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Wolfszauber

Die Legende lebt

Petra Schmidt

Zielscheibe

       Für meine Mutsch.
     Durch dich lernte ich meine Liebe zu Tieren kennen.
     Und, dass das Fleisch auf dem Teller
     nicht im Kühlregal wächst.


Machandel Verlag

Charlotte Erpenbeck

Coverquellen: Karl Umbriaco / Olena Zascochenko / Vitak Horzhevska / www.shutterstock. com

Background: morguefiles. com

Illustrationen: Iacov Filimonov / Bildagentur Zoonar / Jeff Banke / Eric Isselee / www.shutterstock.com

2016

ISBN  978-3-95959-017-4

 


Nachwort

Das Thema Wölfe beschäftigt unsere Gesellschaft in den letzten Jahren wieder mehr und mehr. Ich persönlich finde es wunderbar, dass die Wölfe und auch die Luchse bei uns wieder heimisch werden.

Leider gibt es sehr viele Leute, die das anders sehen und diese wunderbaren Tier abschlachten und zum Abschuss freigeben möchten. Oder einfach nur Spaß daran haben, sinnfrei auf Tiere zu schießen.

Zum Glück gibt es Menschen, die sich um den Bestand und das Wohlergehen der bedrohten Tiere kümmern und nicht nur um sie.

Vieles nachzulesen gibt es auf den Internetseiten des NaBu. Doch die besten Informationen zum Verhalten der Wölfe bekam ich über das „Wolfsbüro in der Lausitz“.


- www.wolfsregion-lausitz.de -


Mein Dank geht hier an Frau Vanessa Ludwig. Von ihr bekam ich viele Informationen und entsprechendes Material, was ich für die Geschichte meines „Silberwolf“ nutzen konnte.

Man darf nicht vergessen, mein Buch ist vor allem eine Fantasy-Geschichte. Wenn ich mich an die Realität gehalten habe, dann meist nur im direkten Bezug zum Verhalten der Wölfe.

Die Handlungen und Personen der Geschichte sind frei erfunden.

Über die Autorin

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Petra Schmidt

Ich bin 1963 in Leipzig geboren, verheiratet und habe eine Tochter. Heute lebe ich zusammen mit meinem Mann in Erding.

Schon als junges Mädchen war ich lesebegeistert und voll eigener Geschichten, die geschrieben werden wollten.

Nach der Ausbildung zur Tierwirtin holte das reale Leben mich und meine Fantasy ein. Seit ein paar Jahren ist sie und die Lust am Geschichten erzählen wieder da.

Neben dem Schreiben ist meine zweite Leidenschaft – das Lesen – zum Beruf geworden.


weitere Infos unter: www.petrasseiten.com


Silberwolf-cover

Der erste Band

„Silberwolf“

ist als Taschenbuch (158 Seiten)

und als Ebook erhältlich.




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www.machandel-verlag.de

Danksagung


Warum noch einen „Silberwolf“?

Meine Schwägerin Elke hat, wie beim ersten Mal, wieder „Schuld“.

Kaum hatte sie das Manuskript gelesen, fragte sie: „Und? Wie geht es weiter?“ Kurze Zeit später schickte sie mir Zeitungsartikel, in denen von dem bestialischen Mord an einem Wolf und dem Abschuss eines anderen berichtet wurde. Mein Kopfkino ging an und die Geschichte wollte geschrieben werden.

Jene Geschichte, die einige Zeit später bei meinen Beta-Lesern aus dem Tintenzirkel landete.

 

Vielen Dank an Nathalie Androsch, Astrid Freese, Suzan Imhoff und Jasmin Pitterle.

Vielen Dank an meine Freundin Erika. Sie feilte nicht nur so manche scharfe Kante etwas weicher und den Text damit lesbarer. Sie war immer dann da, wenn die Muse weg war.

Vielen Dank an meine Tochter Claudia, die mit ihrer Begeisterung nicht nur ihre Freunde ansteckt.

Ein besonderer Dank gilt meinem Mann Jürgen, der mich immer und überall unterstützt. Danke, mein Schatz!

Und natürlich meine Verlegerin. Danke, Charlotte, dass du dem „Silberwolf“ ein Zuhause gibst.


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Kapitel 1

Achim Lauther betrachtete nachdenklich die Dokumente, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen. Dann hob er den Kopf und blickte seinem Besucher, der vor dem Schreibtisch Platz genommen hatte, direkt in die Augen.

„Und Sie sind ganz sicher?‟ Er wusste, seine Frage war eigentlich überflüssig. Seine Behörde in der SMUL – dem sächsische Staatsministerium für Umwelt und Landwirtschaft – arbeitete schon lange mit dem NABU zusammen. Bisher konnten sich beide Seiten stets aufeinander verlassen.

Jochen Keuper seufzte.

„Ich wünschte, ich wäre es nicht. Aber das ist tatsächlich schon der zweite Jungwolf, der innerhalb von nur vier Wochen aus dem gleichen Rudel spurlos verschwunden ist.‟

„Und er könnte nicht einfach weggewandert sein?‟

Der Mitarbeiter des Naturschutzbundes sah ihn an, als ob er an seinem Verstand zweifelte. „In dem Alter? Da bleiben die Jungwölfe doch noch mindestens eine ganze Saison bei ihren Eltern! Nein, ausgeschlossen. Irgendetwas ist da oberfaul.‟

„Na gut.‟ Herr Lauther schob ein paar Papiere zur Seite. „Wir werden uns umgehend um diese Angelegenheit kümmern.‟

Er hatte auch schon den passenden Mitarbeiter für diese Aufgabe im Sinn.

***

„He, Safian! Das macht keinen Spaß mehr. Komm bitte raus, du hast gewonnen!“

Ein triumphierendes Lächeln überzog Safians Gesicht, als er seine kleine Schwester rufen hörte. War doch klar, dass sie ihn nicht finden konnte, dazu war er viel zu schlau.

„Okay, ich komme“, rief er, um gleich wieder zu fordern: „Aber nur, wenn du nochmal suchst!“

„Mach ich.“ Safian wusste, wie er seine jüngere Schwester dazu bringen konnte, weiter nach ihm zu suchen. Verstecken spielen war sein Lieblingsspiel und er war richtig gut darin. Das bestätigte ihm Sabrina auch mit ihren nächsten Worten. „Du gewinnst doch sowieso immer. Mach es mir doch nicht so schwer.“ Während Sabrina nach ihrem Bruder gerufen hatte, war sie weitergelaufen. Vielleicht ahnte sie, dass Safian irgendwo in der Nähe sein musste, das half ihr aber auch nicht weiter.

„Also gut.“ Kaum hatte Safian das gesagt, tauchte er auch schon wie ein Kastenteufel direkt vor seiner Schwester auf. Er hatte die ganze Zeit mitten in einem Laubhaufen auf sie gewartet.

Erschrocken sprang Sabrina ein Stück zurück. „Bist du doof? Von Erschrecken hat keiner was gesagt.“

„Ich hab doch nur …“ Safian sprach nicht weiter. Seine Schwester war ganz weiß im Gesicht und Tränen standen in ihren Augen. „Das wollte ich nicht.“ Bestürzt lief Safian zu ihr und nahm sie in die Arme. Er spürte, wie sie zitterte. „Ich mach das nicht wieder, versprochen. Bitte, nicht mehr weinen. Du darfst dich auch als Nächste verstecken.“

Ein paarmal schniefte Sabrina noch an seiner Brust, danach ging es ihr besser. Ein wenig genossen beide die Umarmung noch, auch wenn Sabrinas Tränen schon längst nicht mehr liefen. Safian kuschelte nicht mehr so viel mit ihr, seit er in die Schule ging.

„Und? Wieder besser?“ Vorsichtig schob Safian seine Schwester von sich, nachdem er ihr Nicken gespürt hatte. Ihre Augen waren noch ein wenig rot vom Weinen, doch sie strahlte ihn bereits wieder voller Zuneigung und Vertrauen an. Ein warmes Gefühl durchströmte ihn, und er drückte Sabrina noch einmal kurz an sich.

„Irgendwie habe ich jetzt keine Lust mehr auf Verstecken. Du?“

„Nö, nicht wirklich.“ Safian sah den kritischen Blick, mit dem er von seiner Schwester von oben bis unten gemustert wurde. Er spürte das Laub, welches ihm in den Haaren und der Kleidung hing, wie es ihn überall piekte und juckte. Er kannte seine Schwester. Die machte sich nicht gern schmutzig, erst recht nicht, wenn sie was Neues anhatte, wie ihr Shirt mit dem Wolf drauf. „Und nun?“, hörte er ihre Frage.

Zur Antwort bückte Safian sich, griff in den Laubhaufen vor sich und tat so, als wolle er seine Schwester mit den schmutzigen Blättern bewerfen. Die drehte sich quiekend herum und rannte davon. Safian lief ihr rufend und lachend hinterher. Er hatte das Laub wieder fallen lassen, so lief es sich leichter. Egal, wie viel Mühe sich seine Schwester gab, Safian war schneller als sie und hatte sie bald eingeholt. Mit einem sanften Schlag auf den Rücken tippte er sie an. „Du bist dran!“, dann rannte er auch schon an ihr vorbei.

„Heee …“ Lachend rannte sie ihm hinterher. Safian lief absichtlich etwas langsamer, damit sie aufholen konnte und die Lust an dem Fangespiel nicht verlor. Doch immer kurz bevor sie ihn berühren konnte, machte er zwei, drei schnellere Schritte, und Sabrina schlug ins Leere. Das ging eine Weile so, bis beide erschöpft ins weiche Gras fielen.

„Ich habe Durst“, stellte Sabrina fest.

„Hm, ich auch“, stimmte Safian ihr zu. „Tante Martina hat bestimmt noch etwas von dem leckeren Erdbeersaft da.“

„Oh ja, Erdbeersaft!“ Sabrina war so schnell aufgesprungen und losgerannt, dass sie ihren Bruder damit völlig überraschte. Der hatte jetzt tatsächlich Mühe, seine kleine Schwester wieder einzuholen.

Zurück ging es, über die Wiesen und Felder, durch den Wald und dann hinunter zum Bach, wo sie am Nachmittag zu spielen angefangen hatten und von wo aus sie auch schon das Haus und den großen Garten von Tante Martina sehen konnten.

Die Holzbrücke, die über den Bach führte, war normalerweise ein beliebter Beobachtungsplatz der beiden.

Doch kaum hatte Sabrina den Fuß auf die kleine Brücke gesetzt, kreischte sie entsetzt auf und kam schlitternd zum Stehen. Safian lief halb verärgert, halb neugierig zu ihr. Im klaren Wasser zu Sabrinas Füßen trieb etwas, das wie ein zusammengedrücktes Fellbündel aussah. Safian griff sich einen Zweig und stupste das Knäuel an, damit es sich drehte. Und dann schrie auch er. Laut genug, dass ihre Eltern und Tante Martina aus dem Haus herausstürzten und zu ihnen eilten.

***

Ich saß draußen im Garten und versuchte, für meine letzte Prüfung zu lernen. Ausgerechnet Chemie, das war nicht wirklich meine Stärke. Es war herrlich heute und eigentlich viel zu schön, um zu lernen. Ich lehnte mich zurück, schloss die Lider und ließ meine Gedanken treiben, weit weg von Säuren und Basen, Oxidation und Reduktion.

Ein summendes Geräusch weckte mich. Ich schrak hoch und sah direkt vor meiner Nase eine neugierige Biene, die sofort verschwand, nachdem sie mich geweckt hatte. War ich doch tatsächlich eingeschlafen. Mist! So bekam ich das Chemiezeug ganz sicher nicht in meinen Kopf.

Zum Glück hatte ich einen guten Freund, Max, der darin ein Ass war und der versprochen hatte, mir zu helfen.

Im letzten Jahr waren wir beide fast unzertrennlich gewesen. Wir hatten viele gemeinsame Interessen. Dass er mich auch noch in meinen Hassfächern unterstützen konnte, war ein hochwillkommener Bonus. Max war wirklich unbezahlbar. Dank ihm hatte ich nicht nur jemanden, der mir jeden Gefallen tat, er sorgte auch dafür, dass ich meine Ruhe vor allzu aufdringlichen Verehrern hatte. Wir halfen uns gegenseitig, waren die besten Freunde, die man sich nur wünschen konnte. Ich musste nicht einmal Angst haben, dass Max irgendwann mehr wollte als nur meine Freundschaft. Seine Interessen galten nicht den Mädchen, er mochte lieber Jungs. Außer mir wusste das allerdings kaum jemand. Max hielt sich auch sehr zurück, er hatte keine Lust auf Spott oder andere „Nettigkeiten“ seiner Mitmenschen.

Wie seine Familie reagieren würde, wenn sie es erfuhr, davor hatte Max die größte Angst. Verständlich. Ich hatte seinen Vater und Großvater kennenlernen dürfen. Die waren so was von vorgestern, das konnte man kaum glauben.

Lange, bevor Max den Schatten des Waldes verlassen hatte, hörte ich schon das vertraute Klappern seines Fahrrads.

Ich stand auf, wollte ihm ein Stück entgegen gehen und bei der Gelegenheit gleich meine Beine etwas vertreten. Es war nicht nur die Lernerei. Bei Großmutters Kochkünsten war man gut beraten, jeden zusätzlichen Meter für Bewegung zu nutzen. Ich war fast schon froh, dass sie heute Nachmittag nicht im Haus war. Sie hätte gleich wieder versucht, Max mit irgendwelchen Leckerbissen vollzustopfen. Und Max hätte natürlich genauso wenig wie ich widerstehen können. Außerdem hätte er sich im Gegenzug ganz sicher verpflichtet gefühlt, mit ihr erst einmal etwas Konversation zu machen. So aber hatte ich ihn ganz für mich. Wir würden sofort ungestört mit dem Lernen anfangen können.

Schon an der Art, wie Max von seinem Fahrrad stieg, konnte ich sehen, dass etwas nicht stimmte. Mit grimmigem Gesicht verfrachtete er sein Rad an den Gartenzaun. Normalerweise hatte der Rotschopf immer ein freches Grinsen im Gesicht, was so richtig zu ihm passte, weil er wie sein Farb-Vetter, der Pumuckl, immer nur Unsinn im Kopf zu haben schien. Heute allerdings war ihm anscheinend nicht nur eine Laus, sondern gleich eine ganze Familie Läuse über die Leber gelaufen.

„He, was ist los?“, begrüßte ich ihn.

„Frag lieber nicht!“ Max blieb kurz hinter dem Gartentor stehen, schloss die Augen und atmete tief durch. Als er seine Augen wieder öffnete, schien er sich gefangen zu haben. Er lächelte mich etwas verlegen an und kam mit großen Schritten auf mich zu. „Entschuldige. Aber mein alter Herr macht mir wieder einmal Druck wegen meiner Ausbildung. Der kann es einfach nicht akzeptieren, dass ich nicht seinen und Großvaters Weg gehen will.“

„Komm erst einmal mit rein“, versuchte ich Max ein wenig zu beruhigen. Ich kannte sein Problem und verstand ihn nur zu gut. Sein Vater und sein Großvater wollten, dass er den Hof und die Ländereien übernahm. So, wie es seit ewigen Jahren bei ihnen Familientradition war. Dafür musste Max die entsprechende Ausbildung absolvieren, was er auch durchaus wollte. Vater und Sohn waren dabei allerdings ganz unterschiedlicher Meinung über die Methode. Der Vater wollte Max mit Geld und seinen Beziehungen zu seinem Abschluss verhelfen, ohne dass der viel dazu beitragen musste. Max wollte das nicht. Er hielt es für sinnvoller, den Beruf des Fachagrarwirtes so von der Pike auf zu lernen, wie es jeder andere auch lernen musste. Es störte ihn extrem, dass sein Vater seinen Willen nicht akzeptierte und ihn immer noch herumkommandierte, obwohl er mit seinen achtzehn Jahren doch schon längst erwachsen war. Die väterlichen Argumente staubten uns beiden schon buchstäblich aus den Ohren wieder heraus. Max sollte es „einfacher“ haben. Seine eigene Meinung? Unwichtig. Max‘ Vater wusste es sowieso besser. Immer die gleiche Leier. Das schien es wohl auch heute wieder gewesen zu sein, was Max dermaßen in Rage gebracht hatte.

Ich lotste ihn an den Küchentisch und drückte ihm ein Glas Saft in die Hand. „Trink einen Schluck, und dann erzähl, womit dein Vater dich wieder geärgert hat.“

„Danke, Jasmin. Du glaubst nicht, wie verbohrt der ist!“

Nachdem er das Glas geleert hatte, erzählte mir Max, was ihn so aufgebracht hatte. „Du kennst doch Jens, unseren Vorarbeiter. Vater hielt die ganze Zeit große Stücke auf ihn. Er vertraute Jens und ließ ihm bei der Arbeit freie Hand. Seitdem Vater und ich unseren Streit wegen der Ausbildung haben, ist Jens bei ihm angeeckt, denn Jens vertritt die gleichen Ansichten wie ich. Nämlich, dass eine ordentliche Ausbildung nötig ist, und dass man dazu die Grundlagen richtig lernen muss, wenn man heutzutage etwas erreichen will. Vaters Tiraden kennst du ja: Unser Name öffnet alle Türen. Mit Geld bezahlt man die Menschen, die das tun, was man ihnen sagt. Und für alles andere brauchst du nur noch gute Beziehungen. Wie mich das ankotzt!“

Max haute mit seiner Faust auf den Tisch.

Ich sagte nichts, augenscheinlich war er noch nicht fertig mit schimpfen.

„Vater will mich einfach nicht weglassen. Du weißt, dass ich nicht hierbleiben kann, wenn ich Agrarwirt lernen will. Der Lehrvertrag ist unterschrieben, aber Vater verweigert mir jede Hilfe. Bisher hat mich Jens immer unterstützt. Das kann ich jetzt vergessen. Vater hat ihn rausgeschmissen! Einfach so. Als ich ihn vorhin nach dem Grund fragte, brüllte Vater mich nur an, dass es mich nichts anginge und ich gefälligst einen Bogen um den Kerl zu machen habe. Wenn nicht, würde ich mein blaues Wunder erleben. So habe ich den Alten noch nie erlebt.“

Max machte eine kurze Pause, schien in sich hineinzuhorchen. „Jens ist verschwunden. Er geht auch nicht an sein Telefon.“

Die letzten Worte verstand ich kaum, so leise hatte Max zum Schluss gesprochen.

„Vielleicht muss Jens selbst erst einmal mit der Kündigung klarkommen, bevor er darüber sprechen will“, versuchte ich eine Erklärung zu finden. „Gib ihm ein wenig Zeit.“

„Du hast leicht reden. Dir schreibt niemand vor, wie du zu leben hast. Jens war der einzige Vertraute, den ich hatte. Und er war nicht einfach nur mein bester Freund.“ Max sah mich traurig an, bevor er weitersprach. „Ich liebe ihn, Jasmin. Und dass er für mich nicht mehr da sein soll, das kann und will ich nicht akzeptieren.“

Jetzt verstand ich allerdings seinen Zorn.

„Weiß Jens denn, dass du …?“

„Nein“, seufzte Max. „Ich habe versucht, ihm gegenüber möglichst neutral zu bleiben. Er weiß, dass ich ihn mag, aber nur als guten Freund. Ich wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen und ihn dazu bringen, mich zu meiden, aus Angst, ich könnte ihn angraben.“ Sein schiefes Grinsen wirkte eher kläglich als lustig.

„Meinst du wirklich, er würde so reagieren? Das glaub ich nicht.“

„Ich eigentlich auch nicht. Trotzdem wollte ich es nicht darauf ankommen lassen. Verstehst du?“

„Hm, schon." Ich überlegte kurz, wie ich ihm helfen konnte. „Weißt du, was ich denke? Jens wird wütend sein und enttäuscht. Das will er sicher nicht an dir auslassen. Deswegen geht er nicht ans Telefon.“

„Möglich.“

„Jetzt hab ich noch weniger Lust, Chemie zu büffeln. Lass uns in den Wald gehen, ja?“, bat ich.

„Nichts da. Mir geht es schon wieder besser. Wir können hinterher gern in den Wald gehen, wenn du dann noch magst. Okay?“

„Na gut. Aber versuchen musste ich es wenigstens.“ Damit hatte ich Max dann doch ein kleines Lächeln entlockt.

Es wurden drei lange Stunden, in denen sich Max wieder einmal als Lehrer Gnadenlos entpuppte. Anschließend sagte er, halb im Scherz, wenn ich die Prüfung jetzt noch versauen würde, dann nähme er sich meinen Lehrer vor.

Großmutter war in der Zwischenzeit auch nach Hause gekommen. Sie hatte nur kurz zu uns ins Zimmer geschaut und uns dann in Ruhe lernen lassen. Dafür verwöhnte sie uns anschließend mit einem großen Becher selbst gemachtem Eis.

Mit mir und meiner Welt zufrieden, begleitete ich Max dann noch ein Stück nach Hause. Er schob sein Rad neben mir her und wurde dabei immer langsamer. Fast schien es so, als hätte er keine Lust, überhaupt nach Hause zu fahren. Als ich ihn darauf ansprach, bestätigte er mir meinen Verdacht.

„Dann bleib doch einfach da. Großmutter hat sicher nichts dagegen, wenn du im Gästezimmer schläfst.“

„Nein, lass mal. Ein anderes Mal gern, danke. Heute will ich lieber versuchen, ob ich Jens irgendwie noch erreiche. Ich muss wissen, was da los war.“

Ich verstand Max und wünschte ihm viel Glück dabei.

Nachdem wir uns verabschiedet hatten, ging ich den Weg langsam zurück. Mir blieb noch etwas Zeit bis zum Abendessen und ich wollte ein wenig im Wald bleiben. Bald war ich an meiner Lieblingsstelle angekommen. Eine kleine Lichtung inmitten von hohen Tannen, auf der ein großer Findling und mehrere Tannen drum herum einen natürlichen Unterstand bildeten.

Hierher zog ich mich gern zurück, beobachtete die Vögel oder andere Waldbewohner, hing meinen Gedanken nach und träumte von einem Leben mit den Tieren, am liebsten mit den Wölfen. Auch jetzt musste ich wieder an Schahruhl denken.

Ich setzte mich ins weiche Gras und lehnte meinen Rücken an den noch sonnenwarmen Stein. Kaum hatte ich die Augen geschlossen, spürte ich, wie meine Muskeln sich entspannten. Meine Gedanken wurden träge, mich überfiel eine faule Müdigkeit, verständlich nach der ganzen Büffelei. Ich merkte kaum noch, wie ich in meine Träume davontrieb.

***

Ich erwachte, als etwas Kaltes meine Hand berührte. Langsam öffnete ich die Augen, schloss sie aber sofort wieder.

In meinem Kopf drehte sich alles. Verdammt, was ist das? Ich werde doch wohl nicht etwa krank? Das konnte ich jetzt nicht gebrauchen, vor der letzten Prüfung zu schwächeln. Tief holte ich Atem, zweimal, dreimal, horchte dann in mich hinein. Es schien alles in Ordnung zu sein.

Als ich die Augen wieder öffnete, war alles gut. Kein Schwindelgefühl mehr. Der Wald sah ganz normal aus, die Wiese ebenso, und ich spürte noch immer den Stein im Rücken und fühlte die Wärme. Trotzdem, etwas stimmte hier nicht. Mit gerunzelter Stirn sah ich mich um. Und dann begriff ich, was mich so störte. Es war nicht nur still, es war zu still. Ich hörte nichts, keinen Vogelruf, kein Summen, kein Rascheln. Es herrschte absolute Stille.

Ich bekam eine Gänsehaut und stand rasch auf. Wenigstens hörte ich meine Sachen aneinander reiben. Mit meinen Ohren war also alles in Ordnung. Ich rieb die Hände aneinander. Auch dieses Geräusch hörte ich. Wieso ist es sonst so still? Das ist doch nicht normal! In mir stieg Angst empor. Gerade beschloss ich, so schnell wie möglich nach Hause zu laufen, als ich am Rande der Lichtung eine Bewegung sah.

Jeder Gedanke an Angst verflog. Stattdessen fühlte ich nur noch Freude. Ich hatte Lunare erkannt, den Silberwolf. Es schien schon eine Ewigkeit her zu sein, seit ich ihn zum letzten Mal gehört und gesehen hatte. Dabei hatte ich den legendären Silberwolf erst vor zwei Jahren persönlich kennengelernt und mit ihm und den Wölfen ein Abenteuer erlebt, welches mein ganzes Leben veränderte.

Groß und stolz stand er vor mir. Silberweiß glänzte sein Fell in der Sonne, silbrig auch seine Augen. Wie zwei tiefe Seen kamen sie mir vor, und ich hatte nur noch den Wunsch, mich in ihnen zu verlieren. Erst als der Silberwolf den Kopf etwas senkte, konnte ich wieder klar denken. Gleich darauf hörte ich seine Stimme in meinem Kopf.

„Willkommen in meiner Welt, Jasmin. Es ist gut zu wissen, dass die Wölfe einen großen Platz in deinem Herzen gefunden haben.“ Lunare hielt kurz inne, bevor er weitersprach. „Doch das ist nicht bei allen deinesgleichen so. Unheil macht sich breit und bedroht die Wölfe. Einige Menschen haben vergessen, dass nicht nur sie das Recht haben, die Erde zu bewohnen. Jemand muss dafür sorgen, dass sie sich daran erinnern.“

„Warum greifst du nicht selber ein, wenn du davon weißt?“

„Ein Versprechen bindet mich. Nur die Menschen selbst können an ihrem Verhalten etwas ändern.“ Seine Stimme klang traurig.

„Bist du deswegen so still geworden? Und wieso nimmst du Kontakt zu mir und nicht zu meiner Mum auf? Ich dachte immer, sie ist dir besonders nah.“

„Ihr Menschen seid seltsam, müsst immer alles hinterfragen. Deine Mutter würde daran zerbrechen und wäre nicht mehr die Hilfe, die die Wölfe so nötig haben.“

„Dann sag mir, was ich tun soll. Welche Gefahr bedroht überhaupt die Wölfe?“

„Geh mit offenen Augen durch die Welt und hör gut zu, wenn andere sprechen. Vergiss nicht den Weg, der dich zu mir geführt hat.“

Na toll, was soll ich denn damit?