Wolf Richard Günzel 

Marie-Anne Delesalle-Günzel

Guten Morgen

Afrika

1

Als kleines Kind habe ich mir unsere Erde ziemlich imposant, geheimnisumwittert und voller Wunder vorgestellt. Man bekommt rasch Ehrfurcht vor Dingen, die einem die Erwachsenen erzählen. Vor allem, wenn sie diese Dinge selbst nur vom Hörensagen kennen. In ihrer Phantasie schrecken sie dann nicht davor zurück, den Dschungel mit Menschenfressern zu bevölkern. Sie erzählen einem, die Pyramiden seien aus purem Gold erbaut und daß es in den Ozeanen Jungfrauen mit glitzernden Fischleibern und Haaren aus grünen Meeresalgen gibt.

Im Laufe meines Lebens habe ich mich dann selbst auf unserer Erde gründlich umgeschaut. Wie schon vermutet, habe ich weder goldene Pyramiden gesehen, noch eine Meerjungfrau mit glitzerndem Schuppenkleid, und die gefürchteten Wilden, denen ich begegnete, sind nicht auf die Idee gekommen, mich in ihren Kochtopf zu stecken.

Warum ich mir die Erde im Laufe meines Lebens so gründlich angeschaut habe, hat etwas mit meinem Beruf zu tun. Ich bin nämlich das, was man einen Reiseschriftsteller nennt. Obwohl dieser Begriff eigentlich nicht ganz zutreffend ist. Ich berichte von den Ländern, die ich bereise, nämlich nicht ganz wahrheitsgemäß. Ich benutze sie nur als Rahmen für meine eigenen Geschichten. Ich verfahre in der Regel so, daß ich ein paar Figuren erfinde, die mir interessant erscheinen. Mit diesen Figuren im Kopf gehe ich dann auf Reisen. Ich suche mir solche Ziele für meine Figuren aus, in die sie mit ihren Charaktereigenschaften, die ich ihnen angedichtet habe, passen könnten. Nachdem ich sie also an einen geeigneten Ort verfrachtet habe, überlege ich mir, was ihnen nun passieren könnte. Ich bringe sie in Gefahren und hole sie dort wieder raus. Ich sorge dafür, daß sie sich verlieben und wenn es mir ratsam erscheint, lasse ich sie sterben.

Mit dieser Art zu schreiben, habe ich es zu einigem Erfolg gebracht, und weil ich die Leute auf eine humane Art belüge, bereitet es mir kein schlechtes Gewissen. Bevor ich humane Lügengeschichten zu schreiben begann, habe ich es schon einmal mit der Wahrheit versucht. Ich habe meine eigene Lebensgeschichte verfaßt und das gewichtige Manuskript an einen Verleger geschickt. Er schickte mir das Manuskript zurück und schrieb: Wollen Sie meinen Verlag ruinieren? Ihr Leben ist viel zu langweilig. Sie müssen schon etwas Großes und Aufregendes vollbringen, wenn es die Leute interessieren soll.

Nach diesem Genickschlag schrieb ich eine Weile überhaupt nichts mehr. Dann erwachte allmählich mein Trotz und der Wille, es diesem Bürschchen, das mich derart gedemütigt hatte, zu zeigen. Ich erfand meine erste humane Lügengeschichte. Und siehe da, ich hatte Erfolg.

Mit einer meiner humanen Lügengeschichten im Kopf stieg ich vor ein paar Jahren zum Gipfel des Kilimandscharo hinauf. Ich richte es nämlich immer so ein, daß meine Figuren vor einer großen Kulisse leben, leiden, sich lieben und womöglich auch sterben.

 

Beim Aufstieg wurde ich von zwei schwarzen Trägern begleitet. Und als sich die Vegetationszone langsam in die Schneezone verwandelte, sagte ich zu meinen schwarzen Begleitern: „Wartet bitte an dieser Stelle. Ich gehe das nächste Stück allein.“

Meine beiden Träger waren helle Burschen. Sie waren froh, daß sie mich samt meinem Gepäck los waren. Sie luden die schweren Rucksäcke ab. Dann setzten sich auf zwei Steine und stellten keine Frage. Das machte alles sehr einfach. Ich hatte beileibe nicht die Absicht, allein zum Gipfel zu stürmen. Ich wollte nur einfach wieder einen klaren Kopf bekommen, weil mir ihr unablässiges Geschwätz seit Stunden auf die Nerven ging.

Nachdem ich eine Weile allein hinaufgestiegen war, setzte ein leichter Schneefall ein. Meine Brille beschlug im Nu, und ich war inzwischen ordentlich außer Puste gekommen. Der Zustand, in dem ich mich befand, inspirierte mich zu einer Notiz. Ich wollte sie in meiner humanen Lügengeschichte, die ich im Kopfe hatte, später einmal verwenden. Wenn ich eine Lügengeschichte erfinde, achte ich immer streng darauf, daß der Rahmen, in dem sich meine Phantasiefiguren bewegen, authentisch ist. Deshalb mache ich diese anstrengenden Reisen. Ich will mich einfühlen in ihre Welt und wenigstens darüber wahrheitsgemäß berichten. Ich setzte mich also in eine Felsnische und holte mein Notizbüchlein und einen Bleistift hervor. Bevor ich zu schreiben anfing, schaute ich den Himmel an. Über dem schneebedeckten Gipfel des Berges thronte eine große weiße Wolke. Sie versperrte mir den Blick zur Sonne. Aber ihre gelben Strahlen drückten sich am Wolkenrand vorbei, und die Schneeflocken, die aus der Wolke kamen und ganz sanft zur Erde fielen, glitzerten wie kleine goldene Sterne. Es war zu schön, um es zu beschreiben. Also ließ ich die Finger davon. Ich schlug mein Büchlein auf und schrieb: Bin beim Anstieg zum Gipfel in einen schweren Schneesturm geraten. Meine schwarzen Träger wurden von Furcht übermannt. Sind in Panik nach unten geflüchtet. Ich will versuchen, den Gipfel allein zu erreichen. Notfalls auf allen vieren. Im Moment ist es allerdings völlig aussichtslos. Meine Hände sind ohne jedes Gefühl. Dennoch klammere ich mich verbissen an einen Felsen und hoffe, daß der Sturm vorübergeht.

„Was schreibst du denn da?“, fragte mich plötzlich eine zarte junge Stimme.

Ich zuckte zusammen. Mir fiel mein Notizbüchlein aus der Hand und der Bleistift und ich dachte entsetzt: das hast du nun davon! Du verstrickst dich derart in deine Lügengeschichten, daß du Phantasie und Wahrheit nicht mehr auseinanderhalten kannst. Gleich kommt wirklich ein Sturm auf, bläst dich dreitausend Meter weit herab, und obwohl es diesmal eine echte Katastrophe wäre, wird es niemand auf der Welt zur Kenntnis nehmen.

Die zarte junge Stimme fragte mich erneut: „Was hast du denn eben aufgeschrieben?“

 

Ich putzte meine Brille ab. Dennoch hüllte sich das Bild vor meinen Augen in einen feinen weißen Schleier. Man stelle es sich vor: Da sitzt ein kleines schwarzes Mädchen mittendrin im kalten Schnee und lächelt mich mit ihren großen braunen Augen an. Ihr Kopf und ihr kleiner Körper sind in ein langes weißes Tuch gehüllt. Unter dem Tuch tauchen nur ihr Gesicht und ein paar schwarze Locken, ihre Hände und ihre Füße auf.

„Gibt es dich wirklich?“, fragte ich verwirrt und versuchte die Hand des Mädchens zu berühren. Ihre Hand war kalt wie Schnee. Aber sie fühlte sich ganz zart und kindlich an.

„Berühre mich nicht zu lange“, sagte das Mädchen lächelnd. „Sonst zerschmelze ich.“

Ich zog meine Hand zurück. Dann schloß ich die Augen und lehnte mich zurück. Das mache ich immer, wenn ich das Gefühl habe, daß mich mein Verstand im Stich gelassen hat.

„Willst du jetzt etwa einschlafen?“, fragte mich die sanfte Mädchenstimme. „Wenn wir uns schon hier oben begegnen, können wir uns doch wenigstens ein wenig unterhalten.“

„Natürlich“, sagte ich, „das machen wir.“ Ich sagte es ein wenig spöttisch. Irgendwann würde mein Verstand ja wieder auf die Beine kommen. Und siehe da, er kam. Ich schüttelte den Kopf. Dann kicherte ich leise vor mich hin. Die Höhenluft, natürlich. So war es also, wenn man einen Höhenkoller hatte! Ich stand auf und klopfte den Schnee von meiner Hose. Ich schlich an der Stelle vorbei, an der mir das Mädchen in einer Halluzination erschienen war, sah nicht mehr hin. Ich ging nach unten.

Hinter meinem Rücken hörte ich ihre Worte: „Ich werde sehr traurig sein, wenn du mich jetzt verläßt.“ Der Klang ihrer Stimme berührte mich auf sehr behutsame und angenehme Weise. Ich konnte nicht einfach weitergehen. Und ich hatte auch nicht mehr das Gefühl, daß mich mein Verstand verlassen hatte. Ich drehte mich um, und als ich sie noch an der gleichen Stelle sitzen sah, ging ich zu ihr zurück.

„Ich möchte dich um etwas bitten“, sagte sie so lieb, daß ich ganz unbekümmert antwortete: „Bitte mich nur. Ich erfülle dir gerne jeden Wunsch, mein Kind.“

„Dort unten in der Savanne gibt es eine kleine verlassene Ziege...“

„Soso, eine kleine verlassene Ziege.“

„Und einen ebenso verlassenen, kleinen Vogel...“