Witkiewicz, Stanislaw Ignacy Unersättlichkeit

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Übersetzung aus dem Polnischen von Walter Tiel

 

© für diese Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2018
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Pożegnanie jesieni« bei F. Hoesick in Warschau, 1927
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München 1987
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: FinePic, München

 

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ERSTER TEIL

ERWACHEN

Erwachen

Genezyp Kapen ertrug keine Unfreiheit, in keinerlei Form – seit frühester Kindheit bezeigte er ihr gegenüber einen unüberwindlichen Widerwillen. (Er ertrug wie durch ein unbegreifliches Wunder die achtjährige Dressur des despotischen Vaters, doch war dies etwas gleich dem Aufziehen einer Feder – er wusste, einmal würde sie sich auseinanderdrehen müssen, und das gab ihm Halt.) Als er kaum vier Jahre alt war (schon damals!), flehte er die Mutter und die Gouvernanten bei sommerlichen Spaziergängen an, man möge ihm erlauben, irgendeinen Köter, der sich bedrohlich an einer Kette hin- und herwarf, oder ein melancholisches Hündchen, das auf der Schwelle der Hütte vor sich hin winselte, wenigstens zu streicheln – nur zu·streicheln und ihm etwas zu fressen zu geben, wenn schon nicht davon die Rede sein konnte, ihn von der Kette in die Freiheit zu lassen.

Anfangs erlaubte man ihm, von zu Hause Fressen für diese seine unglücklichen Freunde mitzunehmen. Doch bald überschritt die Manie die selbst in seinen Verhältnissen erfüllbaren Ausmaße. Man verbot ihm dieses Vergnügen, das einzige, wirkliche. Dies geschah daheim auf dem Lande, im vorbeskidischen, zur Tatra gehörenden Ludzimierz. Einmal aber, gelegentlich eines Aufenthalts in der Kreishauptstadt K., führte ihn der Vater zur Menagerie. Nach fruchtlosen Bitten um die Freilassung irgendwelcher Harnadria-Affen aus den Käfigen, der ersten wilden Tiere, die er dort sah, warf er sich auf den Wärter und schlug ihm lange mit seinen kleinen Fäusten auf den Bauch, sich dabei an der Schnalle von dessen Hosengurt verletzend. Für alle Zeiten blieb Zypcio (so wurde er zu Hause genannt) das Blau dieses Augusttages in Erinnerung, ein kaltes und ein so grausam gleichgültiges gegenüber den Leiden armer Tiere. Und diese köstliche Sonne, während ihnen (und ihm) so schlecht zumute war … Doch war darin, ganz auf dem Grunde, irgendeine abscheuliche Wonne … Es endete mit krampfartigem Weinen und einer schweren Nervenkrise. Drei Tage und Nächte hindurch schlief damals Genezyp fast gar nicht. Ungeheuerliche Albträume quälten ihn. Er sah sich als grauen Affen, der sich am Käfig scheuert und nicht zu einem anderen ähnlichen Affen gelangen kann. Dieser andere hatte etwas Sonderbares: Es war rot mit Blau und über die Maßen entsetzlich. Er entsann sich nicht, ob er dies wirklich gesehen hatte. Das lneinanderfließen von in der Brust würgendem Schmerz mit dem Vorgefühl einer verbotenen, ekelhaften Lust … Dieser andere Affe war ebenfalls er selber, und zugleich blickte er sich von der Seite her an. Auf welche Weise dies geschah, wurde ihm nie klar. Und dann riesige Elefanten, träge, große Katzen, Schlangen und traurige Kondore – sie alle wurden er selber, und zugleich waren sie gar nicht er. (In Wirklichkeit hatte er diese Geschöpfe nur flüchtig gesehen, als man ihn durch einen anderen Ausgang hinausführte und er sich hin- und herwarf in trockenem Schluchzen.) In einer seltsamen Welt verbotener Qualen, schmerzlicher Scham, ekelhafter Süße und geheimnisvoller Erregung verbrachte er diese drei Tage, dabei klar und deutlich in seinem eigenen Bettchen liegend. Als er nach all diesem wieder zu sich kam, war er schwach wie ein Läppchen, dafür hatte er aber eine gründliche Verachtung gegen sich selber und gegen Schwäche überhaupt gewonnen. Irgendetwas hatte sich in ihm erhoben – es war der erste Keim eines bewussten Wirkens von Kräften. Ein verschwenderischer Onkel väterlicherseits, das schwarze Schaf der Familie, ein Bewohner von Ludzimierz, sagte: »Menschen, die zu Tieren gut sind, pflegen Ungeheuer gegen ihre Nächsten zu sein. Zypcio muss man streng erziehen, sonst wird aus ihm ein Monstrum.« So erzog ihn denn auch später der Vater, übrigens ganz und gar nicht an die guten Resultate dieser Methode glaubend – er tat dies, insbesondere anfangs, einzig zu seiner eigenen Befriedigung. »Ich kannte zwei Fräulein aus sogenanntem ›gutem Hause‹, in einem Kloster erzogen«, pflegte er zu sagen, »das eine war eine Hure und das andere eine Nonne. Und der Vater beider war sicherlich derselbe Mann.«

Als Genezyp sieben Jahre wurde, beruhigten sich diese Neigungen scheinbar vollkommen. Alles trat in die Tiefe zurück. Er wurde in dieser Zeit düster und gab sich unter anderem einem Vergnügen hin, das sich von allen anderen unterschied. Er ging jetzt öfter spazieren, allein oder mit seinem Cousin Toldzio, der ihn in eine neue Welt autoerotischer Perversitäten einführte. Fürchterlich waren diese Momente, wenn erregende Musik in dem nahen Park spielte und die in Sträuchern versteckten Knaben sich gegenseitig erhitzten, indem sie spitzfindige Scheußlichkeiten sagten und allerlei Rüchlein prüften, bis sie schließlich, wie von Sinnen, mit brennenden Backen und mit vor unaussprechlicher Begierde verdrehten Augen, aneinandergeschmiegt, in ihren gesunden, armen Körperchen den höllischen Schauer unbekannter, geheimnisvoller, unerreichbarer Wollust hervorriefen. Sie versuchten noch öfter, sie zu vertiefen – doch es gelang nicht. Und wieder versuchten sie es – immer öfter. Dann kamen sie aus den Sträuchern, blass, mit roten Ohren und Augen, schlüpften davon wie Diebe, voller seltsamer Malaise, beinahe Schmerz, dort irgendwo … Einen eigentümlich unangenehmen Eindruck machten ihnen fröhlich spielende Mädchen. Es war darin Traurigkeit und Schrecken und auch Leid über etwas Unbekanntes, Hoffnungsloses, Entsetzliches und dennoch Angenehmes. Eine unflätige Erhabenheit über alles erfüllte sie mit abscheulichem Stolz. Mit Verachtung und verborgener Scham schauten sie auf andere Jungen, und der Anblick schöner junger Männer, die mit erwachsenen Damen flirteten, erfüllte sie mit Hass, gemischt mit düsterer, demütigender Eifersucht, in der sich jedoch ein unheimlicher Zauber des Sich-Emporwindens über das normale Alltagsleben verbarg. An alldem war Toldzio schuld. Er war eben dieser allernächste, allerwirklichste Freund, der als erster das seltsame Geheimnis unheilvoller Lust besaß und geruhte, sie. Zypcio zu lehren. Warum aber mochte ihn Zypcio nachher so ganz und gar nicht? Das dauerte zwei Jahre lang mit Unterbrechungen. Doch gegen Ende des zweiten Jahres begann die Freundschaft zu verderben. Vielleicht eben darum. In dieser Zeit, in Verbindung mit den geheimnisvollen Lüsten, traten neue Symptome auf … Zypdo erschrak. Vielleicht war es eine schreckliche Krankheit? Vielleicht Strafe für Sünde?

In jener Zeit begann die Mutter, gegen den Willen des Vaters, ihm Religionsunterricht zu geben. Davon war jedoch dort nicht die Rede als von einer Sünde. Und dennoch empfand Zypcio stets, dass er, sich den Praktiken Toldzios hingebend, etwas kindlich ›Ungentlemanhaftes‹, etwas Böses begehe. Aber dies Böse bewegte sich in völlig anderen Dimensionen als das Nichtlernen von Aufgaben, der Zorn gegen die Eltern oder das Ärgern des kleinen Schwesterchens, das· übrigens für ihn gar nicht existierte. Woher er dieses Empfinden des Bösen hatte und warum ihn dann Traurigkeit und Gewissensbisse befielen, konnte er nicht begreifen. Er entschloss sich zu einem entschiedenen Schritt: Mit dem Mut eines Verurteilten ging er zum Vater und erzählte ihm alles. Schrecklich verprügelt und mehr noch als über die Prügel von der Perspektive bestürzt, zu einem Idioten zu werden, nahm er sich zusammen und hörte mit den schändlichen Praktiken auf. Er schätzte nämlich in sich jene Vernunft, die ihn in naturwissenschaftlichen Diskussionen über seine Altersgenossen stellte und sogar über den perversen, um ein Jahr älteren Toldzio, der überdies noch ein Graf war – er selber war nur ein Baron und dazu noch ein ›verdächtiger‹, wie eben Toldzio ihm sagte.

Es begann eine Periode gesunder Verviehung. Raufereien, Wettrennen, Sport aller Art vertrieben aus seiner Seele die Erinnerung an die trotz allem vom ›naturwissenschaftlichen Gesichtspunkt‹ interessanten Erscheinungen (der Vater hatte nämlich keine Theorien angeführt, die sie ausreichend erklärt hätten). Doch die Manie, angekettete Hunde zu befreien, kehrte mit verdoppelter Stärke wieder. Jetzt war dies mit Sport zu verbinden – es war eine edle Mutprobe. Oft kam er gebissen nach Hause, mit zerrissenem Anzug, verschmutzt, er hatte sich im Dreck gewälzt. Einmal musste er zwei Wochen den Arm in einer Schlaufe tragen, was eine Serie von Kämpfen mit der Gegenpartei der ›Jungtürken‹ verdarb. Dieses Ereignis schwächte in ihm ein wenig den Eifer in dieser Richtung. Immer seltener unternahm er seine Befreiungsexpeditionen. Und es geschah immer dann, wenn ihn eben irgendwoher eine Lust zu etwas anderem ankam … Ersatztätigkeiten.

Es kam die sogenannte Periode der Sublimierung. Doch brutal durchtrennte sie die Schule. Mörderisch für gewisse Naturen (übrigens wenige), eine aufgenötigte, beinahe mechanische Arbeit, die eher von der Wissenschaft abschreckte als das Interesse für ihre Geheimnisse anregte, unterbrach dieser Zwang die beste Zeit im Leben des Knaben, als die Ahnung des Unbekannten sich mit den erwachenden Gefühlen für junge Damen verband (vielmehr für ›die seine, einzige‹) und einen Dunst unbewusst bleibender metaphysischer Wundersamkeit (noch nicht Wunderlichkeit) bildete, einen Dunst unbewusster metaphysischer Wunderlichkeit (noch nicht Seltsamkeit) über alles gewöhnliche Alltagsleben hinaus. Zypcio, trotz unbestrittener Fähigkeiten, lernte schwer. Der Zwang vernichtete in ihm jeglichen spontanen Eifer. Den ganzen Winter hindurch krümmte er sich geistig unter der Last der Arbeit, und die kurzen Ferien auf dem Lande waren jetzt notwendiger Sport, ländliche Zerstreuung. Außer den für ihn zu diesem Zweck bestimmten Altersgenossen sah er niemanden und pflegte sich nirgends in der Gegend aufzuhalten. Wenn er gegen den Herbst zu sich schon ein wenig zu entspannen begann, kam wieder die Schule, und so hielt er bis zur Matura durch.

Er schwor dem Vater, dass er unmittelbar nach dem Examen aufs Land kommen werde, und er hielt den Schwur. Er vermied dadurch die viehischen Feiern nach der Matura, kam rein und unschuldig, aber mit dem Vorgefühl höllischer Lebensmöglichkeiten vor den Landsitz gefahren – den sogenannten Stammpalast, der in einer Vorgebirgsgegend unweit von Ludzimierz stand.

Information: Wie bekannt, war ihm bereits vor der Schulzeit bewusst geworden, dass er ein Baron war und dass sein Vater, Eigentümer einer riesigen Brauerei, nicht soviel war wie seine Mutter, eine Gräfin mit einer Beimischung ungarischen Blutes. Er machte eine kurze Periode des Snobismus durch, der aber völlig der Befriedigung entbehrte: Zwar war mütterlicherseits alles schön und gut – irgendwelche Helden, Mongolen, wilde Gemetzel zu Zeiten von Wladyslaw IV., aber die Vorfahren Papas sättigten seinen Ehrgeiz nicht. Daher wurde er, von einem glücklichen Instinkt geleitet, von der vierten Klasse an (er kam in der dritten zur Schule) zu einem Demokraten und missachtete den unvollkommenen Komplex seiner Abstammung. Das brachte ihm viel Anerkennung und erlaubte ihm, eine gewisse Demütigung in positive Werte umzuwandeln. Er war erfreut über diese Erfindung.

Er erwachte nach einem kurzen Nachmittagsschläfchen. Er erwachte nicht nur aus diesem Schlaf, sondern auch aus jenem, der fünf Jahre gedauert hatte. Von den rohen Zeiten kindlicher Kämpfe trennte ihn eine Wüste. Wie leid tat es ihm, dass sie nicht ewig dauern konnten! Diese Wichtigkeit von allem, diese Einzigkeit und Notwendigkeit bei dem gleichzeitigen Gefühl, dass alles in Wirklichkeit nicht ganz ernst gemeint war – und die daraus folgende Leichtigkeit und Sorglosigkeit angesichts verlorener Kämpfe. Nie wieder … Aber das, was sein sollte, schien noch interessanter, oh, um vieles – um eine Unendlichkeit! Eine andere Welt. Und nun, man weiß nicht warum, verschob sich die Erinnerung an die kindlichen Perversitäten mit der ganzen Last des Vorwurfs für diese ›Verbrechen‹, so, als wären sie es in der Tat, die auf dem ganzen künftigen Leben lasteten. Nach Jahren gelüstete es ihn noch. immer, doch er bezwang sich. Die Scham hielt ihn zurück vor den ihm noch unbekannten Frauen, den zutiefst unbekannten, denn erst gestern noch …

Information: In der Schülerpension hatte man ihn unter dorniger Disziplin gehalten, und in den Ferien – ha! – war die Gesellschaft ewig nicht die, nach welcher ihn verlangte. Er hörte dennoch einiges von Kameraden, die mehr von der Wirklichkeit geschluckt hatten als er. Doch das war nicht das Wichtigste. Also trotzdem gibt es alles. Diese Konstatierung war nicht so banal, wie es scheinen könnte. Die unbewusste, tierische Ontologie, eine vorwiegend animistische, ist nichts gegen die erste Erleuchtung der begrifflichen Ontologie, die erste existenzielle Beurteilung. Die Tatsache des Daseins allein hatte für ihn bisher nichts Verwunderliches bedeutet. Zum ersten Mal begriff er jetzt die abgründige Unmöglichkeit einer Vertiefung dieses Problems. In einer kindlich verzauberten und kindlich goldenen, im Staube unirdischer Sehnsucht durchleuchteten Welt der besten, unwiederbringlichen Tage gaukelte vor ihm die fernste Kindheit: der elterliche Palast der Mutter im östlichen Galizien und eine bis zur Weißglut erhitzte Wolke, unter der ein Gewitter lauerte, und unkende Kröten in Lehmkuhlen bei einer Ziegelei und das Kreischen eines verrosteten Brunnens. Auch fiel ihm ein kleiner Vers eines Kameraden ein, mit dem ihm nicht erlaubt war zu spielen:

O wundersame, stille, sommerliche Nachmittage
Und voller Tiefe saftiger Früchte,
In der Kühle des Schattens vergessener Brunnen,
Dann wahnsinnige Abende und Nächte …

Das eben sprach für ihn dies elende Verslein aus, das: die ungeheure Größe des Lebens, die Unbegreiflichkeit eines jeden seiner Augenblicke, die entsetzliche Langeweile und Sehnsucht nach etwas unfassbar Großem. Aber erst jetzt begriff er das genau. Damals, als Ptas ihm zum ersten Mal dies alberne Zeug im Schulabort vorgelesen hatte, hatte es ihm noch nichts gesagt. Die Vergangenheit erhellte sich im Blitz der Erscheinung der Gegenwart wie eine andere, bisher unbekannte Welt. Dies währte den Bruchteil einer Sekunde und fiel wieder, zugleich mit der Erinnerung, in die geheimnisvollen Dschungel des Unterbewusstseins. Er stand auf, trat ans Fenster und drückte den Kopf an die Scheibe.

Die große, gelbe Wintersonne sank schnell, beinahe den gespaltenen Gipfel des Großen Bichls berührend. Blendendes Licht schmolz alles zu einer zuckenden Masse erhitzten Goldes und Kupfers. Violette Schatten verlängerten sich maßlos, und der Wald in der Nähe der Sonne verwandelte sich in schwarzen Purpur, der alle Augenblicke in blasses, blindes Grün wechselte. Die Erde war nicht mehr ein alltäglicher Ort, war in keinem vertrauten Verhältnis mehr zur menschlichen Welt – sie war ein Planet und wie aus teleskopischen Fernen gesehen. Mit dem gezahnten, geschnitzten Gefels der Berge, die sich zur Linken erhoben, weit hinter den abschüssigen Hängen des Großen Bichls, schien sie sich der aus zwischengestirnlichen: weiten heranziehenden Nacht entgegenzuneigen, einer ›Trauernacht‹, schien es Genezyp, ohne dass er wusste, warum. Die Sonne, jetzt schon deutlich sinkend, wurde zuweilen zu einer schwarz-grünen Scheibe mit goldrotem Rand. Plötzlich berührte sie mit furchtsamer, fast zögernder Bewegung die zu blutigen Klingen zerspaltene Linie der fernen Wälder. Der rotschwarze Samt verwandelte sich in Schwarzblau, als der letzte Strahl, zu regenbogenfarbenen Garben zerflossen, zum letzten Mal die schweren Massen der Fichten durchdrang. Der ins Unendliche geworfene Blick, von blendendem Glanz gezogen, traf auf den harten Widerstand einer düsteren, wirklicheren Welt. Genezyp empfand etwas in der Art eines dumpfen Schmerzes in der Brust.

Der seltsame Augenblick des Begreifens eines Geheimnisses ging vorüber, und die reale Gewöhnlichkeit zeigte unter der Maske ihr graues und langweiliges Gesicht. Was sollte man mit dem heutigen Abend beginnen? Diese Frage erinnerte ihn an die früheren Fragen, und er versank tief in Gedanken, so tief, dass er völlig das Gefühl für den gegenwärtigen Augenblick verlor. Er wusste nicht, dass eben dies manchmal das höchste Glück ist.

Die Fürstin stand ihm in der Fantasie wie lebendig vor Augen (sie bäumte sich wie ein Pferd). Doch dieses Bild war kein Abbild der gestrigen Wirklichkeit. Ihm kamen die unanständigen Kupferstiche in den Sinn, die er in der Bibliothek irgendeines Freundes seines Vaters gesehen hatte, als er die Unaufmerksamkeit dieser Herren ausnützte und in ein nicht ganz zugeschobenes Fach hineinsah. Wie auf einem schamlosen Bildnis erschaute er ihre nackte Gestalt, umgossen von einem Sturzbach dunkelroter Haare. Eine kreisförmige Reihe von unheilverkündend grinsenden Affen, die um sie mit toller Anmut spazierten (ein jeder von ihnen hielt ein kleines elliptisches Spieglein), war allerdeutlichst die Verkörperung einer gewissen Zeichnung konzentrischer Kreise, welche die Lebenssphären ihrer Wichtigkeit nach symbolisieren sollten. Vielleicht war eben dieser Mittelkreis der allerwesentlichste? Es zeichneten sich zwei unabsehbare Gesichtspunkte ab und ein daraus fließender quälender Zwiespalt. Brutal hätte man dies auffassen können als: programmatischen Idealismus des Vaters – und die Lust, verbotene Vergnügen zu genießen, was sich in unbekannter Weise mit der Mutter verband. Beinahe physisch empfand dies Genezyp in der Brust. Vor einer Weile war es nicht da gewesen, und jetzt wurden die ganze Vergangenheit und die Schulzeit und die Kindheit zu etwas Fernern, das zu einem untrennbaren Ganzen verbunden war – negativ einzig durch das Fehlen einer Lösung des neuerstandenen, unfassbaren Problems. Das Geheimnis der wirklichen Entscheidung dieser Fragen war für ihn immer – seit der Zeit der sexuellen Aufklärung – etwas Beunruhigendes und Unheilverkündendes. Eine ungesunde (warum ungesunde, zum Kuckuck?!) Neugier übergoss ihn wie mit einer warmen, ekelhaft angenehmen Schmiere. Er erschauderte, und erst jetzt fiel ihm der eben durch träumte Traum ein. Er vernahm jemandes Stimme im Abgrund eines unpersönlichen Blickes, der sich in ihn saugte mit einer mörderischen Frage, auf die er keine Antwort finden konnte. Er fühlte sich so, als ob er nicht genügend für ein Examen gebüffelt hätte. Und diese Stimme redete rasch, stammelnd – er hörte einen Satz aus diesem Traum: »Die Zwischenräumler winseln beim Anblick des schwarzen Beatus, belubber schmorlich. « Eiserne Hände umfassten ihn, und er fühlte unter den Rippen einen kitzelnden Schmerz: das unangenehme Gefühl, mit dem er erwacht war und das er nicht zu beschreiben vermochte. (Und lohnt es sich, das zu durchleben und sich darein zu vertiefen und dies auszuweiden, um dann …? Brrr – doch davon später.)

Beinahe mit Freuden gewahrte er jetzt erst auf dem Erinnerungsbild das behaarte Gesicht des Musikers Tengier (den er gestern abend kennengelernt hatte) und in ihm den gleichen geheimnisvollen Zwiespalt, den er selber durchlebte. Die gefesselte Kraft, die so deutlich sichtbar war in den Augen jenes Mannes, verursachte unerträgliche Bedrückungen. Seine Worte, die er gestern gehört (und nicht verstanden) hatte, wurden ihm auf einmal klar, im Ganzen, als nicht analysierbare Masse, eher in ihrem allgemeinen Ton. Von einem begrifflichen Sinn war gar keine Rede. Ein zwiefacher Sinn des Lebens dröhnte dumpf unter der Schale konventioneller ›schulischer‹ Geheimnisse. Diese Schale zerrissen sinnlose Ausdrücke:

»Möge alles geschehen. Ich werde imstande sein, alles zu umfassen, zu besiegen, zu zerbeißen und zu verdauen: jegliche Langeweile und schlimmstes Unglück. Warum ich so denke? Das ist völlig banal, und wenn mir jemand solche Ratschläge gäbe, würde ich ihn auslachen. Und jetzt sage ich das mir selber als tiefste Wahrheit, allerwirklichste Neuigkeit.« Gestern noch hätten diese Worte eine andere, gewöhnliche Bedeutung gehabt – heute schienen sie ein Symbol neuer, wie in einer ganz anderen Dimension sich eröffnender Horizonte. Das Geheimnis der Geburt und der Unvorstellbarkeit der Welt ohne die Annahme eines eigenen ›Ich‹ – dies waren die einzigen Lichtpunkte in einer dunklen Reihe von Momenten. So hatte sich alles verwurstelt. Und wozu? Sollte das Ende so …? Aber davon später. Gestern noch zeichnete sich die kaum vergangene erste Jugend mit übermäßiger Deutlichkeit ab wie lebendig, wie eine unaufhörlich neu beginnende Gegenwart. Ihre unendlich feine Einteilung machte die Schaffung von Epochen unmöglich, trotz scheinbar epochaler Ereignisse. Aber heute, durch ein geheimes Urteil verdunkelt und ferngerückt, verfiel dieses ›große‹ (?) Stück Leben in eine Sphäre der Unveränderlichkeit und Beendigung und gewann dadurch den verschwindenden, unerfassbaren Zauber der zum ersten Mal tragisch empfundenen Unwiederholbarkeit der Vergangenheit. Auf diesem unruhigen Gewoge der Verschiebungen, die wie in einem Medium vor sich gingen, in dem das frühere Leben stattfand, die alles unverändert beließen und dennoch unendlich· weit von ihrem gestrigen Wesen entfernt waren – hier trat dieser eben erst in Erinnerung gekommene Traum auf wie ein Gewirr, scharf, dunkel und markant in der Silhouette, innerlich aber verfilzt, auf einem gleichgültigen, wässerig-durchsichtigen, von Leere leuchtenden Bildschirm der Gegenwart. Blitzartiges Auseinandertreten von Perspektiven, so, wie der ermüdete Blick auf einmal alles unermesslich fern sieht, klein und unerreichbar, aber irgendein Gegenstand die natürliche Größe behält, wobei diese Tatsache auf irgendeine geheimnisvolle Weise die allgemeine, leicht zu konstatierende objektive Proportion der Teile im ganzen Gesichtsfeld nicht verändert. (Störungen in der Entfernungsschätzung, Sehen der Gegenstände in ihrer wirklichen scheinbaren Größe, ohne den Faktor der Bewusstmachung der Distanz, der aufgrund möglicher Berührungsempfindungen den unmittelbaren Eindruck der Raumverhältnisse in zwei Dimensionen verändert. – Das nebenbei.)

Genezyp begann, sich an den Traum in einer zu seinem natürlichen Verlauf umgekehrten Reihenfolge zu erinnern. (Denn ein Traum wird ja nicht unmittelbar aktuell im Moment seines Träumens durchlebt – er existiert nur und einzig als Erinnerung. Daher der wunderliche, eigentümliche Charakter eines allergewöhnlichsten Inhalts. Darum nehmen auch die Erinnerungen, die wir nicht genau in der Vergangenheit zu lokalisieren vermögen, die besondere Färbung der Schlafträume an.) Aus der geheimnisvollen Tiefe einer eingebildeten Welt entstand eine Reihe scheinbar belangloser und unwesentlicher Ereignisse, die scheinbar zu niemandes Erinnerungen gehörten, die aber ihm, Genezyp, so sehr zu eigen waren mit einer schier außerweltlichen Stärke, dass sie, trotz ihrer gleichzeitigen Bedeutungslosigkeit, einen unheilvollen Schatten voller Ahnungen und Vorwürfe wegen Nichterfüllung einer Pflicht zu werfen schienen auf diese Zeit der Sorglosigkeit nach der Matura und auf den goldenen Glanz der inmitten purpurner Wälder erlöschenden Wintersonne. »Blut«, flüsterte er, und zugleich mit der Vision roter Farbe empfand er eine heftige Bedrückung des Herzens. Er erblickte das letzte Kettenglied begangener Verbrechen und, weiter noch, deren geheimnisvollen Anfang, der sich in schwarzer Wesenlosigkeit traumhaften Nichtseins verlor. »Woher Blut – da es doch im Traum gar nicht war?« fragte er sich halblaut. In diesem Augenblick erlosch die Sonne. Nur der Wald auf dem Hang des Großen Bichls schimmerte vor dem blass orangefarbenen Himmel, von den golden glühenden Strahlen in Sägezacken zerfetzt. Die Welt wurde aschfahl im bläulich-violetten Dämmer, und der Himmel hellte sich durch eine flammende, winterliche Abendröte auf, in der, wie ein grüner Funke, die untergehende Venus flimmerte. Der Traum erschien immer deutlicher in seinem anekdotischen Inhalt; doch sein wahrer Inhalt, unerfaßbar und unausdrückbar, verlor sich in der Konkretheit der in Erinnerung tretenden Ereignisse, kaum etwas hinterlassend von einem zweiten, unerreichbaren Leben, das an den Grenzen des Bewusstseins verschwand. Der Traum: Er ging durch eine Straße in einer unbekannten Stadt, die an die Hauptstadt erinnerte und an irgendein flüchtig gesehenes italienisches Städtchen. In einem bestimmten Augenblick merkte er, dass er nicht allein war und dass außer dem in Träumen unerlässlichen Cousin Toldzio noch jemand mit ihm ging: ein ihm unbekannter, hoher und breitschultriger Kerl mit dunkelblondem Bart. Er wollte sein Gesicht sehen, doch jedes Mal verschwand es auf eine sonderbare, aber im Traum ganz natürliche Art, sobald er es nur anblickte. Er sah lediglich den Bart, und dieser bildete eigentlich den spezifischen Gehalt des unbekannten ›Typs‹. Sie betraten ein kleines Café im Erdgeschoß. Der Unbekannte stellte sich in die gegenüberliegende Tür und begann, Genezyp durch angedeutete Bewegungen zu rufen. Zypcio empfand eine unüberwindliche Lust, ihm in die. weiteren Zimmer zu folgen. Toldzio lächelte mit einem allwissenden, ironischen Lächeln, als wüsste er gut, was da geschehen werde; und auch er, Genezyp, glaubte, es gut zu wissen, und wusste dennoch in Wirklichkeit nichts. Er stand auf und ging hinter dem Unbekannten hinaus. Dort war ein Zimmer mit einer Deme, die sich hinter schwankenden Formen dichten Rauches verbarg. Über ihnen schien der Raum unermesslich. Der Unbekannte näherte sich Zypcio und begann, ihn mit aufdringlicher Herzlichkeit zu umarmen. »Ich bin dein Bruder – mein Name ist Jaguarius«, flüsterte er ihm leise ins Ohr, was mit einem höllischen Kitzel verbunden war. Schon wollte Zypcio erwachen, doch er hielt durch. Er fühlte dabei einen unüberwindlichen Ekel. Er packte den Unbekannten am Hals und begann, ihn zu Boden zu beugen und gleichzeitig mit allen Kräften zu würgen. Etwas (schon nicht mehr jemand), irgendeine weiche und kraftlose Masse sank auf den Fußboden, und auf sie fiel Zypcio. Das Verbrechen war begangen. Er fühlte dabei, dass Toldzio ihm den völligen Mangel an Reue deutlich ansah. Das einzige klare Gefühl: das Verlangen, sich aus der schwierigen Situation zu winden. Zypcio, der Toldzio etwas Unverständliches sagte, trat zur Leiche hin. Das Gesicht war jetzt sichtbar, doch war es eher ein großer, scheußlicher, formloser blauer Fleck, und am Halse, an dem verfluchten Bart, waren deutlich blaurote Streifen von den vordem zusammengepressten Fingern zu sehen. ›Wenn sie mich zu einem Jahr verurteilen, halte ich’s aus, wenn zu fünf – Schluss‹, dachte Zypcio und ging hinaus in ein drittes Zimmer, um auf der anderen Seite des Hauses auf die Straße zu gelangen. Aber dies Zimmer war voller Gendarmen, und der Verbrecher erkannte mit Entsetzen in einem von ihnen seine Mutter, verkleidet mit einem grauen Helm und einem Gendarmenmantel. »Reiche ein Gesuch ein«, sagte sie rasch. »Der Chef wird dich erhören.« Und sie reichte ihm ein großes Papier. In der Mitte war in Kursiv ein Satz gedruckt, der im Traum voll ungeheuerlicher Drohung, zugleich aber die einzige Hoffnung war. Jetzt, mit Mühe aus den in Dämmer versinkenden Erinnerungen hervorgeholt, hatte er nur den Charakter einer ungelenken, albernen Posse: ›Die Zwischenräumler winseln beim Anblick des schwarzen Beatus, belubber schmorlich.‹ Ende des Traums.

Der Dämmer wurde dichter, und der Himmel nahm einen tiefen, veilchenfarbenen Ton an, der wesensgleich schien mit dem Duft des ihm dem Namen nach unbekannten Parfums der Fürstin Ticonderoga, der Meisterin des gestrigen Abends. (Später erfuhr Zypcio, dass dies das berühmte ›Femmelle enragée‹· von Fontassini war.) Die sich entflammenden Sterne machten ihm den Eindruck unangenehmer Leere. Der vorherige Zustand: der verbrecherische Traum und das Empfinden irgendeines unerschöpflichen Reichtums in sich und um sich – alles war spurlos verschwunden. Etwas war wie ein Schatten vorübergegangen, Langeweile hinterlassend, Unruhe und eine unangenehme Traurigkeit, die sich in nichts Erhabeneres verwandeln ließ und jeden Zaubers entbehrte. Anscheinend hatte sich nichts verändert, aber dennoch wusste Zypcio, dass etwas ungeheuer Wichtiges geschehen war, etwas, das über sein ganzes weiteres Leben entscheiden konnte. Dieser Zustand war nicht erklärbar, er widerstand allen Mühen des Verstehens – es war ein Block ohne Riß (und lohnt es, sich so mit sich zu beschäftigen, um dann … Ah! Aber davon nicht jetzt). Ein unbekannter Rechenmeister multiplizierte alles mit einem Koeffizienten unbestimmter Größe. Warum ist alles so seltsam? Ein metaphysischer Zustand ohne Form. Allerdings: An Gott konnte er nicht glauben (obwohl, scheint’s, die Mutter eben davon vor langer, langer Zeit mit ihm gesprochen hatte – nicht von Gott selber, sondern von der Wundersamkeit … »Ich glaube an Gott, aber an einen anderen als den, der in den Dogmen unserer Kirche dargestellt ist. Gott ist alles, und er regiert nicht die Welt, sondern sich selber in sich.«) Früher hatte Zypcio die Empfindung, dass die ganze Welt (als Gott) nur die blaue Konkavität einer chinesischen Tasse ist, einer solchen, wie sie auf der Eichenkredenz im Speisezimmer ihres Hauses standen. Dieser Eindruck war intraductible, irréductible, intransmissible et par excellence irrationnel. Ja, nun! Christus war für ihn lediglich ein Zauberer. Im siebenten Lebensjahr sprach er darüber mit seiner Amme und brachte die Alte damit zur Verzweiflung. Der Glaube der Mutter kam seiner Überzeugung näher, und er fühlte, dass in seinem ganzen Leben niemand seinen geheimsten Gedanken so nahe sein würde wie sie. Und dennoch war eine unübersteigbare Mauer zwischen ihnen, sogar in den besten Momenten. Der Vater, schrecklich im Zorn, kalt und unbeugsam in der Ruhe, erfüllte ihn mit grenzenloser Furcht. Er wusste, dass er zusammen mit der Mutter gegen irgendeine böse Macht des Lebens kämpfte und dass das Recht immer auf dieser Seite ist. Er wollte jetzt zur Mutter gehen und sich bei ihr beklagen, dass die Träume schrecklich sind und im Leben furchtbare Hinterhalte lauern, in die er, wehrlos und unerfahren, trotz aller Kraft früher oder später geraten werde. Aber in einer gewaltsamen Wendung zum Ehrgeiz überwand er diese Schwäche und überlegte mit männlicher Entschlossenheit rasch seine Daten: Er hat achtzehn Jahre hinter sich – er ist alt, sehr alt – zwanzig Jahre, das ist doch vollkommenes Altsein. Das Geheimnis muss er kennenlernen und wird es auch – in kleinen Stückchen, der Reihe nach, allmählich –, da ist nichts zu machen. Fürchten wird er nichts, er wird siegen oder aber untergehen, und das in Ehren. Nur wozu, im Namen wovon dies alles? Ihn überkam plötzlich Unlust. Dieser Satz, ohne Sinn für diese Welt, nahm die Bedeutung irgendeiner geheimnisvollen Beschwörung an, durch die man alles lösen könnte. Rasch sank die Dämmerung herab, nur noch Reste des Lichts spiegelten sich im Glas der an den Wänden hängenden Bilder. Und plötzlich wurde das Geheimnis dieses Traums und der erotischen Zukunft zum Geheimnis der Geheimnisse – es umfasste die ganze Welt und ihn selber. Es war nicht mehr das Nichtverstehen einzelner Augenblicke des Lebens – es war das unschätzbare Geheimnis des ganzen Weltalls, Gottes und der blauen Konkavität der Tasse. Aber wiederum nicht nur als Problem des Glaubens oder des Unglaubens kalt und schlechthin – alles das lebte und geschah gleichzeitig, und dabei fror es in absoluter Unbeweglichkeit und erstarb in Erwartung irgendeines undenkbaren Wunders, einer letzten Offenbarung, nach der nichts mehr sein würde – außer dem vollkommensten, wunderbarsten, auf keine Weise vorstellbaren Nichts. In einem solchen Augenblick hatte er schon einmal aufgehört, an diesen erzwungenen Glauben zu glauben, den er vor dem Examen künstlich in sich erweckt hatte – auf Wunsch der Mutter-, Religion war kein Pflichtfach. Und übrigens war der von der blauen Tasse symbolisierte Glaube der Mutter weit entfernt von den Überzeugungen des hiesigen Vikars. Es war schwierig, eine eigene Sekte zu gründen – sogar dazu hatten schon alle die Lust verloren. Die Offenbarung hatte definitiv versagt. Von da an waren alle religiösen Praktiken zu einer bewussten Lüge geworden; nicht einmal seine Mutter, dies einzige wirklich geliebte Wesen, vermochte ihm Glauben zu geben. Das war eine Dissonanz, die einmal in der Zukunft eine kleine, nur scheinbar unwichtige Waagschale zum Ausschlag bringen würde. Trotz aller unbezweifelbarer Tugend der Mutter wusste Zypcio, dass sie unerforschte Abgründe barg, im Zusammenhang mit dieser dunklen Seite des Lebens, auf die er selber langsam und unmerklich zuglitt. Und darum verachtete er die Mutter ein wenig, dies sogar vor sich versteckend. Er wusste, dass niemand im Leben ihm näher sein würde, er wusste ebenfalls, dass er sie bald werde verlieren müssen – und dennoch diese Verachtung! Nichts, zum Teufel, tat sich auf ganz einfache Art – alles war verwickelt, verworren, verwurstelt, wie ein absichtlich von einem bösen Geist angerichteter höllischer Lebens-Salat. Jetzt schien es ihm so – wie viel mehr erst später! Obwohl von einem bestimmten Gesichtspunkt aus sich manche Dinge vielleicht vereinfachen – durch diese unmerkliche Verschweinerung im Leben, der wohl nur Heilige nicht unterliegen. Hatte er denn ein Recht, sie zu verachten? Die Gleichzeitigkeit zweier widersprüchlicher Gefühle – wilder Anhänglichkeit und Verachtung – erhob das Ganze dieser Komposition zu Höhen unwahrscheinlichen Wahnsinns. Und zugleich blieb alles auf der Stelle, und nichts veränderte sich. Diesen inneren Damm durchbrechen, der ihn von sich selber trennte, alle Schleusen zerstören, die Zäune umwerfen, die die Felder der Schullehren künstlich umgrenzen! Ach, warum hatte er so lange geschlafen! Und dabei das sonderbar sichere Gefühl (wie ihm schien), dass er auf diese Weise (das heißt, auf dem Hintergrund einer solchen Vergangenheit wie der seinen) zwei-, drei-, viermal intensiver erleben werde… Aber was? ·Das Leben an sich existierte fast noch nicht für ihn. Und dabei eine solche Scham wegen dieses Gedankens – nie werde er es der Mutter sagen, nie, niemals. Aus dem Nebenzimmer kam das Knarren des alten Parketts, und der kindliche Schreckpopanz verband sich mit dem keimenden männlichen Mut zu köstlicher Melange. Jetzt erst wurde sich Genezyp bewusst, dass schon über vierundzwanzig Stunden verflossen waren seit seiner Ankunft.

Information: Das Abitur fand im Winter statt. Aus Besorgnis wegen des Krieges beendete man das Schuljahr im Februar. Man brauchte dringend Offiziere. Für März erwarteten alle außerordentliche Ereignisse.

Die Vorhut der chinesischen Kommunisten stand nun schon am Ural – nur einen Schritt von dem in konterrevolutionären Gemetzeln untergehenden Moskau. Betört von den Manifesten des Zaren Kyrill, rächten sich die Bauern schrecklich für das ihnen ungewollt zugefügte Unrecht (zugefügt mit dem Gefühl, Gutes getan zu haben), ohne zu wissen, dass sie sich ein noch schlimmeres Los bereiteten.

Der alte Kapen verlor immer mehr den Boden einstigen Lebens unter den Füßen. Er konnte nicht einmal mehr so streng sein wie früher, obwohl er diese Strenge mit Erfolg weiterspielte. Er hatte schon die Vision von Sintfluten, Flüssen, ganzen Meeren seines ausgezeichneten Ludzimiersker Bieres, kanalisiert, in bestimmte Richtungen nationalisiert, sozialisiert – die Fabriken ohne Möglichkeit der Entwicklung verschiedener zusätzlicher Tricks, deren er selber so viele eingeführt hatte, nachdem er die Brauerei vom Vater in einem so primitiven Zustand übernommen hatte, dass sie eher an etwas ohne Zutun aus der Erde Gewachsenes erinnerte als an die Hand- und Gehirnarbeit eines Menschen. Langweilig war das wie eine Säge. Man musste das erledigen durch irgendeine ›Tat‹ (?), in der man sich selber übertreffen und durch die Willkür seiner Handlungsweise einem möglichen Zwang höherer Gewalten zuvorkommen könnte.

Zypcio dachte an den Vater mit einem unangenehmen kleinen Schauder im Rücken. Wann wird endlich diese schreckliche Herrschaft enden, die er schon zwölf Jahre lang mit Bewusstsein ertrug? (Der Rest der Martern versank in dem dunkleren Zeitraum früher Kindheit.) Wird er imstande sein, sich in kontinuierlicher Weise dieser Macht zu widersetzen, die jegliche selbstständige Bewegung in ihm zerbrach? Die gestrige Erfahrung in dieser Richtung hatte ihn innerlich zerrissen, unentschlossen gelassen. So hatte er gleich zu Anfang dem Papa erklärt, er, Genezyp, werde sich nicht mit Bier befassen, werde nicht auf das Polytechnikum gehen und werde im September, falls nicht ein Krieg ausbreche, sich in die Fakultät für westliche Literatur einschreiben lassen, wofür er sich in den letzten Schulmonaten schon vorzubereiten begonnen hatte. Die Literatur sollte in idealem Ausmaß die quälende Vielfalt des Lebens ersetzen – mit ihrer Hilfe konnte man alles schlucken, ohne sich zu vergiften und ohne zu einem Schwein zu werden. So dachte sich der seiner Geschicke unkundige, naive künftige Adjutant des Obersten Chefs. Die Antwort des Vaters, seinem Unglauben an die Zukunft zum Trotz, war ein leichter Schlaganfall. Der Alte hatte noch keine klare Konzeption betreffs der Zukunft dieses Tölpels, aber allein die Tatsache des sohnlichen Ungehorsams hatte ihn beinahe erwürgt wie irgendeine materielle feindselige Person. Genezyp ertrug das mit der Standhaftigkeit eines würdigen Marabuts. Das Leben des Vaters hatte plötzlich auf gehört, ihn zu interessieren. Es war das irgendein fremder Mensch, der ihm den Weg versperrte, sich seiner allerwesentlichsten Berufung widersetzte. Nach dieser Szene zog er zum ersten Mal einen Frack an (der Schlaganfall war um sieben Uhr abends erfolgt – es war bereits dunkel, und ein Schneetreiben tollte um den Landsitz von Ludzimierz), und um neun Uhr fuhr er im Schlitten zum Ball zur Fürstin Ticonderoga. Jetzt tauchte für einen Moment ihr Gesicht auf inmitten bieriger Langweile, die er für immer von sich schob. »Nur nicht zu einer Figur aus einem Roman über einen unumrissenen Menschen werden«, flüsterte Genezyp unterwegs hart. Dies geschah auf einer kleinen Lichtung, die noch mehrmals die Rolle des Ortes entscheidender Veränderungen spielen sollte. So flüsternd, verstand er nicht recht die Bedeutung der eigenen Worte – er hatte zu wenig Erfahrung. Der unfehlbare Instinkt der Selbstverteidigung (die Stimme Daimonions) wirkte unabhängig von der Intelligenz, aber in ihren Gebieten. Das Gesicht der Fürstin – nein, vielmehr die von ihrem Gesicht genommene Maske in dem Augenblick maximaler Spannung geschlechtlicher Raserei, dies war das geheimnisvolle Zifferblatt, auf dem die Stunde der Prüfung erscheinen sollte und die Art der Vorbestimmung in fremden, nur ihm bekannten Zeichen. Schon sah er ja dort etwas, etwas wie eine Fata Morgana. Wie aber diese Symbole entziffern, wie hier nicht irren und dabei buchstäblich nichts wissen!

Information: Der antikommunistische Krieg schuf einen paradoxen Zustand bei allen Völkern, die an ihm teilnahmen. Jetzt hatten alle Teilnehmer eine chronische bolschewistische Revolution bei sich selber, und in Moskau ›wütete‹ soeben der Weiße Terror mit dem einstigen Großfürsten und jetzigen ›Zaren‹ Kyrill an der Spitze. Polen, um den Preis schrecklicher Anstrengungen einiger weniger Menschen (einer davon war der gegenwärtige Minister des Inneren, Dyament Koldryk; in Wirklichkeit beeinflusste etwas ganz anderes das Gelingen ihrer berühmten Mission), blieb neutral und nahm an dem antibolschewistischen Kreuzzug nicht teil. Infolgedessen gab es im Innern noch keine Revolution; durch welches Wunder sich alles wie an einem Haare hielt, konnte einstweilen niemand sagen. Alle erwarteten eine – zumindest theoretische – Lösung dieses Problems durch die Schüler der Schule Professor Smolo-Paluchowskis, dem Schöpfer des ›doppelten Systems sozialer Wertungen‹. Er war nämlich überzeugt, dass ein moderner Soziologe, der sich nicht um einen bewussten Dualismus (als Einleitung zu weiterem, einfach schweinischem Pluralismus) kümmerte, heutzutage nichts anderes war als une dupe des illusions des Objektivismus und dass er höchstens ein theoretisiertes Magma der Ansicht des gegebenen gesellschaftlichen Fragments ausdrücken konnte. Die praktische Wirklichkeit dieses Systems, das die Schüler in die Breite dehnten, war die wissenschaftliche Organisation der Arbeit – eine an sich so langweilige Sache wie die Erzählungen eines Greises von einstigen guten Zeiten. Dank ihrer jedoch hielt alles irgendwie zusammen, da die Menschen, verdummt durch die Mechanisierung ihrer Tätigkeiten, allmählich aufhörten zu verstehen, im Namen wovon sie sie ausführten, sich miteinander identifizierend in ›Vertruppsung‹ und Ideenlosigkeit. Irgendwie ging die Arbeit vor sich, aber das war au fond des fonds, niemand wusste wie. Die Idee des Staatswesens als solchem (und anderer daraus folgender Illusionen) hatte längst aufgehört, ein ausreichender Motor sogar der einfachsten Aufopferung und Verzichte zu sein. Alles wurde ausgeführt, aber mit einer geheimnisvollen Bewegungslosigkeit, deren Quellen aufzufinden sich vergeblich die Ideologen der scheinbar regierenden Partei – der ›Gesellschaft für Nationale Befreiung‹ bemühten. Alles geschah scheinbar – das war das Wesen der Epoche. Auf diesem sich rasch amerikanisierenden Boden eigenartiger Primitivität wurden die Frauen erschreckend intelligent im Verhältnis zu den durch Arbeit verdummten Männern. Die früher bei uns seltenen précieuses fielen im Preise infolge des riesigen Angebots. Sie gaben den geistigen Ton des Lebens im ganzen Land an. Scheinbare Menschen, scheinbare Arbeit, scheinbares Land – nur das Übergewicht der Frauen war nicht scheinbar. Es war da ein Mensch: Kocmoluchowicz – aber davon später. Und dazu die kommunisierten Chinesen unmittelbar hinter dem machtlosen, desorganisierten, entvölkerten Russland. »Wir haben’s kommen sehen«, wiederholten, zitternd von Angst und Wut, verschiedene Leute, die ihr bisschen Wohlhabenheit liebten. Aber im Grunde freuten sie sich, obwohl unaufrichtig. Sie hatten immer gesagt, dass es so kommen werde. »Denn wenn wir’s nicht gesagt hätten …« Und was weiter?

Jetzt, nach dem Erwachen, wuchs der gestrige Abend Zypcio über den Kopf als ein Unheil kündendes, schwankendes schwarzes Traumbild, das sich auftürmte auf der Seite des einstigen, träumerischen Lebens und in qualligen Gestalten zu seiner gegenwärtigen Hälfte herüberfloß, zu diesem neuen Teil seiner selbst, der soeben auf dem Hintergrunde allerwunderlichster Veränderungen durch Ereignisse begann, die einzig mit dem eigentlichen Anfang der Russischen Revolution vergleichbar waren. Diese war nur ein declenchement gewesen – jetzt kippte die Menschheit in der Tat auf die andere Seite ihrer Geschichte um. Der Untergang Roms, die Französische Revolution schienen Kinderspiele gegenüber dem, was nun geschehen sollte. Jetzt – eben dieser Augenblick, der flieht und nicht wiederkehrt – dieser Augenblick, asymptotisch hervorgequetscht durch das sich mit Schwänzen und Köpfen bedeckende Vollendete in der Zeit des Geschehens, nach der Methode von Whitehead. »Die Gegenwart ist wie eine Wunde – es sei denn, man fülle sie mit Wollust, dann vielleicht … « So sagte mit unschuldsvollem Lächeln die Fürstin Ticonderoga, ein Mandelplätzchen knabbernd, ihm wesensnah – Empfinden desselben Geschmacks, die Idee dieses Geschmacks, zerlegt in zwei tierische Fressen (er hatte gestern den Eindruck, als wären alle verkleidete Tiere, was nicht weit von der Wahrheit entfernt war), kondensierte in ihm das Empfinden der Gegenwart, der Gleichzeitigkeit und der Identität, von der alles zu bersten schien. Nichts fand in sich selber Platz. Aber warum erst jetzt? Ach – wie ist das langweilig! – dies, dass soeben gewisse Drüsen ein Sekret in das innere Mark des Organismus gespritzt hatten, anstatt es durch gewöhnliche Kanäle schießen zu lassen. ›Sollte ich das den Augen dieser alten Schachtel zu verdanken haben?‹, dachte er über die Fürstin lrina, wissend, dass er eine schreckliche Ungerechtigkeit begehe, dass er werde büßen müssen (ja, büßen – wie wenig konnte er dieses Wort ausstehen!), büßen wegen seiner Liebe zu ihr, dass er ihr dies sagen werde, dies eben ihr! – (er schüttelte sich im Gefühl dieser ekelhaften, tierischen, leicht stinkenden Vertraulichkeit, zu der es einmal werde kommen müssen) mit der Grausamkeit der Jugend, welche die letzten Reste austrocknender Säfte in den zu Leichen werdenden Halbgreisen und alten Frauen ins Wallen bringt. Allerdings verstand er nicht seinen ganzen eigenen abscheulichen Zauberer – Valentino, ein bildliches Wesen, wie ihn gestern die Fürstin genannt hatte, weswegen er sich so schrecklich gegen sie empört hatte, er, mit einer kurzen, so geraden Nase, dass sie fast eine Stupsnase war, einer kleinen, fleischigen, gespaltenen, ohne dass etwas Zerplattetes an dieser Nase war, mit hart gezeichneten, arabeskenhaft gewundenen, dabei aber gar nicht negerhaften dunkelblutroten Lippen – er war nicht sehr groß (etwa 185 cm), aber wundervoll proportioniert gebaut, enthielt in sich potenziell ein ganzes Meer von Leiden der ihm noch nicht bekannten Weiber. Und unbewusst freuten sich darauf schon alle Zellen seines Körpers, der so gesund wie eine Stierzunge war. Die Seele erhob sich über dieses olympische Spiel der Zellen (ein anderes Wort gab es nicht dafür), ein wenig krumm, anämisch, ein bisschen scheusälig sogar und absolut unentwickelt – nichts ließ sich über sie sagen, außer dem, was vielleicht ein Psychiater über sie gesagt hätte, ein guter – wie etwa Bechmetjew? Aber zum Glück wies dieser Typ in gesellschaftlicher Hinsicht immer geringere Unterschiede auf, und sogar seine Integration an gegebener Stelle und zu gegebener Zeit würde keinen Einfluss mehr auf den zufälligen Lauf der Ereignisse haben. Also: Noch gestern hatte er in jenem früheren Schulleben geschlafen, sogar noch bei dieser Abendgesellschaft, wo er, wie ihm geschienen hatte, ganz unwillkürlich die Bier-Macht der Barone Kapen de Vahaz, nunmehr von Ludzimierz, repräsentiert hatte – und heute? Er selber mochte Bier nicht, und die Vorstellung, Schmarotzer an den Leben der sozusagen unglückseligen Arbeiter zu sein – wenn sie auch in einer künstlichen polnischen prosperity