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Der Berg der Seherin


Reinhold Fink








spiritbooks

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© 2017 spiritbooks, 70178 Stuttgart

Verlag: spiritbooks, www.spiritbooks.de

Autor: Reinhold Fink, www.reinhold-fink.de

Lektorat: PCS Books · Gabi Schmid, www.pcs-books.de

Satz & Layout/eBook-Konvertierung: PCS Books · Gabi Schmid

Covergestaltung: Corina Witte-Pflanz, www.ooografik.de

Grafiken/Illustrationen: Portrait of a Wolf, #93608094 | Urheber: ant_art19; Mandala, #52941818 | Urheber: Vodoleyka; alle Fotolia.com; painting mighty lion ..., #357384701 | Urheber: Jozef Klopacka, Shutterstock.com

Fotos/Zeichnungen: © Reinhold Fink




Druck und Verlagsdienstleister: Tredition GmbH, Hamburg

Printed in Germany

1. Auflage

ISBN: 978-3-946435-06-8

Alle in diesem Roman vorkommenden Personen, Vereinigungen und Handlungen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhaltsverzeichnis

Auf dem Berg. Vor 800 Jahren

In heutiger Zeit

Am nächsten Morgen

Kommissariat Stuttgart

Bei der Großmutter in Tübingen

Auf dem Weg zum Professor

Mia rebelliert

Zu Besuch bei den Eltern in Fellbach

Bei der Tante

Erste Spuren

Nochmals zur Professorin ins Institut

Die Entscheidung

Treffen der Bruderschaft

Ein Isländer im Stadtarchiv

Die Recherchen beginnen

Zurück bei den Eltern

Wieder im Stadtarchiv

Das Geheimnis der Bruderschaft

Alte Schriften

Island: Reykjavik

Island: Bei Sólveig

Mia und Sigurður in Island

Island: Ankunft am Pferdehof

Island: Mia im ewigen Eis

Island: Zu Gast bei Abnoba

Island: Krankenhaus Reykjavik

Daheim?

Namensfrage

Kontaktaufnahme

Neuer Weg

Nach Irland zur Universität der Einweihung

Innere Pilgerreise

Schamanische Reise

Gerätschaften

Spezielle Heimatkunde

Rückführung

Schluss der Ausbildung

Rückkehr nach Fellbach

Neue Suche

Der Frauenkreis meldet sich

Aufnahme von Mia an Alban Eiler

Maßnahmen

Spurensuche Fünfeck

Noch ein Buch

Fellbacher Pentagramm

Der geneigte Kegel

Besuch

Am Kreisel

Wanderungen ringsum

Auf dem Berg

Nicht jammern

Zur Lutherkirche

Der alte Fluchtgang

Die Bronzescheibe

Die Bruderschaft ist kampfbereit

Die Arbeit schreitet voran

Hin und hergerissen

Drohungen

Sie schüren das Feuer

Vorbereitung der Sonderausstellung

Das prächtige Stadtmuseum

Verhör Mia

Mia wird an den Pranger gestellt

Hexenjagd

Gedenken

Untersuchung

Wichtige Zeugin

Wieder frei

Im Archiv der Bruderschaft

Suche nach der Höhle

Ergebnisse der Suche

Gefundene Höhle

Aktivierung der Energielinie

Ewige Pfade

Geschichtliche Hintergründe

Danke




Willst du immer weiter schweifen?
Sieh, das Gute liegt so nah.
Lerne nur das Glück ergreifen:
Denn das Glück ist immer da.

Johann Wolfgang von Goethe




Dieses Buch widme ich jenen,
die die langen Wege gehen.

Wege, die durch verwachsenes
Unterholz zur Quelle des Mysteriums
der Vergangenheit führen,

die gepflastert mit Hindernissen
zum Geheimnis der Dinge in der Gegenwart leiten,

auf denen eine leise Stimme die Zukunft ankündigt:

„Gehe deinen eigenen Weg, jetzt!“

Mandala-eBook

Auf dem Berg. Vor 800 Jahren

Strahlend weißgolden stand die Mondin am Himmel. Ein Hauch der großen Muttergöttin wehte über den Buchberg, den Hüter der Geheimnisse. Rot sprühende Lichtfunken des heiligen Feuers blitzten in die schwarzschimmernden Sehnsuchtsbilder des Luftreiches. Ein harzig-erdiger Geruch kroch aus dem Feuerschein heraus, umfasste schmeichelnd den Raum der heimlichen Zusammenkunft. Eingesprengte Wassertröpfchen aus dem irdenen Kelch klirrten auf das Kräuterholz, zischten, vereinigten sich mit dem Äther in einem spiraligen Vermählungstanz. Der Heilige Hain ward eröffnet, zugänglich nur für die Eingeladenen. Das Fest der weisen Frauen begann.

Die Druidin Urda stand mit dem Rücken zum Feuerstoß. „Das Fest der Dreifach Größten. Heute Nacht. Sieben mal dreizehn Monde vergangen. Monde des Wartens geschehen. Heute die Vermählung der Großen mit dem Großen. Das Fest gerichtet. Gelingt es nicht, verloren sind sieben mal dreizehn Monde.“

Durch ihre Wolfsmaske lugte Urda auf die acht Frauen im Halbkreis vor sich. Vier kamen von der Siedlung, die sich an die Nordseite des Buchberges anschmiegte. Zwei aus dem im Tal liegenden Weiler Immenrod, die anderen zwei aus Allergrün. Nur schemenhaft sah sie die Gesichter im Schein des Feuers.

„Göttin der Welt. Himmlische Kraft, wir rufen zu dir.“

Ein langanhaltender Pfeifton hallte aus dem Tal. Urda ließ sich nicht beirren. Sie atmete tief durch, die erfrischende harzige Luft gab ihr zusätzlichen Mut zum Weitermachen.

Die acht Frauen starrten sie mit aufgerissenen Augen an. Der Pfiff kam von einer ihrer Späherinnen, die sie für Warnungen postiert hatten. Dem Ton nach von Urdas jüngster Tochter Brigga.

Gefahr nahte. Die Knechte der Herren aus dem Dorf unter dem Berg hatten schon beim letzten Fest Beltaine den Frauen nachgestellt. Urda wusste, sie trachteten ihnen nach dem Leben. Damals hatten sie nur knapp entkommen können, Zuflucht findend in Höhlen ihres Frauenberges. Abermals ein gellender Pfiff. Diesmal von Negga, Urdas ältester Tochter. Ein Raunen ging durch die Reihen der Frauen. Urda hielt nicht inne. Heute war das Ritual zu vollziehen. In dieser Nacht. Sie konnten nicht abbrechen, zu viel stand für den Kreis der weisen Frauen auf dem Spiel. Sie begann zu sprechen:

„Mutter des Feuers im Osten, höre uns.

Mutter des Wassers im Süden, höre uns.

Mutter der Erde im Westen, höre uns.

Mutter der Luft im Norden, höre uns.“

Ein kurzer Pfiff ertönte, brach gleich ab. Kurz darauf ein kreischender, markdurchdringender Schrei. Urda zuckte bebend zusammen. Ihre Töchter. Würde sie sie lebend wiedersehen? Kurz dachte sie daran, sofort zu fliehen. Unter Tränen presste sie hervor:

„Dreifach Große Göttin.

Hilf uns, deine Worte zu erhalten.

Hilf uns, dein Wissen zu bewahren.

Hilf uns, dein Erbe zu beschützen.“

Die Druidin Urda warf einen Buschen mit neunerlei Hölzern und neunerlei Kräutern ins Feuer, erneuerte das heilige Gelübde:

„Lob dir, Dreifach Große Göttin.

Höre unseren Schwur:

Dein auf ewige Zeit!“

Jetzt flüchten! Zu spät!

Mandala-eBook

In heutiger Zeit

Ja, Krankenhäuser sind notwendig. Und nein, er mochte sie nicht. Professor Gerhard Schrickelbacher stand im Stuttgarter Klinikum vor der Tür des Zimmers 113. Die Hand krümmte sich zum Klopfen. Eintreten?

Den Anruf heute früh hatte die Sekretärin an der Tübinger Universität entgegengenommen. „Ist dringend“, hatte sie ihm betont, als er zwischen zwei Besprechungen vorbeischaute.

Zu seinem einzigen Onkel Thurecht hatte er nicht viel Kontakt. Ein verbissener, ewig recht haben wollender Oberfrommer. Dauernd missionarisch unterwegs. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit legte er irgendwelche Traktate aus. Die Briefkästen der gesamten Nachbarschaft beglückte er mit religiösem Schriftenkram. Alle wollte er bekehren.

Mit Inbrunst spielte er das schwarze Harmonium in der Stund. Wurde eins mit diesem Instrument. Ausdruck seiner speziellen sonntagseifrigen Liebesgabe an die himmlischen Heerscharen. Dazu seine quäkende Stimme beim Singen und beim Lesen der Bibeltexte. Diese bibeltreue Gebetszusammenkunft Stund!

Am behaglichsten fühlte der Onkel sich in tiefschwarzen Anzugskleidern. Überhaupt war er umgeben von tiefgrau-schwarzer Farbe. Schwarze Gewänder der Frauen, dunkle Tische, Schwarz-Weiß-Bilder an den Wänden.

Der Professor meinte den Geruch des Holzfußbodens im Wohnzimmer der Stundenleute zu riechen. Schwäbisches Saubermachen in Reinkultur.

Als Jungspund war er stolz gewesen, bei den Großen zu sitzen. Bei den Männern! Die Frauen hatten hinten ihren Platz, mitzureden war ihnen nicht gestattet. Zu der Zeit hatte er es normal gefunden. Was hätten die Mädchen und Weiberleut auch Gescheites von sich geben sollen?

Die Männer legten reihum den jeweiligen Bibeltext des Tages aus. Rede genug. Nach dem letzten Lied die übliche Grabesstille. Als er einmal just in diesem Augenblick einen Hustenanfall nicht hatte unterdrücken können, hatten ihn alle vorwurfsvoll gemustert. Störung der heiligen Andacht.

Der Vater hatte ihn dann daheim ordentlich zurechtgewiesen. Das beliebte Schlaginstrument Ledergürtel hatte auf dem Hinterteil die Taktlosigkeit aus ihm herausgeprügelt.

Gedankenfetzen stoben aus dem Vorgestern ins Heute. Die Stund war in unguter Erinnerung geblieben. Ebenso wie der ungeliebte sonntägliche Kirchgang zur Lutherkirche in Fellbach.

„Wieso bin ich mit so einer Verwandtschaft gesegnet?!“, dachte er ingrimmig. Die Finger ballten sich zur Faust. Also doch lieber umkehren?

Die Entscheidung wurde ihm abgenommen. Die Türe öffnete sich, eine Krankenschwester füllte die halbe Türöffnung aus.

„Besuch für den Herrn Schrickelbacher“, sagte sie mit überlauter Stimme, „sind Sie der Neffe? Er sprach schon dauernd über Sie.“

Der Professor trat ein, ging auf das einzige Bett des Raumes zu. Beim Näherkommen erschrak er. Der Onkel, nicht wiederzuerkennen. Eingefallene Gesichtszüge. Sah aus wie der schwarze Mann aus dem Reich der Schatten.

„Guten Abend Onkel Thurecht, wie geht es dir?“

„Gerhard!“ Ohne Umschweife kam der Onkel zur Sache. „Ich muss dir etwas Wichtiges sagen. Bitte gehe in meinem Haus auf den Dachboden. Hinter dem Kamin steht eine Metallschachtel. Hier, der Hausschlüssel.“ Er reichte ihm den Schlüsselbund. Die Hand des Neffen hielt er umklammert. „Gerhard! Du musst die Schachtel schnellstens zu dir nach Tübingen bringen. Bei dir verstecken! Hörst du!“

„Onkel Thurecht, wieso denn so dringend? Was ist denn mit der Schachtel?“

Der Onkel hob den Zeigefinger zum Mund, flüsterte mit zittriger Stimme. „Bitte frag jetzt nicht. Bitte tue es! Gleich! Kannst du mir das versprechen?“

Professor Schrickelbacher nickte zögerlich. „Wenn es dir so wichtig ist – ja, das kann ich schon machen.“

„Bitte komm mich morgen nochmals besuchen. Ich bitte dich herzlich darum.“

Der Professor war hin und hergerissen. Nochmals hier antanzen? Er schaute in die hohl scheinenden Augen des Onkels. „Du weißt, ich bin in Tübingen sehr eingespannt. In drei Wochen beginnt das Wintersemester.“

Die Augen des Onkels füllten sich mit Tränen. „Nun gut“, er machte eine bedeutungsschwere Pause und zog den Professor zu sich herab. Als hätte sein letztes Stündlein schon geschlagen, ratterte er seine Mitteilung herunter. Verhaspelte sich. Riss die Augen weit auf. Unverständliche Wortbrocken. Erzählte etwas von Bruderschaft, Scharfrichter, Oberbruder, Rache.

Gerhard Schrickelbacher hörte nur scheinbar zu. Ach was, wirres Gefasel, garniert mit religiösem Schnickschnack. Ätzend, dieses prophetische Endzeitgestammel! Sakrales Gesülze. Kaum zu ertragen. Zeitverschwendung pur.

„Nur zu dir habe ich Vertrauen, zu keinem anderen Verwandten“, beteuerte der Onkel, „die hängen alle mit drin. Du bist meine einzige Rettung. Wirst auch mal alles von mir erben. Das ist im Testament beim Notar festgelegt. Die rechtliche Vollmacht hast du ja bereits.“

„Onkel Thurecht, nicht an Tod und Nachlass denken. Du wirst schon wieder gesund“, antwortete der Professor mit betont bedächtigem Tonfall.

Der Onkel presste die Lippen zusammen, blickte ihn mit seinen wässrigen Augen an.

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Am nächsten Morgen

Eigentlich hatte er gar nicht hinhören wollen. Trotzdem klangen die Wortfetzen vom gestrigen Tag noch nach. Mechanisch ließ der Professor seinen Wagen auf der B 27 Richtung Stuttgart rollen. Den Auftrag hatte er erledigt, jetzt noch kurz den Onkel beruhigen und dann ...

Mit der Aufmerksamkeit eines Schlafwandlers karrte er die Neue Weinsteige in den Stuttgarter Kessel hinunter. Der grelle Lichtblitz einer stationären Radarkontrolle katapultierte ihn unsanft in das Hier und Jetzt zurück.

„Mist! Elendige Abzocke!“

Vor Zimmer 113 hatte sich eine bunte Truppe versammelt. Zwei Krankenschwestern, uniformierte Polizeibeamte, Männer in Ganzkörper-Schutzanzügen.

„Sie sind doch der Neffe des Patienten“, begrüßte ihn die Krankenschwester von gestern.

„Herr Kommissar“, rief sie ins Zimmer, „hier ist ein Verwandter.“

Ein Herr mittleren Alters eilte raschen Schrittes heran. Drahtige Figur, Halbglatze, durchdringender Blick, betont kräftige Stimme.

„Kriminalpolizei Stuttgart, Hauptkommissar Licht. Wie heißen Sie? Was machen Sie hier?“

„Was ist passiert?“

„Die Fragen stellen wir!“

„Schrickelbacher. Professor Dr. Gerhard Schrickelbacher, Universität Tübingen. Ich bin der Neffe.“

„Ihr Onkel ist verstorben.“

„Und warum ist die Kriminalpolizei hier?“

„Kommen Sie“, der Hauptkommissar führte ihn zur Fensterfront, weg von der Menschentraube. „Ihr Onkel wurde ermordet.“

„Was? Ermordet? Wann? Was ist passiert? Kann ich ihn sehen.“

„Das tun Sie sich jetzt besser nicht an. Gibt es nahestehende Angehörige?“

„Nein, ich bin, nein, ich war der einzige nähere Verwandte. Er war der Bruder meines Vaters. Seine Frau verstarb vor Jahren, sie hatten keine Kinder. Irgendwelche Vettern gibt es. Irgendwo. Hab aber keinen Kontakt. Er hatte mich vor Jahren als rechtlichen Bevollmächtigten eingesetzt. Was ist denn überhaupt passiert?“

„Unsere Ermittlungen stehen erst am Anfang. Er wurde ermordet, grausam verstümmelt.“

„Was? Mein Onkel?“

Der Hauptkommissar winkte einem Uniformierten. „Nehmen Sie bitte die Personalien von Professor Schrickelbacher auf.“ Und zum Professor gewandt: „Hier meine Karte, kommen Sie bitte morgen auf 10 Uhr in mein Büro. Wir haben ein paar Fragen an Sie.“

Im Gehen schnappte Professor Schrickelbacher ein Gespräch zweier Krankenschwestern auf.

„Schrecklich! Wie kann jemand bloß auf die Idee kommen, einem anderen Menschen die Zunge herauszuschneiden?! Und die Augen hat man ihm auch noch ausgestochen. Unglaublich!“

„Wenn man bedenkt, dass der irre Mörder noch frei herum läuft ... Womöglich ist er noch hier im Krankenhaus!“

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Kommissariat Stuttgart

Staatsanwalt Dr. Andreas Golberg stürmte herein. „Haben wir es mit einem Serienmörder zu tun? Nach was für einem Typ suchen wir?“

Kommissar Hans-Peter Eirach hob die Hand. „Vor einiger Zeit haben Kriminalpsychologen aus Großbritannien herausgefunden, dass Serienkiller fünf Eigenschaften haben.“

„Die hast du dir hoffentlich gemerkt?“, fragte Hauptkommissar Fürchtegott Licht.

„Na klar“, erwiderte Eirach, setzte sich kerzengerade hin, fuchtelte lächelnd mit dem Zeigefinger zum Hauptkommissar und dann zum Staatsanwalt. „Erstens sind diese Typen gierig nach Macht und Einfluss. Zweitens: Manipulieren ihre Umwelt. Drittens: Sind extrem ich-bezogen. Viertens: Plustern sich gern auf, sind unheimlich charmant, können Menschen suggestiv beeinflussen. Und fünftens sind sie Vorbildbürger.“

„Und sechstens“, ergänzte Hauptkommissar Licht, „trifft dies schätzungsweise auf die Mehrheit der Bevölkerung zu. Alle sind verdächtig. Mit solchen Allgemeinplätzen kommen wir nicht voran. Zumal wir ja nullkommagarkeinen Hinweis haben, dass es sich überhaupt um einen Serienmörder handelt.“

„Das war eine wissenschaftliche Studie“, beharrte Eirach mit hochgezogenen Augenbrauen und gekräuselter Stirn.

„Für Räuber und Gendarm spielende Kinder im Vorschulalter“, erwiderte Licht mit einer abweisenden Handbewegung.

„Nein, eine aufschlussreiche Studie. Es müssen alle fünf Aspekte bei einer Person zutreffen.“

„Mag sein“, lenkte der Hauptkommissar ein, „aber zuerst brauchen wir mal einen Verdächtigen.“

„Was? Sie haben noch nicht mal einen Verdächtigen?“ Dr. Golberg beäugte den Hauptkommissar mit seinen stecknadelgroßen Pupillen. „Na dann mal los! Wenn die Presse bald vom Horrormörder schreibt, von einem Serienkiller, dann ...“

„Was dann?“, fauchte der Hauptkommissar, „wir machen unsere Arbeit. Aktionismus ist fehl am Platz. Wenn es etwas Neues zu berichten gibt, melde ich mich bei Ihnen.“

„Ich erwarte jeden Tag Informationen von Ihnen, ist das klar“, zischelte der Staatsanwalt. Die Türe schlug hinter ihm krachend ins Schloss.

Der Hauptkommissar wandte sich zu seinem Mitarbeiter.

„So, Hans-Peter, schauen wir doch mal, ob die fünf Punkte bei dir passen. Aufgeplustert vor dem Staatsanwalt, wahrscheinlich gierig auf Macht und Einfluss. Dabei auch noch charmant gelächelt, um die Umwelt suggestiv zu beeinflussen. Oder soll ich manipulieren sagen? Als letzter Punkt die Vorbildfunktion. Der vorbildliche Beamte, der in der kargen Freizeit britisches Universitätsgeschreibsel auswendig lernt. Bist du ein Serienmörder?“

„Du drehst mir alles im Mund herum.“

Die Mundwinkel von Fürchtegott Licht gingen leicht nach oben.

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Auf dem Weg zum Professor

Was für ein herrlicher Morgen! Blauer, wolkenloser Himmel, dazu ein weiches, warmes Licht der Oktobersonne. So fing das Wintersemester gut an. In einer halben Stunde der Termin bei Professor Schrickelbacher. Das Wintersemester konnte beginnen.

Mia hüpfte leichtfüßig auf dem Weg vom Fachwerkhaus ihrer Oma hin zum Institutsgebäude, vorbei an der Stiftskirche, dann die leichte Steigung hinauf zum Schloss Hohentübingen. Zielstrebig schritt sie durch den Toreingang des mächtigen Eingangsgemäuers mit den zwei markanten Eckenerkern. Mias Blick streifte das übergroße Hinweistransparent des Museums der Universität, das auf eine Ausstellung über Alte Kulturen hinwies. Daneben ein Bildnis eines steinzeitlichen Kunstwerkes. Mia durchquerte den Eingang zum Schlosshof, drehte kurz den Kopf zur linken Seite Richtung Museum. Der vertrauten Skulputur mit dem Wildpferd aus der Vogelherdhöhle vom Lonetal warf sie einen freundlichen Blick zu. Eine Kommilitonin hatte ihr genau vor einem Jahr zu ihrem Geburtstag aus dem Museumsshop eine Nachbildung des Kunstwerkes geschenkt.

„Das Pferdle hat zwar nur noch Beinstummel, sieht aber spitzenmäßig aus. Vor allem wenn man bedenkt, dass es vor 32.000 Jahren geschnitzt wurde. Das Original, meine ich“, hatte die Freundin bemerkt. Mia trug das Pferdle jeden Tag an einer silbernen Halskette. Ihr einziges Schmuckstück.

Sie durchquerte den Schlossinnenhof, stieg die beiden steinernen Treppen hinauf. Das Ziel lag vor ihr: Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft.

Ihr Institut. Jedes Mal freute sie sich beim Anblick des bescheidenen Hauses. Es sah nicht nach einem Institutsgebäude aus, glich eher einem in die Jahre gekommenen Einfamilienhaus.

„Immer wieder putzig“, dachte sie.

Mia schritt durch die bläulich-graue, in die Jahre gekommene Holztüre mit den sechs vertieften Kastenfeldern.

„Guten Morgen, Frau Blaustein“, grüßte sie nach rechts durch die einen Spaltbreit geöffnete Tür ins Sektretariatszimmer. Jetzt noch die knarzende Holztreppe in den ersten Stock.

Gleich würde sie mit Professor Schrickelbacher über ihre geplante Masterarbeit reden: ‚Vergleich der ländlichen Hochzeitsbräuche in Irland, Wales und Schottland‘.

Die Worte ihrer Eltern, die sie vor einem Monat in Fellbach besucht hatte, schwangen nach. „Ach Kind“, hatte die Mutter eingewandt, „ins Ausland? Muss das sein?“

Vaters Reaktion war deutlicher ausgefallen. „Irland? Katholisches Gesocks! Sich damit zu befassen, ist Sünde.“

Mia hatte den Eltern widersprechen wollen. Zwecklos. Alles was sie in der Jugendzeit gerne machen wollte, für die Eltern war es Sünde.

Sünde, Sünde, Sünde!

Keine Tanzstunde, kein Kino, kein Theater. Mia schüttelte kurz den Kopf, um die nervigen Gedanken zu verjagen.

Ob Professor Schrickelbacher zufällig wusste, dass sie heute ihren 23. Geburtstag feierte?

Sie wollte an der Tür des Professors anklopfen, da fiel ihr Blick auf das Namensschild.

Nanu? Ein fremder Name! Falsche Tür?

Das Zimmer lag doch am Ende des Ganges! Sie lief hin und her. Aber auch die anderen Türen zeigten nicht das gesuchte Namensschild von Professor Schrickelbacher.

War er umgezogen? Vielleicht weiß die Sekretärin Bescheid.

„Professor Schrickelbacher ist vor einer Woche verstorben. Haben Sie das nicht mitbekommen?“, fragte Frau Blaustein erstaunt. „In seinem Zimmer hat sich bereits die Nachfolgerin niedergelassen.“

Schnell die Treppe hoch. Tatsächlich. Ein überlanges Namensschild prangte neben der Tür. Mia las den Namen unterhalb der Fakultäts- und Institutsbezeichnung.

Prof. Dr. phil. Dr. rer. cult. Dr. disc. pol. Jacqueline Wackernagel-Dümperling.

„Huch“, entfuhr es Mia. Die JWD, die seitenweise in der einschlägigen Literatur zitiert wurde? Lehrte die nicht Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt? Na ja, dann auf in die Höhle der Löwin.

„Guten Tag, Frau Professor“, grüßte Mia mit zurückhaltender Stimme, „mein Name ist ...“

„Ich weiß, wer Sie sind, Frau Licht,“ unterbrach sie die Professorin, „setzen Sie sich. Ich habe Schrickelbachers Akten studiert und Ihr Schreiben gelesen. Sie wollten bei Schrickelbacher ihre Masterarbeit schreiben.“

„Ja, und zwar zum Thema ...“

„Unterbrechen Sie mich nicht dauernd. Ihr Thema interessiert mich nicht. Im Wort Masterarbeit steckt das Wort Arbeit, nicht das Wort Wunschkonzert.“

Die Professorin blätterte in einem Stapel Papier. Mia musterte sie. Sie war hochgewachsen, das erkannte man bereits am Sitzen. Aufrecht und stocksteif saß sie hinter dem altertümlichen Schreibtisch. Ihre giftblonden Haare, die bis zur Schulter reichten, waren mit gallig-grünen Strähnen durchsetzt. Ihre dünnen Finger ragten wie eine Gartenharke über den vor ihr liegenden Ordner. Die überlangen violettglitzernden Nägel schienen waffenscheinpflichtig zu sein. Drei Ringe zählte Mia an jeder Hand: an Daumen, Zeigefinger und Ringfinger. Grässliche Klunkerbrocken. Um den Hals trug sie eine Kette mit verschiedenen Steinkugeln. Auf dem schwarzen Brillengestell waren die rubinrot funkelnden Steine nicht zu übersehen. „Widerliche aufgetakelte Person“, dachte Mia.

Mit eingesunkenem Oberkörper senkte Mia nachdenklich den Blick. Ihre Hände drückten in Gebetshaltung aneinander. Gut, ihr dunkelgrauer Rock, die hechtgraue Bluse, ihre schwarze ärmellose Weste – der letzte Schrei war das nicht. Jedoch angenehm zu tragen und pflegeleicht. Zugegeben: Der Blick in einen großen Spiegel vor Tagen hatte die heilige Kümmernis gezeigt. Ganz auf Moll gestimmt. Trotzdem: Schmuck, Schminke, teure Kleider? Unnötig wie Zwiebelringe auf dem Erdbeermarmeladebrot. Nägel anschmieren? Wozu? Alles rausgeworfenes Geld.

„Frau Licht, Sie bekommen von mir ein neues Thema.“

„Und falls mir die Aufgabenstellung nicht zusagen sollte?“, wagte Mia einzuwenden.

„Wie bitte?“, antwortete die Professorin, steigerte den Tonfall bis zur nächsthöheren Oktave. „Ich höre wohl nicht recht. Heerscharen von Studierenden würden sich glücklich schätzen, wenn sie bei mir ihre Abschlussarbeit machen könnten. Wer bei mir die Masterarbeit machen darf, ich betone, darf, kann anschließend bei mir promovieren. Karriereweg vorprogrammiert. Sie wollen doch weiterkommen, oder?“

„Na ja, schon ...“

„Ihr neues Thema ist: ‚Regionale Symbole und Volksmythen am Beispiel der Stadt Fellbach unter besonderer Berücksichtigung der Wechselwirkungen von Mehrheit und Minderheit im schwäbisch-kleinstädtischen Milieu‘.“

„Also, Frau Professor, mh, ich meine, dass ...“

„Meinungen gehören in eine Psychoselbsthilfegruppe.“

„Also, vielleicht, ich glaube, dass ...“

„Glauben gehört in die Kirche.“

„Also, Frau Professor, ich habe das Gefühl ...“

„Gefühle gehören ins Schlafzimmer. Und jetzt unterbrechen Sie nicht dauernd, wenn ich spreche. Sie sind in Fellbach aufgewachsen. Damit haben sie einen absoluten Standortvorteil. Zudem hat Ihre Familie ein Privatarchiv, das sie nutzen können.“

„Privatarchiv? Nicht dass ich wüsste.“

„Forschen Sie mal danach!“

Mia überlegte, kam aber zu keinem Ergebnis. Archiv? Nie gehört.

„Also, Symbole sind nicht so sehr mein Thema, ich ...“

„Jetzt halten Sie mal die Luft an mit Ihrem ewigen also, also, also. Einen Eiertanz führen Sie hier auf! Sie wollen mir doch nicht mit Killerphrasen kommen?! Wir arbeiten hier sachlich und wissenschaftlich!“

Mia schluckte, presste die Lippen zusammen. Sollte sie jetzt gleich dieser Professorentante Contra geben? Von wegen sachlich. Ihr Herz schlug bis zum Hals.

Die Professorin musterte sie mit einem durchdringenden Blick von oben nach unten. Sie stemmte ihre Hände in die Hüften. Ihre Augen verengten sich.

„Also, also, also. Sie winden sich wie eine Spinne auf einem brennenden Holzscheit. Aber ich sage Ihnen eins: Es wird Ihr Thema! Nur Ihres!“ Die Professorin schob ihre Oberlippe nach oben. „Sie können die Arbeit auch ablehnen. Das steht Ihnen selbstverständlich frei. Allerdings wüsste ich nicht, wo Sie dann Ihren Abschluss machen werden. Hier jedenfalls nicht, und auch nicht sonst wo in Deutschland. Dann können Sie bis ans Ende der Welt gehen, selbst in Neuseeland habe ich meine Beziehungen. Sie werden mich doch sicherlich nicht verärgern wollen, oder?“

„Nein, nein, natürlich nicht.“

Mia wackelte auf dem Stuhl hin und her. Sie wollte versöhnlich lächeln, aber die Mundwinkel schienen nur mühsam den Weg nach oben zu finden. „Das Thema ist sicherlich nicht uninteressant. Ich werde mich bemühen.“

Die Augen der Professorin Dr. Dr. Dr. Jacqueline Wackernagel-Dümperling leuchteten auf. „Na also, geht doch!“

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Zu Besuch bei den Eltern in Fellbach

Die Eltern hatten Mia eingeladen, um mit ihr ihren Geburtstag nachträglich mit einem Mittagessen festlich zu begehen. Bei diesem selten gewordenen sonntäglichen Besuch schreckte die Mutter kurz auf.

„Ja, Mia! Jetzt hätte ich dich fast nicht erkannt. Was ist denn mit dir passiert? Wo sind denn deine Haare geblieben? Und was hast du denn für komische Kleider an? Trägt man das jetzt in Tübingen?“

Der Vater musterte sie mit großen Augen von Kopf bis Fuß. „Bist wohl mit einer elektrischen Heckenschere frisiert worden. Wie kann ein Mädchen so in der Öffentlichkeit herumlaufen. In solchen Faschingskleidern! Und diese Quadratlatschen erst. Damit kannst du im Hochsommer Waldbrände austreten. Mit so einem Auftreten findest du dein Lebtag keinen anständigen Mann. Wer will schon so eine Trullaschachtel?“

„Aber Gottlieb“, beschwichtige Mutter, „so schlimm ist es doch auch nicht. Mia, erzähl, was macht dein Studium? Wie lange dauert es denn noch, bis du fertig bist? Und weißt du schon, wo du hinterher arbeiten kannst?“

„Das weiß ich noch nicht“, antwortete Mia.

„Mit der Scheiß Volkskunde ist kein Blumentopf zu gewinnen“, maulte Vater dazwischen, „brotlose Kunst. Habe ich doch von Anfang an gesagt. Reine Zeitvergeudung. Hinterher darf die arbeitende Bevölkerung wieder für diese Nichtsnutzakademiker aufkommen.“

„Es heißt schon lange nicht mehr Volkskunde, sondern Empirische Kulturwissenschaft.“

„Empirisch, empirisch“, Vater steigerte seine Lautstärke, „geschraubtes Universitätsgequatsche. Empirisch, klingt nach Ebbiara.“

„Nein Vater“, erwiderte Mia geduldig, „keine Kartoffeln. Ich studiere keine Landwirtschaft.“

„Sowieso Unsinn, dass du überhaupt studierst“, ereiferte er sich.

Mutter legte ihre Hand auf dessen Unterarm. „Aber Gottlieb, lass doch das Kind. Es wird sicherlich etwas Gutes herauskommen, gell Mia.“

Kurz erzählte Mia von der geplanten Abschlussarbeit.

„Ich richte gleich dein Zimmer her“, rief Mutter freudig. „Jetzt wo dir deine Professorin ein Thema zu Fellbach gegeben hat. Das ist doch wirklich nett von ihr, dass sie dir so einen Gefallen tut.“

Mia bemühte sich, keine Miene zu verziehen. Sie schaute vom Mittagstisch im Zimmer umher. Alles wie früher. An der Wand hing die leicht vergilbte Zeichnung mit einem Abbild der Fünf Brüder. Einer der Frommen kam aus Fellbach. Könnte sie dessen Lehren in ihre Masterarbeit einfließen lassen? Symbol der Frömmigkeit?

Daneben eine Farblithografie aus dem 19. Jahrhundert mit dem Motiv der Zwei Wege. Sinnbild für gottgefälliges Leben und Handeln? Mia notierte sich Stichworte in ihr immer griffbereites kleines Notizbuch.

„Meine Professorin meinte, dass wir ein familiäres Privatarchiv hätten, das ich nutzen könnte.“

„Unsinn! Es gibt kein Privatarchiv!“ Der Kopf von Mias Vater lief blutrot an.

„Wie kommt dann meine Professorin darauf?“

„Das weiß ich doch nicht!“, schrie er in einer Lautstärke, die an einen Lastwagen voll Schweine beim Entladen vor dem Schlachthof erinnerte.

„Aber Gottlieb“, versuchte Mutter zu besänftigen, „es ist doch nur das alte Schriftzeugs, das deine Schwester Magdalena entdeckt hatte.“

Der Vater verschränkte die Arme. Die Lippen bebten, Speichel rann aus einem Mundwinkel. „Sie hat nichts entdeckt, hörst du, nichts! Sie ist nur wahnsinnig geworden! Eine gerechte Strafe Gottes für ihre Neugier. Sie steckt nicht umsonst in der Irrenanstalt. Zuerst Winnenden, jetzt in dieser komischen Anstalt im schwäbischen Wald. Wie heißt dieses Kaff nochmal?“

„Wie bitte? Anstalt?“, Mia verschlug es kurz die Sprache. „Ihr habt mir vor sieben Jahren oder so gesagt, die Tante Magdalena sei gestorben. Jetzt erfahre ich, dass sie lebt? In einer Anstalt?“

„Hanna, ich habe dir schon tausendmal gesagt, du sollst dein loses Mundwerk halten. Nicht umsonst sagt der Apostel Paulus, dass die Weiber in der Gemeinde schweigen sollen. Erinnere dich an 1. Korinther 14, über den ich in der vorletzten Stund gesprochen habe: Wie es bei allen christlichen Gemeinden üblich ist, sollen die Frauen in euren Versammlungen schweigen. Sie sollen nicht reden, sondern sich unterordnen, wie es auch das Gesetz vorschreibt. Wenn sie etwas genauer wissen wollen, sollen sie zu Hause ihren Ehemann fragen.

„Aber Vater“, hakte Mia nach, „warum soll ich nichts vom Schicksal der Tante wissen? Nach ihrem angeblichen Tod hat mir Mutter noch ein postkartengroßes Foto von der Tante Magdalena gegeben. Mit einem schwarzen Rahmen. Als Andenken!“ Mia erinnerte sich: „Die Tante war mit ihrem schwarzen Schleier abgelichtet. Den trug sie doch immer, wenn sie in die Kirche oder in die Stund ging.“

„Ja, ihr Netzle“, bemerkte der Vater, „aus schwarzem Tüll. Wie es die Heilige Schrift in Korinther 7 und 11 sagt, muss das Weib ihr Haupt bedecken. Im Gegensatz zum Mann, sagt die Schrift: denn der Mann ist das Abbild Gottes und spiegelt die Herrlichkeit Gottes wider. In der Frau spiegelt sich nur die Würde des Mannes.

„Aber warum habt ihr mir erzählt, die Tante sei gestorben?“

„Jetzt sei endlich still. Die Magdalena ist für uns gestorben. Steck deine Nase nicht in Dinge, die dich nichts angehen. Sonst wird es dir ergehen wie ihr. Gott straft alle, die seine Gebote nicht befolgen.“

„Aber Gottlieb, Mia macht doch gar nichts.“

„Mein ist die Rache, spricht der HERR.“

Mia schaute auf die Uhr. „Zwei Uhr vorbei. Jetzt muss ich aber meine Beine unter den Arm nehmen, damit ich den Zug noch erwische.“

„Wie jetzt?“, Mutter blickte sie vorwurfsvoll an, „gehst du nicht mit in die Stund um drei Uhr? Wenn du schon mal da bist, dann könntest du doch mitgehen.“

„Heute“, ergänzte der Vater, „lese ich den Bibeltext bei Frommes Leben, weil der Bruder Erdmann bei einer Hochzeit im Remstal ist. Ich rede über Lukas 19,27: Nun aber zu meinen Feinden, die mich nicht als König haben wollten! Bringt sie her und macht sie vor meinen Augen nieder!

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Bei der Tante

„Sie sind jetzt die Erste, die unsere Magdalena besucht“, beteuerte die Frau in dem grauen Schwesterngewand in einer Mischung aus Bedauern und freudiger Überraschung.

„Ich habe leider erst jetzt erfahren“, erwiderte Mia, „dass meine Tante hier im Schwäbischen Wald ist. Wie geht es ihr denn?“

„Nun“, sagte die Schwester, „sie kann nicht sprechen, jemand hat ihr die Zunge abgeschnitten. Keiner weiß, was damals genau passiert ist. Ihre Finger waren auch alle zerquetscht, ein Auge eingeschlagen. Man hat sie unterkühlt in einem Wald bei Stuttgart gefunden. Rettung in letzter Minute. Ein Wunder, dass sie überlebt hat. Die Polizei hat den Fall nie klären können.“

Die Beiden spazierten aus dem Eingangsbereich über eine Parkanlage hin zu einer kreisförmig angeordneten Häusergruppe. Mia gefiel die Umgebung, sie sah nicht nach Heim oder Anstalt aus. Mächtige alte Bäume waren jetzt in der dritten Oktoberwoche mit buntem Blätterwerk geschmückt. Darunter standen Bänke, an denen einige Leute saßen. Beim Vorübergehen winkten sie den Beiden zu.

„Hallo, Magdalena, wir haben Besuch.“

Die Angesprochene stand regungslos am vergitterten Fenster ihres Zimmers. Die Schwester legte die Hand sacht auf die Schulter der Frau. Jetzt drehte sie sich herum, fixierte die Schwester und Mia.

„Guten Tag Tante Magdalena, kennst du mich noch? Ich bin Mia, deine Nichte. Schau, die Blumen sind für dich!“

Die Schwester nahm ihr den Blumenstrauß ab, holte aus dem Flur eine metallene Vase.

Die Tante starrte Mia an, verzog keine Miene.

„Ich bin Mia, die Tochter von deinem Bruder Gottlieb.“

Die Frau gab einen Brummlaut von sich. Sie rannte in die andere Zimmerseite zu ihrem Bett, legte sich hinein und zog die Bettdecke über beide Ohren.

„Jetzt haben Sie Ihre Tante ein wenig verschreckt. Nehmen Sie es nicht persönlich. Unsere Kranken reagieren manchmal etwas ungewöhnlich. Leider kann Magdalena nicht sprechen. Seit einigen Monaten malt sie Zeichnungen, um sich auszudrücken. Sie lässt sich einen dicken Bleistift an ihre Hand binden. Wir wissen jedoch nicht, was sie uns mit den Kritzeleien mitteilen möchte.“

Mia wurde hellhörig ob dieser Kommunikationsversuche der Tante.

„Haben Sie die Bilder aufgehoben?“

„Ja, sie sind alle noch da. Viele sind es nicht, fünf oder sechs. Sie freut sich jedes Mal, wenn wir eine neu gemalte Zeichnung in das Fach ihres Schrankes zu den anderen legen. Da steht sie daneben und wackelt freudig mit dem Kopf. Manchmal hüpft sie auch ein wenig herum – soweit das Wort hüpfen für ihr Alter noch passend ist.“

„Wäre es freundlicherweise möglich“, fragte Mia, „die Bilder anzuschauen?“

„Wird bestimmt gehen“, sagte die Schwester. „Gell Magdalena, da haben wir doch nichts dagegen?“

Keine Antwort. Die Schwester gab sich damit zufrieden. Aus dem Schrankfach entnahm sie die Blätter und breitete sie auf dem Tisch aus.

Mia zog aus der Jackentasche ihre kleine Digitalkamera hervor, ihr stetiger Begleiter. „Ich fotografiere sie. Als Andenken.“

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Erste Spuren

In ihrem Zimmer in Tübingen angekommen, lud Mia die Fotos vom Besuch der Tante auf ihren Laptop.

Die erste Zeichnung zeigte ein Wappen mit drei gleichen Symbolen. Das Stadtwappen von Fellbach? Sah genau so aus. Auf der zweiten Zeichnung eines der Symbole herumgedreht, diesmal mit der Öse nach oben.

Bei der dritten Zeichnung gingen von der Öse aus viele ineinander verschlungene Kreise nach oben. Eine Kette?

Was hatte es zu bedeuten?

Die nächste Abbildung zeigte ein Zimmer. Ein Tisch in der Mitte, viele Rechtecke, die aussahen wie Bücher. Links eine schräge Wand. Ein Dachzimmer?

Das Gekritzel auf dem fünften Blatt erinnerte mit viel Fantasie an ein aufgeschlagenes Buch. Auf einer Buchseite erneut die Wappen-Abbildung.

Drei Gebilde auf der letzten Zeichnung. In der Mitte ein Kreis, links eine Art Mondsichel mit der Öffnung nach links, rechts das Spiegelbild davon.

Mia konnte sich keinen Reim darauf machen.

Nur belanglose Krakeleien?