühlenstraße ein, in der Hela Bertz wohnte. Die Sonne ging unter und erfüllte die Luft mit gelbem Staub. Dieser Anblick steigerte sein Leid zu Ausmaßen, die seine Eingeweide sprengten. Er entsann sich der Theorie vom Mikro- und Megalosplanchismus, wonach die Menschheit sich in zwei grundsätzliche Typen einteilt: in einen mehr weiblichen und einen mehr männlichen, je nach dem Übergewicht des Nervus vagus oder des Nervus sympaticus. Er begriff seine absolute Machtlosigkeit und die Hoffnungslosigkeit jeglichen Kampfs: Mikrosplanchisten sind zur Großen Liebe unfähig: Das ist ein Axiom. Und dennoch war das, was er Zosia gegenüber fühlte, doch wohl zumindest etwas in »dieser Art«? Ginge er denn sonst jetzt, sie, die einzige Geliebte, mit einer ihm im Grunde nicht sympathischen, hyperintellektuellen rothaarigen Semitin zu betrügen, wenn dieses Gefühl nicht etwas wäre, was seine normale Skala tatsächlicher, schon so häufig gemachter Erlebnisse überragte? Die Widersprüchlichkeit dieser Zustände und der Unglaube in die Erreichbarkeit des Glücks drückten ihn vollends nieder. Mit dem Gang eines morschen Greises schleppte er sich dahin, und an den Schläfen und unter den Augen brach ihm der kalte Schweiß des Entsetzens aus.

Der gezackte, gebirgig-fantastische Umriss der Häuser, die in der fernen Perspektive der Straße verschwanden, erinnerte ihn an einen herbstlichen Gebirgsabend, der dort ohne ihn währte. Was gingen ihn die Blicke anderer fressen, Gesichter und Masken auf diese für ihn einzigen »Komplexe der Elemente« an, wie Tempe, der Psychologe, sagte. Er fühlte die Gleichzeitigkeit ferner Erscheinungen unmittelbar gegeben, als sei sie berührbar. »Warum halten Physiker die Definition der Gleichzeitigkeit für schwierig?« dachte er. »Wäre ich genügend groß, dann würde ich gleichzeitig diese Zackenlinie der Häuser und den Felsen im Tal der Trümmer sehen, ebenso, wie ich gleichzeitig zwei Spiegelungen der Sonne in den Fenstern sehe. Die Definition der Gleichzeitigkeit impliziert die Annahme des Existenzbegriffs des einzelnen: im Bereich des physischen Begriffs selbst ist sie unmöglich.« Mit der letzten Welle strahlender Wärme blitzte ihm die orangefarbene Sonne in die Augen, mitten ins Gesicht. Blaugraue Dämmerung senkte sich herab, und gleichzeitig betrat Atanazy das Palais der Bertz’. Die riesige Treppe aus rotem Marmor und die Wände des Treppenhauses, verkleidet mit bronzenen, vergoldeten Platten mit komplizierten orientalischen Mustern, und dieser warme Geruch nach höchstem Wohlstand, nach Frische und Sauberkeit, guter Haut und gutem Parfum und nach noch etwas völlig Unfassbarem, das alles wirkte aufreizend auf ihn. Die Macht dieser im Augenblick unsichtbaren Frau, zentriert in diesem Reichtum, der ihr jederzeit erlaubte, irgendeine wilde, fantastische Tat zu begehen; die Freiheit, die ihr der durch eine Selbstmorddrohung terrorisierte Vater beließ; die Selbstmordmanie, die sie trotz vieler Geschmacklosigkeiten erhaben und unerreichbar erscheinen ließ – all das zusammen erregte ihn in diesem Moment in einer ekelhaften und demütigenden Weise. Ein Lakai in roter Livree trat ihm in den Weg, ein trübseliger, schöner, ordinärer Bursche. »Bestimmt liebt er sie auch, und vielleicht …« Zartfühlend schob er ihn beiseite, ging durch drei fast leere, düstere, dunkelrote kleine Salons, trat ohne anzuklopfen in das kleine »jungfräuliche« (eher »halbjungfräuliche«, dachte er) Zimmer Helas, das an das prächtige Schlafzimmer grenzte. Er beschloss, brutal zu sein. Die roten Farben der Möbel, der Wandbespannungen und der Teppiche wirkten auf ihn wie auf einen Stier.

Trotz des Halbdämmers gewahrte er gerade noch »Kuba« (den Prinzen Prepudrech) und Hela, wie sie sich in einem wahnsinnigen Kuss voneinander losrissen. Prepudrech sprang auf, Hela platzte mit einem weibchenartigen Lachen heraus, das aus den niedrigeren Teilen ihres angeblich wundervoll gewölbten Unterleibs zu kommen schien. (Davon hatte Prepudrech selbst einst Atanazy in einem Anfall einer bei ihm ungewöhnlichen Aufrichtigkeit berichtet.)

Der Prinz – Jakob Cefardi Azalin – war ein Jüngling Mitte zwanzig, unerhört schick und schön. Unter Damen und Backfischen der üppigen Plutokratie galt er als Gipfel der Distinktion. Die echte Aristokratie empfing ihn überhaupt nicht, da sie seinen persischen Titel für verdächtig hielt – wohl konnten dort deklarierte Parias verkehren, nicht aber irgend so ein unklarer Prepudrech.

Atanazy grüßte kalt, flüchtig. Die Banalität der Situation wurde ihm geradezu unerträglich. Eine Radierung von Klinger tauchte in seiner Erinnerung auf, Die Rivalen: zwei verbissen mit Messern aufeinander einstechende Kerle, und »sie«, die mit einem Fächerehen in der Hand aufmerksam beobachtete, welcher von beiden siegen würde, um sich ihm dann hinzugeben, sofort, noch heiß, vom Blut des anderen triefend. Auf diesem Hintergrund wuchsen Größe und Reinheit seines Gefühls für Zosia ins Riesenhafte, in ganz unmögliche Ausmaße. Eine rasende Wut auf sich selbst würgte ihn an der Gurgel und auf alles, was unwiderruflich geschehen sollte und musste. Der Rückzug war absolut unmöglich: weiter vorwärts zu stürzen verlangte der auf den Kopf gestellte Ehrgeiz – die Lust, scheinbar schwierige Entschlüsse auszuführen. Im Grunde waren diese Entschlüsse nur an der Oberfläche schwierig: es war eher der Widerwille, eine dünne Schicht edlerer Materialien zu durchbrechen, darunter sich ein Sumpf breitmachte, der zu leichtem, angenehmem Hineinwaten lud, ein Sumpf von pseudo-interessanten Komplikationen und sogenannter »psychischer Perversion«.

»Herr Prepudrech«, sagte Atanazy mit erzwungener Unhöflichkeit, »ich beabsichtige, mit Fräulein Hela ein sehr wichtiges Gespräch zu führen. Könnten Sie Ihre Visite nicht abkürzen? Zusammen werden die Herrschaften nicht fahren, davon kann keine Rede sein«, endete er mit ungewöhnlicher Kraft und Entschlossenheit. In den Augen von Hela Bertz blitzte eine Böses verheißende Flamme auf, und unruhig blähten sich ihre Nasenflügel. Es schien zu einem wenn auch nur leichten Kampf zwischen Männern zu kommen, und was sich hinter seinem Ausgang verbarg, war ungewiss. Eine kleine nachmittägliche Überraschung.

»Nun werden wir erst recht fahren. Dieses Gespräch können wir irgendwann führen, meinetwegen heute nach dem Abendessen. Sie fahren mit uns, dann werden wir Kuba unter irgendeinem Vorwand los und haben dann noch die ganze Nacht vor uns«, lispelte Hela in einem gleichgültigen Ton, als ginge es um die gewöhnlichsten Dinge.

Der bisher heitere Prinz wurde plötzlich steif und düster. Unversehens geschlagen, versank er unvermittelt in einen schmutzigen Abgrund sexueller Qualen. Dieser Abend hatte sein Eigentum werden sollen. Er war in Hela schon seit einigen Monaten verliebt und war wütend, dass er sie nicht dazu bringen konnte, ihn ernst zu nehmen. Sie küsste sich mit ihm bis zur Besinnungslosigkeit in von anderen Vergnügungen gerade freien Augenblicken und zahlte ihm dann ihren Sturz mit völliger Gleichgültigkeit heim. Gedemütigt, eifersüchtig und immer giftiger schnellte er zu ihr zurück, als hinge er an einem Gummifaden. Er konnte nicht einmal andere Weiber als Antidoton benutzen – er hatte einen unüberwindlichen Ekel vor ihnen.

»Nein, Fräulein Hela. Heute abend bin ich besetzt: ich muss mich mit Ihnen sofort aussprechen.« Atanazy stammelte jetzt fast.

Über Fräulein Bertz’ Gesicht huschte ein grauer Schatten, und in der Dämmerung blitzten ihre blauen Augen in einem klaren, kalten Glanz des Erstaunens auf.

»Das ist etwas ganz Neues! So lange haben wir uns nicht gesehen, und Sie haben den Abend besetzt. Womit denn? Vielleicht wieder Łohoyski …?«

»Łohoyski hat damit nichts zu tun. Ich werde es Ihnen später erklären.«

»Später, später! Ich mag solche Bedingungen und Vorwände nicht: diese ganzen Pseudokomplikationen, in denen Sie lustvoll herumwühlen. Sie sind im Grunde ein Kind. Aber trotzdem mag ich Sie.«

Prepudrech, der sich wieder ein wenig gefasst hatte, kicherte in unaufrichtigem Triumph.

»Also fahren wir«, sagte er und näherte sich Hela mit dem schleifenden Gleitschritt eines notorischen Dancing-Bubis. Im Vorbeigehen stieß er Atanazy an, der, gespannt wie eine Sehne, mit zusammengepressten Fäusten dastand, einem lächerlichen Tier ähnlich, das sich zum Sprung anschickt. Das war zu viel.

»Herr Prepudrech«, sagte Atanazy mit vibrierender Stimme, hinter der heimliche Begierde lauerte, »wenn Sie nicht auf der Stelle das Zimmer verlassen, bürge ich nicht für das weitere Geschehen.«

Prepudrech wandte sich um. Er war blass, und auf seiner Stirn wurden zwischen den Falten der Niedertracht Schweißtröpfchen sichtbar.

»Ich bin über Ihre Frechheit erstaunt«, setzte er zu einer längeren Rede an. Er beendete sie nicht. Atanazy packte ihn an den Schultern, drehte ihn rasch um und führte ihn nach der Methode »tit-for-tat« zur Tür. Im Spiegel erblickte er sein Gesicht voller Ratlosigkeit und Erstaunen, und plötzlich tat Kuba ihm leid. Doch es ging alles automatisch weiter: er ließ den rechten Arm des Prinzen los, machte die Tür auf und stieß ihn mit der Linken in den kleinen Salon nebenan. Dann drehte er den Schlüssel um und trat mit dem Schritt eines wilden Tiers zu Hela. Sie atmete schwer und blickte ihn mit weiten Augen an. Sie kamen ihm bodenlos vor. Er schwankte vor schrecklicher, blinder Begierde, die ihn an der Kehle packte wie ein scheußlicher Polyp. Jetzt begriff er, warum er Zosia liebte und nicht diese … Aber er begriff es nur in einem abgesonderten, wie nicht zu ihm gehörenden »everything-tight«-Kompartiment seines Wesens. Eine einzige Begierde nur füllte ihn bis zum Rand. Im ganzen Körper empfand er dieses sonderbare Gemisch von sich lockernder Schwäche und sich spannender Kraft: die Ankündigung wilder, unheimlicher Wollust, die er schon so lange nicht mehr genossen hatte. Etwas in ihm flüsterte den Namen »Zosia«, doch dieses Wort war tot, ohne Bedeutung. »Eben darum, programmatische Schweinerei«, dachte er.

»Dieses Vieh lauscht … Warten Sie«, flüsterte Hela mit krächzender, zitternder Stimme, in der die Erwartung von etwas Brutalem, Zermalmendem lag. Sie war gleichsam platt gedrückt von dieser Erwartung, weich und kraftlos. Obwohl der Gedanke an seine Verlobte Atanazys Bewusstsein nur eben gestreift hatte, war seine ganze Begierde momentan spurlos verschwunden. Entgegengesetzte Elemente erhoben sich wie zwei Zahlen mit umgekehrten Vorzeichen: das Resultat war gleich null. »Wozu lebe ich?« dachte er in maßloser Ermüdung.

Schnell versank das Zimmer in grauvioletter Dämmerung. Der gegenwärtige Moment, unveränderlich, zog sich endlos dahin. Es schien Atanazy, als stünde er jahrhundertelang so da. Ohnmacht und Spannkraft wichen langsam aus den Muskeln, sammelten sich im Herzen und verdichteten sich dort zu einem Knäuel dumpfen Schmerzes. »Leiden des Daseins an sich selbst«, schossen sinnlose Worte vorbei. Viel hätte er darum gegeben, in diesem Moment allein auf dem Sofa seines Zimmers zu liegen. Mit Sehnsucht dachte er an »jenes« Halbdunkel, an »jene« Fliegen rings um die Lampe und an »jene« Gedanken, die ihn nur dort bei ihm in der Dämmerstunde heimsuchten. In solchen Augenblicken hatte das gegenwärtige Leben, wenn auch gleichsam fern und sich selbst fremd, den geheimnisvollen Glanz, den für ihn normalerweise nur manche sehr gute Phasen der Vergangenheit besaßen. »Einschlafen und vergessen – oder nein: sich von dieser Stadt befreien und irgendwo abseits auch nur ein Stückchen eines solchen Lebens schaffen wie diese besten, unwiederbringlich vergangenen Tage, wie diese Visionen von der Gegenwart, frei von Zufall und Langeweile, schön wie Kunstwerke in ihrer endgültigen Harmonie und zugleich flüchtig in Beliebigkeit und Fantasie wie vom Winde über Wiesen getriebene Blütendaunen.« Doch ein unerbittlicher Blick von der Seite enthüllte die lächerliche Form dieses Gedankens, und seine Worte zeigten ihm sein eigenes Bild, mit heruntergelassenen Hosen an irgendeinem sandigen Feldweg hockend. Bitter lachte er auf. Die Unerreichbarkeit, die Feme von allem quälte ihn immer schrecklicher.

»Was sind Sie plötzlich so verdattert, Herr Tazio?« ertönte in völliger Leere Helas Stimme, wie der erste Abschuss einer elfzölligen Haubitze in sommerlichem, stillem Morgengrauen.

»Sind Sie verpupst oder was?« wiederholte sie sanfter. Atanazy erwachte wie aus einem Traum. Mit rasender, maßloser Schnelligkeit wehte ihn ein Sturmwind aus unbekannten Ländern an und stellte ihn hierher, in das Zimmer dieser vom Reichtum gelangweilten kleinen Jüdin.

»Ich kann Proust nicht lesen«, sagte er plötzlich und nahm neben ihr auf dem Sofa Platz. In einem fernen Zimmer schlug eine Tür zu.

»Azalin macht sich endlich aus dem Staub«, sagte Hela und schaltete ungeduldig die Lampe ein. Ein blasses, milchig-orangefarbenes Licht überschwemmte das mit übertriebener, unangenehmer Schlichtheit eingerichtete Zimmer.

»Muss ich denn«, sprach Atanazy weiter wie ein Automat, »um alle zwanzig Seiten irgendeinen Aphorismus zu lesen oder sonst so ein Sprüchlein vom Leben, das ich im Notfall auch selbst zusammenkombinieren könnte, muss ich darum mit einer ganzen Bande von snobistischen Dummköpfen herumstehen und übermäßig detaillierte Beschreibungen ihrer uninteressanten Zustände und Gedanken anhören, in einer ebenso uninteressanten Form dargebracht? Diese halbe Seiten langen Sätze, dieses Walken und Differenzieren von Gewöhnlichkeit und Dummheit bis zum Übelwerden. Zugegeben, die Aristokratie ist früher einmal etwas gewesen; aber heute unterscheidet sie sich außer in gewissen, rein physischen Eigenschaften nicht grundsätzlich von irgendeiner anderen Kaste. Und vielleicht kann man hier mehr eingebildete Einfaltspinsel finden als woanders – ihnen hilft die Tradition, aber die Voraussetzungen sind die gleichen wie bei allen andern. Der Prozentsatz an außerordentlichen Menschen ist jetzt gleichmäßiger verteilt. Dieser ganze Proust ist gut für Snobs, die es nicht schaffen, sich in herrschaftliche Salons hineinzuquetschen, und vor allem für Menschen, die einen Überfluss an Zeit haben. Ich habe keine Zeit.«

»Da komme ich nicht mit«, flüsterte Hela mit zusammengebissenen Zähnen. »Haben Sie Kuba deswegen hinausgeworfen, um mir eben das zu sagen? Sie sind selbst ein unbewusster Snob …«

»Alle sind verrückt geworden mit diesem verfluchten Proust. Mich irritiert das im höchsten Maße. Ich habe Ihnen die Bücher zurückgebracht. Ich habe sie unten vergessen. Und das sonderbarste ist, dass immerhin intelligente Menschen und nicht ohne Geschmack … Oder dieser Valery! Obgleich wir, was Proust betrifft, zufällig übereinstimmen. Ich bestreite nicht, dass Valery ein intelligenter und gebildeter Mensch ist – besonders beschlagen ist er in der Physik-, aber ich sehe in ihm nicht – außer in seiner Poesie, die tatsächlich ungewöhnlich ist und sehr intellektuell – etwas so besonders Außergewöhnliches. Seine private Methode des Schaffens, bei hervorragender Mitwirkung des Intellekts, will er zu dem Maß absoluter Wahrheit aufblähen, unter Missachtung der künstlerischen Intuition und anderer, eher visionärer, apokalyptischer Schöpfer. Alles hängt von den Proportionen dieser Voraussetzungen ab: vom Empfinden einer Einheit der primären Konstruktion, vom Reichtum der Welt der Vorstellungen und Gedanken, von Intellekt und Talent – das heißt von rein sinnlichen Fähigkeiten. Und dabei finde ich jene unerträglich, die erst nach dem Kriege überzeugt waren, dass es mit der Menschheit und der Kultur überhaupt schlecht steht. Ich habe das schon früher gewusst. Die Demokratisierung …«

»Megaloman! Genug!!! Ich kann dieses Gerede nicht länger ertragen. Würden Sie endlich sagen, was Sie wollen? Warum sind Sie gerade heute gekommen? Der heutige Tag ist für mich ein grundsätzlicher. Und überhaupt, was geht mich das alles an? Kuba wird Ihnen bestimmt Zeugen schicken. Die Sache mit Ihnen gibt ihm Gelegenheit, die Geschichte mit Chwazdrygiel zu vertuschen, die, wenn sie auch ehrenhaft endete, aus der Vergangenheit doch einen gewissen Schatten auf ihn wirft. Er wird Zeugen schicken, um mir zu imponieren …«

»Jetzt sage ich: genug – oder ich fange wieder an, von Proust zu sprechen.«

»Also was ist eigentlich los? Ich bin sehr enerviert. Sie haben mir meinen Entschluss verdorben. Ich fühle, dass Sie mir etwas Wichtiges verheimlichen. Wir sind doch Freunde?«

»Eben das ist das Schlimmste, dass wir es nicht sind. Doch der ganze Zauber der Situation beruht nur darauf.«

»Bitte ohne Posen, Herr Atanazy: hier kenne ich mich aus.«

»Das ist keine Pose. Ich bin verlobt.«

»Sie sind wohl verrückt geworden«, sagte Hela nach einer längeren Pause. »Und aus welchen Gründen?« fragte sie nach einer Weile, und in ihrer Stimme zitterte ein vorhin überspieltes Bedauern.

»Ich liebe«, erwiderte Atanazy hart und neigte sich über ihr außergewöhnlich schmales und dennoch nicht spitzes Knie, das unter ihrem zu kurzen Kleid hervorsah. »Ich hasse dieses Wort, aber so ist es.«

»Er liebt, der Arme! Wann haben Sie es denn fertiggebracht, diese wahnsinnige Dummheit zu begehen?«

»Vor zehn Tagen. Aber es hing schon seit einem halben Jahr über mir.«

»Und mir nichts davon zu sagen! Wer ist sie?«

»Zosia Osłabędzka.«

»Das heißt, dass Sie wenigstens Ihr Schäfchen ins trockene bringen.«

»Ich schwöre Ihnen …«

»Ich weiß: Uneigennützigkeit. Aber hüten Sie sich. Sie sind achtundzwanzig und ein Nichts, ein ziemlich interessantes Nichts: der Querschnitt eines bestimmten typischen Zustands einer bestimmten Schicht der Gesellschaft.«

»Sie wollen mich auf eine billige Art besiegen …«

»Ich denke nicht daran. Aber infolge des in unserer Zeit überall zunehmenden Lebensfiebers und insbesondere nach dem Kriege wurde das Alter des Wahnsinns für Männer, es sollte eigentlich die heute Vierzigjährigen treffen, um einige Jahre vorverlegt. Es ist ein Wahnsinn, sich mit Ihrer inneren Struktur, der eines nicht vollendeten Künstlers, jetzt in eine Ehe zu zwängen. Und dazu dieser Rest von Gewissensbissen, vielmehr des Gewissenbisschens, das Sie noch haben. Sie werden bestimmt verrückt werden.«

»Und selbst wenn ich mir das Genick bräche – wen ginge das etwas an! Ich bin allein. Ja, Sie haben recht: ich bin ein Nichts, und eben darum kann ich mir ein Experiment erlauben, das sich ein anderer nicht leisten könnte. Und trotz allem habe ich Angst: Angst vor mir selbst. Bisher wusste ich nicht, wer ich bin. Ein wenig hat sich offenbart, aber ich weiß noch nicht alles. Ach, nicht darum geht es – sondern vielmehr um etwas, was damit verbunden ist: um den metaphysischen Sinn des Lebens ohne Religion.«

»Lassen Sie diese Geheimnistuerei. Ich mag keine künstlichen Komplikationen. Sie haben kein Recht, über Religion zu sprechen. Ich fange an zu bedauern, Sie nicht bis zu dem Grad ermutigt zu haben, dass Sie sich mir erklärt hätten.«

»Ich wusste, dass es so kommen würde. Was aber die Ermutigung betrifft, so glaube ich, genügend –«

»Sie sind dumm: ich habe Sie zu Küssen ermutigt, nicht aber zu einer Erklärung. Sie wissen wohl immer noch nicht, wer ich bin …«

»Ich weiß es. Ich weiß auch, wer Ihr Vater ist. Ich habe von allen Ihren Bewerbern gehört, von einheimischen und ausländischen: Graf de la Tréfouille, Fürst Zawratynski …«

»Wechseln wir nicht das Thema. Was weiter?«

»Also, die relative Wohlhabenheit meiner Verlobten ist eher ein Hindernis für diese Ehe. Doch habe ich angesichts der Wahrhaftigkeit meiner Gefühle dieses Problem überwunden. Für eine Geldehe bin ich zu ehrgeizig. Zudem wüsste ich nicht einmal, wie das Geld zu nutzen wäre.«

»Noch nicht. Ich würde Sie aller Ambitionen entwöhnen. Sie selbst würden mich für Geld mit Liebhabern verkuppeln.«

»Genug! Das ist abscheulich.«

»Ach, welche Unschuld! Ein bescheidener Verlobter kann solche Abwegigkeiten nicht hören. Sie sind in dieser Verlobung völlig verdummt. Nun, nehmen Sie’s nicht übel und reden Sie weiter.« Atanazy überwand seinen Abscheu und tauchte tiefer in die erzwungene Situation.

»Also, ich liebe zu sehr: darin liegt meine Tragödie.« Hela wandte sich ihm mit ihrem ganzen Körper zu:

»Und sie?«

»Nichts; sie liebt mich so, wie Mädchen dieses Alters gewöhnlich ihren Verlobten lieben. Aber nicht darum geht es. Ich halte es nicht mehr aus.«

»Und wann ist die Hochzeit?«

»Ach, Sie sind zynisch. Ich halte es nicht aus, in diesem Maße zu lieben – es geht nicht um irgendeine dumme Begierde. Sie gefallen mir tausend, unendlich viele Male besser als sie.«

»Warum also nicht mich …?« sagte sie beinah unter Tränen: Atanazy gewann für sie langsam den Zauber von etwas Verlorenem.

»Sie haben es selbst gesagt: ich war noch nicht genügend ermutigt. Und übrigens liebe ich Sie nicht und könnte Sie nicht lieben. Mich schreckt Ihre Rasse, und zugleich zieht sie mich mit schrecklicher Gewalt an …«

»Ach, was für ein Esel: so eine Gelegenheit zu versäumen!« sagte Hela vollkommen ehrlich. »Dieser Bettler, der wegen eines geringen Unterhalts zu einem sogenannten tugendsamen Fräulein aus gutem Hause geht, wagt es, mir von Rasse zu sprechen! Ich verbiete Ihnen zu heiraten – verstehen Sie?! Ich hasse Ihre …« Atanazy bedeckte ihr Gesicht mit der Rechten und bog sie zugleich mit der Linken nach hinten, indem er ihre Schulter von hinten packte. Brutal presste er etwas Unsichtbares an sich, fast ohne ein menschliches Gefühl in sich zu spüren. »So müssen in solchen Momenten Tiere sein«, dachte er im Bruchteil einer Sekunde. Seine plötzliche Wut verwandelte sich wieder in eine unerträgliche, weitschweifige Gier; die Gier auf eine unbekannte Gattung. »Und ist nicht dennoch eben dieses das Allerwesentlichste?« Er ließ ihr Gesicht los und verbiss sich in ihre fleischigen, noch kühlen Lippen, gierig, besinnungslos und doch mit dem ganzen Bewusstsein bestialischer Lust. Sie befreite sich mit einem Fausthieb von unten gegen sein Brustbein.

»Sind Sie bereits verrückt? Darum also verloben Sie sich mit einer anderen, um mich dann abküssen zu kommen? Das ist schon nicht mehr pervers – das ist eine gewöhnliche, ordinäre Schweinerei.« Atanazy bekam eine ganze Weile lang keine Luft.

»Nein – Sie verstehen mich nicht. Trotz allem können Sie allein mich retten. Hätten Sie anders gehandelt, vielleicht hätte ich eben Sie …« sagte er schwer atmend.

»Niemals würde ich Ihre Frau sein, Sie sind nicht aus guter Familie, Sie haben keine Manieren. Sie sind ein armer Schlucker. Um Sie herrscht diese Atmosphäre der Armut, die sich nichts leisten kann. Sie könnten höchstens einer meiner Geliebten werden und notwendigerweise nur gleichzeitig mit einem Ihrer Freunde.«

»Das werden Sie mir alles später erzählen. Jetzt hören Sie zu:

ich liebe Zosia derart, dass ich nicht weiß, was mit mir geschieht, wenn das länger dauert. Das ist diese höllische große Liebe, die in Tausenden von Jahren nur einmal auf einem Planeten vorkommt.«

»Nie wieder will ich das von Ihnen hören …«

»Sie gefallen mir wie noch niemand vorher, und ich weiß, dass niemand mir jemals wieder so gefallen wird: gerade so, wie Sie sind: eine reiche, ordinäre, gemeine Jüdin. Sie sind die Verkörperung der Geheimnisse des Ostens auf Blond mit Blau, Sie sind das einzige Wesen, mit dem ich einen Sohn haben möchte – der würde nicht degeneriert sein.«

»Ach, warum sind Sie kein französischer Graf! Meine ausländischen Bewerber sind mir ziemlich mißlssngen. Außer Ihnen gefallt mir nur Kuba wirklich, aber den verachte ich ein wenig.«

»Sie müssen die meine werden, wenn ich auch keinen Titel habe. Wenn ich Zosia mit einer anderen betröge, so würde das alles nur potenzieren. Sie allein mit Ihrer teuflischen, hethitischen, bis zur endgültigen Vollendung gebrachten Schönheit können ein Antidoton für mich sein.«

»Ich bin Jungfrau, Herr Atanazy«, sagte Hela plötzlich in ganz anderem Ton. Es war etwas Fernes darin, als hätte eine Woge aus uralten Zeiten sich hier in diesem Zimmer gebrochen, als schwacher Widerhall eines Sturms, der einst in der Feme gewütet hatte.

»Wissen Sie, dass ich darüber nie nachgedacht habe? Ihr Geld stellt Sie über dieses Problem.«

»Also nur mit mir wäre es Untreue? Mit einer anderen nicht, bestimmt nicht? Ich verstehe Sie gut. Glauben Sie nicht, dass ich ein so brutales Vieh bin, wie ich tue – ich muss posieren, denn sonst …«

»Also sind Sie einverstanden?« fragte Atanazy gedankenlos und die ganze Lust, Hela zu vergewaltigen, zerstob wie ein kleiner Morgennebel. Wieder verspürte er ein Verlangen nach Einsamkeit. Plötzlich blitzte ein böser Gedanke in ihm auf:

»Sie, Zosia, zwingt mich dazu. Ich hasse sie, weil sie mich zwingt, sie so zu lieben.« In diesem Augenblick hätte er sie mit Vergnügen blutig gepeitscht. »Ein engelhaftes kleines Biest, ein reiner kleiner Geist. 0 Gott! – weswegen liebe ich dieses Stück blutarmen Fleisches mit grünen Augen so?« Fast stöhnte er, und im selben Augenblick sah er unmittelbar vor sich Helas blaue, schräge Augen und ihren blutigen, plötzlich geschwollenen, breiten Mund. Er spürte Schwindel im Kopf, und eine wilde Begierde, schrecklicher als alles, was er jemals empfunden hatte, einschließlich der Eindrücke im Trommelfeuer der schweren Artillerie, riss an seinem ganzen Wesen (die weichen, arischen, blutigen Gedärme bäumten sich auf wie eine getürmte Woge über dem Abgrund eines schwarz-roten, jüdischen, würgenden, bösartigen Etwas – das er nicht kannte). Die Situation war wahrhaft unheilschwanger. »Verhängnisvoll – Friedrich Nietzsche – Jenseits von Gut und Böse – Schicksal Sasza Schneider – männlicher, beelzebubischer Dämonismus, bärtig, überhaupt behaart – nur das ist etwas wert – unmittelbares Erleben.« Die Reihe dieser Assoziationen unterbrach ihr ihm längst bekannter, von jener »Sauferei« her bekannter Kuss.

»Willst du wirklich, oder darf ich dich nur küssen?« stammelte er, diesen Gedanken zum Trotz.

»Tu, was du willst! Frage nicht! Kanaille! Idiot! Impotenter …!« hagelte es Schimpfworte auf ihn. Ganz offensichtlich wollte Hela sich bis zur höchsten Spannung des Wahnsinns erregen. Er packte sie an den kraftlosen, gleichsam gestaltlosen Armen, drückte sie in viehischer Raserei mit voller Kraft an sich, saugte sich mit einem vor Lust bewusstlosen Kuss in ihre Lippen. Und schon nach einem Augenblick begannen die so gut bekannten und dennoch stets vom neuen Objekt abhängigen, ewig neuen, bekannten erotischen Freuden. »Wäre es nicht ein wahres Glück, immerfort in diesem Zustand viehischer Bewusstlosigkeit zu verharren: ein Stier zu sein, eine Schlange, ja ein Insekt, oder auch eine sich teilende Amöbe, aber nicht zu denken, sich keine Rechenschaft zu geben …« konnte Atanazy gerade noch denken und gleich darauf: »Und jede Bestie ist anders«, flüsterte in ihm eine Stimme die Worte des Kazio Norski, aus den Emanzipierten von Prus. »Überangepriesenes Vergnügen«, fiel ihm ein Ausdruck Chwazdrygiels ein, des Biologen aus der Schule Loebs. »Nein – nicht überangepriesen, aber ein allzu langes Zusammenleben mit einer Frau zieht ein Übergewicht onanistischer Elemente der Erotik nach sich, zuungunsten wirklicher, zwei-persönlicher Geschlechtlichkeit: Dieses gemeinsame Herumsuhlen in sublimierter Schweinerei, dieser Zauber zwiefacher Unanständigkeit – all das verliert sich allmählich in der gegenseitigen Gewöhnung. Ein trotz der Gegenwart der anderen Seite einsames Sich-Dopen als Ersatz für eine wirkliche Erregung erinnert ausgesprochenermaßen an onanistische Erlebnisse, so gut aus der Kindheit bekannt, leider auch noch aus späteren Zeiten.«