Impressum
Autor: Ulmer Autoren ’81 e.V.
Titel: Unter weg sein
Kurzgeschichten und Gedichte
Cover: Dietmar H. Herzog
Erscheinungstermin: Oktober 2015
ISBN/EAN: 9783958704107
Alle Rechte vorbehalten.
Rechtschreibung und Schreibweise des Originaltextes wurden behutsam angepasst.
© nexx verlag gmbh, 2015
www.nexx-verlag.de
Liebe Lesende,
kurze Geschichten die viel erzählen, Gedichte die unsere Gefühle ansprechen, Erzählungen die uns mit auf die Reise nehmen. Das vorliegende E-Book zeigt die Vielfalt der Möglichkeiten, sich mit dem Thema »unterwegs sein« zu befassen.
Unterwegs sind die Autorinnen und Autoren mit ihren Texten nicht nur in fernen Ländern wie Griechenland, der Türkei oder Italien, die Reise führt auch immer wieder hinein in das Innere der beschriebenen Figuren. Gereist wird mit Sehnsüchten, Gedanken und Erinnerungen, aber auch mit den verschiedensten Verkehrsmitteln, per Schiff, Auto, Flugzeug und sogar mit dem Heißluftballon. Auf all diesen Reisen sind die Protagonisten der Geschichten nicht nur unterwegs, um unbekannte Länder zu entdecken, sondern vor allem auch, um andere Menschen kennenzulernen, um sich vergangener Erlebnisse zu erinnern oder um bewegende und humorvolle Geschichten zu erzählen.
Schon kurz nach der Ausschreibung des Themas »unterwegs sein« wurden von den Mitgliedern des Vereins zahlreiche Manuskripte eingereicht. Die Auswahl der jetzt vorliegenden Texte traf eine vereinsexterne Jury. Dafür danken wir herzlich Frau DrPh. Alice Boldis und Herrn Thomas Kuhnert. Durch die gelungene Arbeit der Lektorin Frau Gabriele Betz aus Tübingen wurden die Texte weiter verfeinert.
Das Buch zeigt ein buntes Bild unterschiedlicher Ideen und verschiedener Textformen, vom Gedicht bis zur langen Kurzgeschichte. Nehmen Sie es doch einfach mit, wenn Sie einmal unterwegs sind!
Herzlichst
Adi Hübel,
Vorsitzende Ulmer Autoren 81 e.V.
Landkarten
wanderung
der Finger
Augen geschlossen
dabei egal
was kommen mag
Überfahren
die Autobahn
Kirche den Fluss
dann Innehalten
Augenaufschlag
Hier
werden wir uns
begegnen
Es muss hier irgendwo sein.
Die Hälfte des Stadthügels liegt hinter mir, es geht weiter steil bergauf. Gut, dass die hier nie Glatteis haben, kein Auto würde im Winter da hochkommen.
Es ist der erste November, ich schwitze, mein Kleid klebt feucht am Körper, ich drücke mich in den Schatten der Hausmauern, schaue zum wiederholten Male in den Stadtplan. Wenn ich ihn richtig gelesen habe, bin ich fast da. Im Moment sehe ich nur Häuser mit grauen Fassaden, bröckelndem Putz, Farbe, die abblättert, Fenster ohne Scheiben, rostige Türangeln, verwittert von Sonne, Sturm und der salzhaltigen Luft des Meeres. Wenige Geschäfte entlang der Straße, alle geschlossen. Ob heute Sonntag ist? Ich kann mich nicht entscheiden, gehe ich nach rechts, links oder weiter geradeaus?
Ein Mann kommt den Hügel herauf, ich lächle ihm entgegen, halte ihm den Stadtplan unter die Nase. Hebe ratsuchend die Schultern, ich spreche kein Griechisch. Er zeigt mit ausgestrecktem Arm nach oben, weiter den Berg hinauf. Für einen Moment bin ich beruhigt, auch wenn mich die zurückgeworfene Hitze des Asphalts erschöpft. Meine Schritte bleischwer, werden immer langsamer.
In der nächsten Querstraße eine bröckelnde, dicke Mauer, überwuchert von Bougainvilleen in unglaublichem Rosa. Dahinter eine kleine Kapelle mit einem Kreuz auf dem Dach. Ich gehe an dieser Mauer entlang, Sand und bröckelnde Steinchen knirschen unter meinen Sandalen. Mein Herz klopft zum Zerspringen, mein Kopf glüht, als ich um die Ecke biege und das flügeltürige, schmiedeeiserne, rostige Tor sehe.
Ich fasse nach der Klinke, lehne mich gegen das Tor, rüttele, nichts bewegt sich. Verschlossen, ich komme nicht hinein. Es dauert, bis die Tatsache in mein Bewusstsein vordringt. Ich kann nicht mehr, meine Knie geben nach, Trauer überrollt mich wie eine Lawine. Zornige Tränen laufen über mein Gesicht, ich schaue flehend zum Himmel hinauf: Bitte Peter, wenn du mich hörst, hilf mir. Fünf Jahre und einen Tag habe ich auf diesen Augenblick gewartet!
Ich raffe mich auf und entdecke das Schild. Zum Glück kann ich den Hinweis, wo der Schlüssel für dieses Tor zu bekommen ist, entziffern: in einer Kirche in der Unterstadt. Da war ich heute Morgen schon einmal und bat Gott um Hilfe, dass ich dein Grab finde. Nun also den Berg wieder hinab, ich klingle am Tor neben der Kirche, ein Pater öffnet. Mit einer Mischung aus Englisch, Deutsch und dem Stadtplan versuche ich ihm mein Anliegen verständlich zu machen. Er verschwindet im Inneren des Hauses und kommt mit einem alten Schlüssel zurück. Mein Blick fällt auf den Anhänger: Groß steht dort die Zahl 18:00 Uhr.
Panik steigt in mir hoch, dann habe ich nur noch eine Stunde, sage ich verzweifelt und deute auf die Zahl. Der Pater versteht, nickt und lächelt. Er zeigt auf einen Briefkasten, seine Hand bedeutet mir, wirf ihn einfach da hinein, egal wann. Erleichtert und dankbar nehme ich Abschied, sein Blick umhüllt mich warm.
Nochmals nehme ich den Berg in Angriff, meine Gedanken gehen dabei weit zurück, in eine Zeit, in der wir spielten, stritten und weinten. Peter und ich wollten nicht alleine sein mit der Angst um sie, es ging ihr sehr schlecht. Wir waren elf und zwölf, niemand erklärte uns etwas. Keiner mehr, der lachte, sang oder den Plattenspieler anmachte, seit Mutter krank war.
Weißt du noch Peter, wir gingen auf Zehenspitzen, trotzdem schrie sie vor Schmerzen, nicht weil wir zu laut waren, sondern weil die Medikamente wohl nicht mehr wirkten. Es war gut, einander zu haben, es schweißte uns zusammen. Wenn die Angst zu groß wurde, schlüpften wir am Abend in mein Bett und hielten uns fest, bis wir einschliefen. Später habe ich dieses Festhalten sehr vermisst. Du hast dieses Elend nicht länger ausgehalten und bist weggelaufen, immer länger und weiter weg, einmal dann bis zur Fremdenlegion.
Meine Erinnerungen haben mich den Berg hinaufgezogen. Dort ist das Tor, ich stecke den schweren, langen Schlüssel ins Schloss, drehe einmal und noch einmal, es klackt und ist offen. Ich nehme den Weg links vom Tor, die dritte Platte, weißer Marmor, überwuchert von einer Bougainvillea, zieht mich magisch an. In schwarzen Buchstaben dein Name und die Jahreszahl 1951, darunter 31. Oktober 1997.
Eine knorrige Zeder spendet Schatten, auf den Wegen glitzern weiße, kleine Steinchen. Behutsam schiebe ich Verblühtes beiseite und setze mich auf dein Grab. Endlich bin ich angekommen. Zärtlich streichen meine Finger über deinen Namen und meine Tränen tropfen auf den staubigen Marmor. Erst in der Dunkelheit gehe ich zurück, das gelbliche Licht staubiger Straßenlaternen begleitet mich.
Morgen werde ich wiederkommen.
Komm, zeigst Du mir die Ferne?
Ich möchte einfach allzu gerne
Dir in die Augen sehn und,
Wenn die Winde Deine Haare blähn –
Hinter uns das weite Meer
Sich spiegelt in der Sonne Licht –
Verzaubert sein
Und schauen in Dein liebendes Gesicht
Er tanzt
Seine müde Seele
Aus dem Gefängnis
Eines erstarrten Körpers
Er tanzt
Seine Füße kreisen
In glühenden Gefühlen
Auf kaltem Sand
Er tanzt
Seine Hände greifen
Nach verwelkten Blüten
In sternloser Nacht
Er tanzt
Seine Ohren ertasten
Fallendes Laub der Vorzeit
Morgenröte erhoffend
Er tanzt
Seine Schritte zertreten
Die Melancholie des Septembers
Im kalten Dezember
Er tanzt
Seine Augen suchen
In schlummernden Sehnsüchten
Nach dem wärmenden Licht
Er tanzt
Seine Finger erfühlen
Im Meer der Dunkelheit
Die Melodie der Zukunft
Er tanzt
Seine Haut erspürt
Im Klang der Gitarre
Den lauen Wind des Sommers
Er tanzt
Seine Seele erwacht
die Sehnsucht schwindet
wie getrocknete Tränen
Er tanzt
Sein Lachen füllt Räume
Im Rausch der Melodie
Einer sich erfüllenden Liebe
Sicher, der Platz ist sehr belebt. Für die Besucher dieser wundervollen Stadt ist er nun mal die Attraktion. Hier befinden sich die beiden spektakulärsten Museen, das traditionellste Cafe, die Eisdiele mit dem leckersten Eis. Die Tauben führen ihre Raubzüge von oben herab und mit den Touristenschwärmen führt man ein Gefecht auf Augenhöhe. Man fühlt sich als Sieger, wenn es gelingt, eine Waffel mit Vanilleeis oder Schokoladeneis, was letztlich keinen Unterschied macht, sicher über diesen unruhigen Platz zu jonglieren. Und trotzdem, an der zentralsten Stelle des Platzes, neben dem Brunnen mit dem zornig dreinschauenden Konteradmiral, liegt mein Lieblingsbistro. Klein, ein wenig schmuddelig, zugegeben, aber seit fünf Tagen ist es der Ort, den ich jeden Nachmittag besuche. Denn vor fünf Tagen sah ich diesen scharfnasigen, hoch gewachsenen, unverschämt gut aussehenden jungen Mann in der vordersten Reihe der Bistroterrasse sitzen. Leider war ich zu schüchtern, um ihn anzusprechen. Was hätte ich auch sagen sollen?
„Hallo, ich bin Karen aus Düsseldorf. Seit zwei Wochen bin ich geschieden und von Männern habe ich erstmal die Nase voll.“
Oder:
„Sie sind sicherlich Klavierspieler. Das sehe ich an ihren feingliedrigen, gepflegten Fingern. Ich würde Sie gerne an die Hand nehmen und mit Ihnen davongehen.“
Oder:
„Ihr stolzer Blick lockt mich an wie Brotkrumen eine gurrende Taube und ihr römischer Kussmund verheißt süße Sünde.“
Oder:
„Sie haben einen Knackarsch und das liegt nicht nur an Ihrer eng sitzenden Hose, die Sie in meinem Hotelzimmer gleich ausziehen sollten, damit die Bügelfalten erhalten bleiben.“
Alles nur Träume, vielleicht nicht einmal Wünsche, aber genug Stoff, um in den letzten Urlaubstagen mehrere Stunden auf diesem geschäftigen Platz zu verbringen und zu hoffen, dass ich eine zweite Chance bekomme.
Wilde Früchte
Tanzen in weißem Wein
Leuchtendes Firmament
In topasfarbenem Meer
Sich verlierende Töne
In den Wellen
Götter der Nacht
Ziehen mich in die Tiefe
„Nicht devo, dovrebbe! Il condizionale.“ Antonio rauft sich die dunklen Locken. Wieder einmal versucht mein Italienischlehrer vergeblich, mir die Höflichkeitsform der italienischen Sprache nahezubringen. Hilfesuchend tasten seine zartbitterbraunen Augen die Decke ab samt einer Welt, die weit darüber liegt.
„Madonna santa!“ Die Anrufung der Mutter Gottes und sämtlicher Heiliger Roms ist zu einem Ritual unserer Stunden geworden. Mir kann nur ein Wunder helfen. „Versuche, ein Gefühl für die Schönheit der Sprache zu entwickeln. Das Deutsche will informieren, das Italienische unterhalten. Ich möchte, dass dir die Sprache in Knochen und Blut übergeht.“
Einen Moment lang erwäge ich, ihn aufzuklären, dass es „Fleisch und Blut“ heißen müsste. Doch als Schüler mit mangelndem Gefühl für Sprachschönheit obliegt es mir nicht, den großen Meister zu tadeln. Antonio weiß, was er tut.
Gleich in der ersten Unterrichtsstunde „Italiano con emozione“ gelang es ihm, uns in seinen Bann zu ziehen, und das lag nicht nur an seinem Aussehen und seiner Kleidung - so weich, edel und glänzend, dass ich Lust darauf bekam, mein Gesicht darin zu vergraben. Er hielt ein Italienischbuch in die Höhe und riss genüsslich die Seiten heraus. Sie flatterten elegant zu Boden, wie der sterbende Schwan.
„Wollt ihr italienisch reden wie Touristen – oder wie Italiener? Dann vergesst die Schulbücher! Was darin steht, ist eine Beleidigung für unsere Ohren. Ich werde euch das gehobene Italienisch beibringen.“