Inhaltsverzeichnis
Zueignung
Prolog

Erster Teil: Jahre des Glücks
Giverny – Vendig
Kapitel 1
Im Zauber des Seerosenteiches
Kapitel 2
Kapitel 3
Blanche
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Ein aufschlussreicher Briefwechsel
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20

Zweiter Teil: Jahre des Kampfes
Chailly-en-Bière – Paris – London – Argenteuil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Brandgeruch
Kapitel 12
Zu Gast beim » Comte de Monte-Christo «
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Ein Zuhause am Ufer der Seine
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21

Dritter Teil: Jahre des Zweifels
Argenteuil – Paris – Vétheuil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Eine Beichte im Parc de Monceau
Kapitel 6
Kapitel 7
Ein Dammbruch
Kapitel 8
Ein Signal
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Eine ungewöhnliche Todesanzeige
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17

Vierter Teil: Jahre des Triumphes
Poissy – Giverny – Bordighera – Belle-Île-en-Mer – Antibes
Kapitel 1
Kapitel 2
Zwei Meter Erde für fünfzehn Jahre
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Im Giardino Moreno
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Gustave Geffroy
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17

Fünfter Teil: Jahre des Ruhms
Giverny – Fresselines – Rouen – London
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Das Lächeln der Mona Lisa
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19

Sechster Teil: Jahre der Vollendung
Giverny
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15

 

Reiner Jesse

Claude Monet

Licht und Schatten

Roman um den Maler Claude Monet

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zueignung

 

in Gedenken an Wilhelm Hausenstein,

 

ein großer Europäer,

ein mutiger Kämpfer für die Aussöhnung zwischen Frankreich und

Deutschland nach zwei schrecklichen Bruderkriegen,

ein Bannerträger des europäischen Gedankens.

 

 

 

Reiner Jesse

Claude Monet Licht und Schatten

Der Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

AtheneMedia

  

www.Athene-Media.de

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie,

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

 

Alle aktuellen Informationen finden Sie im Internet unter der Adresse:

http://www.athene-media.de

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

DER SPIEGEL 18/1966 vom 04.04.1966, Seite 156

 

MONET

 

Wasserrosen unterm Dach

 

KUNST

 

Der Millionenschatz lag seit Jahrzehnten auf dem Dachboden – unbesehen und lediglich bewacht von einem alten Gärtner mit Hund. Doch vor kurzem war im nordfranzösischen Dorf Sorel-Moussel (Departement Eure et Loire) Wachablösung. Seither patrouilliert ein Aufgebot von Gendarmen um das Haus des alten Michel-Jaques Monet, der in seinem Leben für zweierlei berühmt war – als Sohn des impressionistischen Meister – Malers Claude Monet ( 1840 - 1926 ) und – als passionierter Automobilist. Letzten Februar raste er sich, Monet junior, 87, in seinem Auto zu Tode.

Als der Testamentsvollstrecker Yves Bourdon nach dem fatalen Unfall in Michel Monets Haus Inventur machte, fand er einen Schatz. Auf dem Dachboden waren insgesamt 91 Gemälde gespeichert, darunter ein Delacroix, mehrere Bilder von Auguste Renoir, Paul Signac und Edgar Degas sowie 42 Monets – 6 davon gehören zur Serie der „Wasserrosen”-Bilder, die auf dem Kunstmarkt besonders hoch im Kurs stehen. Ein „Wasserrosen”-Werk wurde vergangenes Jahr von der Londoner National Gallery für 1 600 000 Franc (etwa 1,3 Millionen Mark) erworben.

Wert der Gemäldestapel nach vorsichtiger Expertenschätzung: zwölf Millionen Franc.

Damit war noch nicht genug entdeckt. Vergangenen Monat inspizierte Maître Bourdon in Giverny (Departement Eure) das Haus Claude Monets, das der Maler in seinen letzten Lebensjahrzehnten bewohnt und gleichfalls seinem Sohn Michel hinterlassen hatte.

Und abermals wurde in aller Eile ein Polizeikordon angefordert. Bourdons neue Trouvaille: 46 Monets mit einem Schätzwert von 11 Millionen Franc. Der alte Gärtner hatte, zwischen den benachbarten Flecken Sorel-Moussel und Giverny pendelnd, auch diesen Schatz vierzig Jahre lang bewacht.

Ob während dieser vier Jahrzehnte die Bilder vollzählig blieben, ist ungewiss. Jedenfalls hat Monet-Sohn Michel nie eine Liste von ihnen angefertigt und konnte das auch nicht tun: Dank väterlicher Fürsorge ist er, ebenso wie sein 1914 verstorbener Bruder Jean, zeitlebens ein Analphabet geblieben. Vater Claude, ein guter Freund des „Tigers” Georges Clemenceau: „Ich bin in die Schule gegangen. Warum sollen das meine Söhne?”

Statt Lesen und Schreiben lernte Michel Monet Autofahren. Er ließ sich ständig neue Spezialkarosserien anfertigen, handelte mit Motoren und bestritt im Übrigen seinen Lebensunterhalt, indem er gelegentlich einen Claude Monet verkaufte. Für Malerei hat er sich nie interessiert.

Bisweilen allerdings gab sich der Auto-Fex von Sorel-Moussel, der in der Nachbarschaft den Ruf eines bösartigen Alten hatte, als Bilder-Experte: Besuchern, die sich ihm mit einem Monet unterm Arm präsentierten und ihn um ein Gutachten baten, versicherte er: „Das Bild ist echt. Ich werde es Ihnen bescheinigen.” Daraufhin hieb er einen Stempel mit der Inschrift „Gefälscht” mitten auf die Leinwand.

Dennoch wird Michel-Jaques Monet fortan als Wohltäter der schönen Künste gelten. In seinem endgültigen Testament, seinem zwölften, hat er die Pariser Académie des Beaux-Arts zu seiner Universalerbin eingesetzt.

Eine letzte Infamie freilich hat sich Michel Monet auch in seinem allerletzten Willen nicht verkneifen können: „Die größte und schönste Monet-Kollektion”, so forderte er, „muss im Musée Marmottan untergebracht werden.”

Das Pariser Marmottan-Museum, ein düsteres kleines Gebäude, ist nur von Juni bis Oktober geöffnet – und auch dann nur samstags und sonntags.

 

 

 

 

 

 

 

Erster Teil: Jahre des Glücks

 

 

Giverny – Vendig

1905 – 1908

 

 

 

»… Es gibt in diesen Gewässern die auf

dem Kopf stehende Spiegelung von Bäumen,

die wir selber nicht sehen, und dann wird

einem am Ende ein bisschen schwindelig und

man ist überrascht, dass man nicht an der

Decke geht und die Leute nicht auf dem

Kopf stehen sieht, die wie wir gekommen sind,

um diese irgendwie magischen Portraits von

zerbrechlichen Blumen, trügerischen Gewässern,

sich ständig ändernden Reflexionen,

rasch vorübereilenden Stunden und

flüchtigen Augenblicken zu bewundern.«

(Gérard d’Houville, anlässlich der Nympheas-Ausstellung 1909 in der

Galerie Durand-Ruel)

 

 

Kapitel 1
Im Zauber des Seerosenteiches

 

Die Schleier der Morgennebel, rauchblaue und durchsichtige Finger der schwindenden Nacht, lagen noch zwischen dem tief herabhängenden Geäst der Trauerweiden, das wie schwarzgrüne Kaskaden das Ufer des Sees einrahmte und bis auf den Wasserspiegel reichte. An einigen Stellen tauchten die schlaffen Zweige wie Arme von Wassernixen durch die spiegelnde Oberfläche des Sees, so als suchten sie in dessen Tiefe sich in den smaragdgrünen Fäden der Schlingpflanzen zu verkrallen, die vom dunklen, schlammigen Grund aufstiegen und unter der spiegelnden Oberfläche, dem rettenden Licht nahe, in langen Strähnen treibend der trägen Bewegung des Wassers wie wabernde, grüne Lohe folgten; – geheimnisvolle, – blaue, – grüne, Geister des Wassers, die Beschwörungsformeln lispelten und mit ihren langen, dünnen Armen aus der Tiefe heraufwinkten. –

Ein kühler Hauch wehte an diesem frühen Morgen aus den Schatten unter den Bäumen, gesättigt mit dem Geruch nach feuchtem Kraut und kürzlich gemähtem Gras. Hinter dem Gitterwerk aus Baumgeäst stieg eine noch vom Morgendunst verhangene, vanillefarbene Sonne auf, in deren geschwächtem Licht die Laubmassen der Baumkronen dem bereits geblendeten Auge wie eine massive Wand aus gesättigtem, dunklem Ultramarin erschienen. Unter dieser blauen Schattenwand lag die Oberfläche des Teiches noch unbewegt. Das Wasser spiegelte dunkles, kühles Blau, aus dem in dieser frühen Morgenstunde schon hie und da die Teichrosen wie Inseln von silbrigem, saftigem Grün aufstrahlten. In der Kühle des Morgens waren ihre Kelche noch geschlossen.

Gegenüber der Schattenwand, bereits vom Abglanz der aufgehenden Sonne erfasst, spannte sich über den westlichen Abfluss des Teiches eine Japanische Brücke. Die Geländer, welche die elegante Schwingung des Bogens begleiteten, und die Spaliere für die üppig rankenden Glycinien muteten in der Umgebung fast fremd an. Es wollte scheinen, die Brücke sei aus einem japanischen Farbholzschnitt Utamaros oder Hiroshiges herausgeschnitten; Farbholzschnitte, wie man sie ehedem in der »Galerie Durand-Ruel« gesehen hatte. Ein mit der Vorgeschichte vertrauter Besucher mochte durchaus dem Eindruck erlegen sein, die Brücke sei tatsächlich einem solchen Farbholzschnitt entrissen worden und wie etwas Künstliches an diesen fremden, ihrer Form wie ihrem fernöstlichen, exotischen Charme unangemessenen Ort gewaltsam verpflanzt worden. Dieser Eindruck der ursprünglich kahlen Konstruktion – ehedem von einem nahezu giftig und künstlich anmutenden Grün »à la Paolo Veronese« – wurde jetzt allerdings durch die üppig rankenden, die Brücke gänzlich überwuchernden Glycinien gemildert, die mit den Kaskaden ihrer Blütendolden das tragende Gerippe verhüllten. Im ersten Tageslicht wirkten die Farben der Blütentrauben noch kraftlos und blass. Die weiße und mauve Färbung der Blütenkatarakte hatte im matten Widerschein der sich gerade hebenden Sonne noch eine fahle, fast graue Tönung ohne jenes Leuchten, wie es Blüten ansonsten im Lichte eignet. Nur die Blütendolden der hellblauen Glycinien erstaunten das Auge mit einem ungebrochenen Leuchten lichter Farbe wie Himmelsluft an einem klaren Sommersonnentag; an einem Tag, wie dieser noch frühe Morgen ihn zu bescheren versprach, auch wenn auf den breiten Blattfächern des Pestwurzes wie auch in den Schilfgräsern und im Bambus an den Teichufern, seitlich der Brücke, sich noch reichlich Tauperlen niederschlugen.

Das war die Stunde des Malers. Mit ihr begann sein Tagwerk. Ein Leben lang hatte diese Morgenfrühe mit ihren weichen Formen und mit ihren noch von den Schatten der Nacht gesättigten Blaus in kühlen, bis ins Violette und ins Grünliche reichenden Tönen sein Auge verzaubert. In Argenteuil und auch in Vétheuil war der Maler in solcher Morgendämmerung zu seiner Arbeit aufgebrochen; in jenen Jahren, da die Mesdames Not und Sorge noch seine ständigen Begleiterinnen waren; in jenen lange zurückliegenden Jahren, da er, von Feinden und Gläubigern gehetzt, kaum noch zu arbeiten vermocht und nicht gewusst hatte, wie er für das Brot des nächstens Tages sorgen konnte.

Die Welt da draußen glaubte, er liebe nur die hellen, satten, ungebrochenen Farben des Sonnenlichtes; das Zinnoberrot der Geranien und das dunkle Kadmiumrot der voll erblühten Rosen im hohen Mittag; das helle, an Zitronen erinnernde Gelb der Schwertlilien, oder das sattere und dunklere, oft schon ins Goldene spielende Gelb der seidigen, fast durchscheinenden Blütenblätter der zerbrechlichen Wasseriris. Diese Bilder, von farbigen Signalen stigmatisierte Gesichte, fesselten das oberflächliche, flüchtige Auge des Betrachters. Das hatte er immer wieder erfahren müssen. Die stillen Bilder aber, jene teils im Skizzenhaften verbliebenen, teils zum Tableau ausgearbeiteten Gemälde der Morgen- und der Abenddämmerung auf dem Wasser der Epte, ihre stumpfen, an Pastell erinnernden und wie Perlmutt irisierenden Blaus und Grüns der Bäume, die sich mit ihrem Laub über die Flussufer bis auf das Wasser neigten, jene Gesichte im fahlen Mauve der Morgennebel, die über der Flusslandschaft lagerten – jene stillen Bilder, die er vor acht oder vor neun Jahren von seinem Atelierboot aus gemalt hatte, diese nicht nur das Auge reizenden, sondern auch die Seele zu einem harmonischen Schwingen bringenden Gesichte – diese Gemälde wurden vom Betrachter meist einfach nur hingenommen, wenn nicht gar übersehen. –

Der Maler hatte fünfzehn dieser Gemälde im Juni 1898, also etwa auf den heutigen Tag genau vor sieben Jahren, in der Galerie von Georges Petit ausgestellt. Die Gemälde brachten keinen Aufsehen erregenden Erfolg, auch wenn sein Freund Gustave Geffroy sie im »Le Journal« gefeiert hatte mit Worten wie: »Großartige Übergänge der Helligkeit« – »Tiefen des Himmels und des Wassers« – »bläuliche Abdunkelungen und grünliche und goldene Aufhellungen des Blattwerkes« – »dunkle Formen« – »ferne Geister« – »geheimnisvolle Beschwörungen« – »transparente Spiegel«. Als Wortgeklingel ohne jeden nahrhaften Inhalt, als flache Lobhudelei ohne wirklichen Bezug zu den Bildern, als blutlose, intellektuelle Pflichtübung aus Freundschaft hat der Maler diese Auslassungen seines Freundes und Biografen abgetan. Niemand hatte genau hingesehen! Niemand hatte den Maler wirklich verstanden; sein Anliegen nicht, und seine mit seinen angestrebten Aussagen eng verknüpften, maltechnischen Probleme nicht. –

Da wurde von ideologisch verblendeten Schreiberlingen behauptet, seine Palette kenne keine Erdfarben, gewissermaßen als höchste, reinste Farbdisziplin jener Malerei, die sie, übrigens völlig unsinnig, als »Impressionismus« zu bezeichnen pflegten. Für die Palette von Seurat und Signac – Freunde, die sich einst mit ihm auf den Weg in das Abenteuer eines neuen Sehens aufgemacht hatten – mochte dies gelten. Sie waren fast zu Theoretikern, zu Puristen geworden. Ihnen galten die fast an physikalisches Vorgehen gemahnenden Regeln mehr als das Ziel. Ihm galten die Regeln nichts! Er war als Maler empirisch veranlagt. Die Reinheit der Lehre, die Regeln galten ihm nichts! – Das Ziel zu erreichen: das war ihm alles, mit welchen Mitteln und Tricks auch immer. –

Das Ziel? Das war für ihn der Erfolg, den flüchtigen Augenblick, der sich vor seinem Auge als Bild und in seiner Seele als Stimmung klar aufgebaut hatte, so genau und naturnah für alle Zeit auf die Leinwand zu bannen, dass auch Auge und Seele des Betrachters noch nach hundert Jahren zwingend das nacherleben und nachfühlen mussten, was ihn selbst einst flüchtig erregt und vergänglich verzaubert hatte. Dieses Ziel zu erreichen war ein schwerer, oft leidvoller und enttäuschender Kampf mit flüchtigen Gebilden; ein Kampf mit der »Augenblicklichkeit«, wie er das von ihm entdeckte Phänomen einst getauft hatte. – So, wie der erfolgreiche Sieg sich in seiner Phantasie darstellte, so konnte er ihn allerdings nahezu nie einfahren. Stets blieb zwischen dem Gebilde, das er auf die Leinwand zu bannen suchte, und seinem inneren Erleben – seiner Verzückung – stets blieb zwischen seinem Vermögen des Auges und seinem Traum der Seele ein Quäntchen Verlust, eine Kluft des Mangels an ersehnter, vollkommener Übereinstimmung. Daher rührte seine stetige Unzufriedenheit mit dem Erreichten. Daher rührten seine oft an Verzweiflung grenzenden, tiefen Depressionen, in denen er alles hinschmeißen wollte, in denen er nicht arbeiten konnte, in denen er sogar seine Werke – seine aus ihm in Kämpfen und Schmerzen geborenen Kinder – mit dem Messer, mit dem Pinsel und sogar mit dem Feuer wieder vernichtete, nur um nach einer Pause der Erholung und der Tröstung durch seine Familie und seine Freunde nochmals von Neuem den Kampf zu beginnen. Glücklich und zufrieden war er nur sehr selten. Die Dinge leicht zu nehmen war ihm nicht gegeben. Ein verbissener Ernst war sein hervorstechender Charakterzug. Lächeln, oder gar lachen, sah man ihn nie, oder nur sehr selten. –

Wenn doch die Schreiberlinge ihre blassen Nasen aus den Journalen und Folianten zögen! Wenn sie das, über was sie so gelehrt schrieben, einmal wirklich betrachten würden! Die ausgestellten Bilder, seine Gesichte der Morgen- und Abenddämmerung auf der Seine und auf der Epte! Dann hätten sie sehr wohl feststellen können, dass er durchaus Erdfarben benützte. Ja, dass er dieser bräunlichen, schmutzigen Farbtöne sogar dringend bedurfte! Obgleich ja nun wirklich keiner dieser Kritiker und Kunsthistoriker bestreiten mochte, dass er ein »Impressionist« sei, dass seine Malerei gewiss zum Inbegriff des »Impressionismus« geworden sei! Hätten diese Parasiten, so wollte er meinen, die von seinem Schweiße und von seinem Blute lebten – von jenen Säften, die er bei seiner Arbeit im Regen, in Kälte und in sengender Sonne so reichlich vergossen hatte – hätten sie richtig hingesehen, hätten sie – zum Beispiel auf einigen dieser Bilder der Morgenstimmungen auf der Seine oder auf der Epte – die linke Uferpartie genau betrachtet, diese Schattenmasse der überhängenden Bäume und deren vom Ufer nicht abgesetzte Spiegelung gleicher Färbung im Wasser, die von einzelnen hellen, grünblauen und fliederfarbenen Akzenten verwaschen aufgelockert wurde – hätten diese Schreiberlinge diese Schattensilhouette nur einmal genau betrachtet! Sie hätten sehr wohl die teils flächig gewischten, teils scharf gezwirbelten Pinselspuren von gebrannter Siena und grünlichem oder rötlichem Umbra wahrgenommen. Diese erdigen Töne, die das reine Blau, Violett und Grün der Schattenzonen jener Bilder durchpflügten! Jener Bilder, die er in den von mäandernden Armen der Seine und der Epte durchsetzten Niederungen 1896 und 1897 gemalt hatte! Erst diese erdigen Farben ließen als milder Kontrast das Blau, das Grün, das Violett und das Mauve aus sich heraus leuchten und schillern. Durch ihren Kontrast erst konnten die blauen, violetten und grünen Töne im Auge und in der Seele zur Symphonie reiner Farben werden. Dieser simple, von keinem der gelehrten Herren wahrgenommene, dieser ganz einfache maltechnische Trick: das waren die »fernen Geister«, die »geheimnisvollen Beschwörungen«, die »transparenten Spiegel«, denen sein Freund Geffroy so abgehoben von der handwerklichen, alltäglichen Wirklichkeit des Malers huldigte. Der Maler aber kannte sehr wohl den Rat des großen Tizian: »Beschmutze Deine Farbe!« –

 

Als die Sonne ein wenig höher gestiegen war und erste, golden gleißende Lichtkringel durch das immer noch dunkelblaue Laubwerk und Geäst der Trauerweiden auf dem Wasserspiegel des Teiches aufglühten – zaghaft zwischen den Inseln der Seerosen – öffnete sich die Türe des Hauses jenseits der Straße und der schmalen Schienentrasse der kleinen Eisenbahn von Gisors am Oberlauf der Epte nach Vernon, die den Teich und den Wassergarten von dem einst von steinernen Mauern, jetzt aber von immergrünen Hecken umgrenzten Garten trennte. Dieser Garten, ehemals ein typisch normannischer Bauerngarten der Gegend um den kleinen Weiler Giverny – ein »clos normand« – war in strengeren Formen als der Wassergarten angelegt. Der Maler hatte das einst von Mauern umgrenzte und mit Obstbäumen wahllos bepflanzte Feld, das von den Einheimischen »Le Pressoir« – »Die Kelter« – genannt wurde, zu einem Garten mit zu allen Jahreszeiten abwechselnd blühenden Gewächsen umgestaltet. Die überalterten, fast dürren Bäume mit Cidre-Äpfeln waren gefällt worden. Auch die Nadelgehölze, insbesondere die großen Thuja, die der Hausherr absolut nicht mochte, waren Axt und Säge zum Opfer gefallen. Nur die beiden schwarzen Eiben neben dem Eingang zum Hause hatte er mit Rücksicht auf den Wunsch seiner Frau belassen.

In der Morgenstille hörte man die sich öffnende Haustüre in den Angeln knarren und nach kurzer Zeit wieder ins Schloss fallen. Ein Mann trat zwischen den Eiben hindurch vor das in weißer und rosa Farbe gehaltene Haus, mit seiner in »Grün à la Paolo Veronese« lackierten Türe und mit seinen Fensterläden gleicher grüner Farbe. Der Mann ging gemächlichen Schrittes den leicht abschüssigen Hauptweg hinab. Er schritt unter den zahlreichen, weit ausgreifenden Rosenbögen wie unter einem Gewölbe hindurch. Das Laub, das sie in dichter Fülle überrankte, glänzte dunkelgrün und wie von Wachs überzogen. Auf den Blättern perlte noch der morgendliche Tau. Pralle Rosenknospen lugten aus dem Laube, und an einigen der Bögen hatten schon die dunkelroten Rosen ihre Blüten voll entfaltet. Der Mann trat am Ende des Hauptweges durch ein Tor, überquerte Straße und Eisenbahntrasse etwas unsicheren, vorsichtigen Schrittes, trat jenseits dieser Hindernisse wieder durch ein Tor und gelangte über die Japanische Brücke in den Wassergarten. Am jenseitigen Teichufer angelangt, wandte er sich nach links und folgte dem Ufer einige Schritte, nicht ganz bis zur Mitte des Sees.

 

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/f/f0/Claude_Monet%2C_The_Water-Liliy_Pond_%28National_Gallery%2C_London%29.JPG/1024px-Claude_Monet%2C_The_Water-Liliy_Pond_%28National_Gallery%2C_London%29.JPG

 

Die japanische Brücke, etwa 1899, National Gallery in London

 

 

Kapitel 2

Das Auge Frankreichs

 

Der Mann war der berühmteste und verehrteste Maler seiner Zeit. Sein Name war Oscar Claude Monet. Man schrieb den späten Juni des Jahres 1905. In knapp einem halben Jahr, am 14. November, wird er sein vierundsechzigstes Lebensjahr vollenden. Sein vertrauter Freund, Georges Clemenceau, Senator im französischen Oberhaus, hatte ihn »das Auge Frankreichs« genannt; er reihte ihn unter die »größten Künstler ein, die die französische Erde je geboren habe« – Und in der Tat: so etwas wie Erde und Wasser haftete der Erscheinung des Malers auch an. Er war meist in braune oder graue Farben gekleidet. Heute trug er wie üblich einen zerbeulten, weichen Hut aus hellbraunem Filz; eine weite Jacke aus khakifarbener Kashmirwolle und aus dickem, grauem Stoff gefertigte Hosen »à la Coster«, die sich oberhalb der Fußknöchel röhrenartig verengten und von polierten Hornknöpfen zusammengehalten wurden; dazu einen groben, breiten Ledergürtel und feste Stiefel aus ungegerbtem Rindsleder. Jedermann, der ihn nicht kannte, hätte ihn leicht für einen Bauern – für einen »cultivant« – oder für einen normannischen Seemann halten können, auch für einen Fischer oder für einen Matrosen. Solches war auch seinem späteren Freund und Biografen, Gustave Geffroy, widerfahren, als dieser dem Maler zum ersten mal 1886 zufällig auf den Klippen des winzigen Dorfes Kervilahouen im südwestlichen Landzipfel der Belle-Île vor der bretonischen Küste begegnet war. Monet hatte sich diese Küstenlandschaft für eine seiner Malkampagnen erwählt, nachdem ihm der Romancier Octave Mirbeau, mit dem der Maler befreundet war, die Atlantikküste der Bretagne, an der er ein Haus besaß, als malerisch interessant ans Herz gelegt hatte. Monet hatte hier seine bis dahin bewegtesten Gemälde geschaffen, überbordend an vordem ungekannter Wildheit und an kühner Leidenschaft.

Geffroy hatte Monet zunächst für einen Schiffssteuermann gehalten, der sich auf Landurlaub begeben hatte. Für einen solchen hätte man ihn auch heute halten können, wäre da nicht das fliederfarbene, an der Knopfleiste und an den Manschetten mit Rüschen besetzte Seidenhemd gewesen, das der Kleidung des Malers etwas Dandyhaftes hinzufügte. Auch die Gestalt des Mannes hätte die eines Bauern oder Seemanns sein können. Von eher kleinem Wuchs, war sie doch kräftig, starkknochig und aufrecht; die Beine wie Säulen in den Knien gestreckt, muskulös, kräftig und standfest. Mit solchen Beinen stand man seinen Mann, auf dem Deck eines Schiffes, aber auch vor der Staffelei in Wind, in Regen und in sengender Sonne; oder auch in eisiger Gischt vor der Mole von Le Havre oder auf den Klippen an der Küste bei Etretat – der Brandung, dem Sturm und der Gischt beim Malen trotzend – ohne die Arbeit zu unterbrechen. Auf solchen Beinen hatte der Maler auch fest im Leben gestanden, wenn die Stürme des Misserfolges, des Spottes, der Verachtung, ja sogar wenn die Wogen des Hasses ihm entgegengepeitscht waren, wenn die Drangsal der Not und des Hungers oder der Vereinsamung nach dem Tod lieber Menschen ihn niederzuwerfen gedroht hatten.

 

Auch das Antlitz des Malers erinnerte eher an einen normannischen Seemann an als einen sensiblen Künstler. Der Schädel war rund und wirkte im Vergleich zur Größe des Körpers etwas zu massig. Das Gesicht aber entsprach nicht dieser Rundung. Das Antlitz war kantig, wie aus Stein gemeißelt, mit einer starken, geraden Stirne unter dem eisgrauen, sehr kurz geschnittenem Haupthaar; mit den kräftig gewölbten Augenbrauenbögen und mit den etwas kantig hervorspringenden Jochbeinen über den Wangen, die in den Jahren der Jugend und des mittleren Alters straff gefüllt waren, jetzt aber bereits zu erschlaffen und – längs der Nasolabialfalten – bereits leicht zu hängen begannen und fast den Oberlippenbart berührten. Überhaupt war die untere Partie des Gesichtes kaum zu beurteilen; der Bogen des Unterkiefers und die Rundung des Kinns wurden von einem dichten, nicht gestutzten Vollbart verborgen, früher schwarz wie Kohle, jetzt von grauen und weißen Fäden reichlich durchzogen, sodass die Umrahmung des Gesichtes fast weiß wirkte, während der Oberlippenbart noch anthrazitfarben oder bleifarben war. Ein accéssoire gehörte zu diesem Bart, ohne welches das Gesicht eigentlich nicht vorgestellt werden konnte: der orange Punkt einer in dessen Mitte glühenden Zigarette. Auch jetzt, im noch fahlen Morgenlicht, leuchtete die Glut einer solchen Zigarette als rotglühender Punkt inmitten des Bartes auf, wenn der Maler an ihr zog und den inhalierten Rauch seitlich aus dem Mund zwischen den schmalen, geschlossenen Lippen in kleinen, blauen Wölkchen wieder entweichen ließ. Auffallend war die Form der Nase, da sie wie aus zwei nicht zusammengehörigen Teilen gebildet schien; im oberen Teil – aus einer tiefen, kurzen Querfalte zwischen den Augenbrauen entspringend – ein lang gestreckter, scharf gegrateter Nasenrücken, der dann aber im unteren Teil in einer eher etwas klobigen, fleischigen Nasenspitze auslief.

Die von noch dunklen, starken Brauen überschatteten Augen standen im Vergleich zur Breite der kräftig ausgebildeten Wangenknochen etwas eng beieinander; eine auffällige Eigenheit, die den Eindruck erwecken mochte, als betrachte der Maler einen Gegenstand oder ein Motiv aus sehr naher Distanz, auch wenn der Blick in die Ferne gerichtet war. Böse Zungen könnten behaupten, Claude Monet habe leicht geschielt, oder habe zumindest an einem Silberblick gelitten. Den Augen haftete daher etwas Stechendes und Kleines an. Solche Augen mussten einen erwartungsvollen Besucher enttäuschen; einen Besucher, der etwa mutmaßte, diese Augen – die das Bild der Welt aus dem Kolorit der bleichen Lokalfarbe in ein so glühendes, so farbiges, so von Licht durchflutetes, in ein neues, zuvor noch nie geschautes Universum haben erheben können – solche Augen müssten groß sein, in unendliche Fernen blicken und strahlen wie die Sonne selbst. Aber nichts dergleichen war den Augen Claude Monets zu Eigen. Es waren ganz gewöhnliche, nicht einmal schöne Augen, die stets ernst, fast freudlos, unablässig misstrauisch und stets aufsässig und angriffsbereit dreinblickten. Sogar die Farbe der Augen war ungewiss. Der mit ihm befreundete, amerikanische Maler John Singer Sargent, der Claude Monet 1885 in London portraitiert hatte, schilderte Monets Augen als pechschwarz und funkelnd. Sein Freund Auguste Renoir hingegen hat die Farbe seiner Augen eher als Blau oder als sehr helles Grau empfunden. Er selbst, Claude Monet, wusste nicht einmal, welche Farbe seine Augen hatten. Es interessierte ihn einfach nicht. –

Der Maler wandte sich stehend zunächst nach Nordosten, entgegen der Kulisse aus dichtem Laubwerk, das vor der aufgehenden Sonne immer noch als blaue Schattenwand stand. Vor dem dunklen Ultramarin zeichneten sich jetzt, mit zunehmendem Abglanz des bereits fahlgelb und fliederfarben aufleuchtenden Himmels, die mächtigen Trauerweiden ab. Ein filigraner Vorhang von dunkelblauer Spitze, von sich hernieder senkenden Zweigen, in fahlem Blaugrün über dem Wasser. Diese Kulisse jedoch war nicht das Motiv, das Monet gestern, bereits um diese frühe Stunde, begonnen hatte auf die Leinwand zu bannen. Die Wand aus Blau und Grün, vor der sich hebenden Sonne und unter dem von ihrem Abglanz fahl erhellten Morgenhimmel, diente nur dazu, das eigentliche Motiv in der von ihm gewählten Beleuchtung zu erfassen: die Geheimnisse des Wassers! – Nur in dieser theatralischen Beleuchtung, und nur für eine kurze Weile, traten – wie durch Zauberhand erweckt – jene Blaus und Grüns, besonders aber jene fliederfarbenen Grautöne hervor, die sein Auge aus der flüchtigen Wirklichkeit entführten und seine Seele aus der »Augenblicklichkeit« in jenes dauerhafte Traumland entschweben ließen, das er für alle Zeit in seinem Bild bannen wollte.

 

Das eigentliche Motiv war ein kleiner Ausschnitt des Wasserspiegels, der Blick nach unten gerichtet, unterhalb und vor der Schattenkulisse der Bäume, ohne Uferhorizont, mit der Spiegelung der Laubmassen in kaltem Blau und in gedämpftem, bräunlichem Violett; vornehmlich aber die Spiegelung des Morgenhimmels im Wasser, zum oberen Bildrand hin, in Rosa und in fahlem Gelb, und in der Bildmitte und zum unteren Bildrand hin in stumpfem, durchsichtigem Ultramarin und in malvenfarbigem und vanillegelbem Grau. Einige breit hingelagerte Inseln von Seerosen festigten das Bildgefüge, festigten die Fläche des Wasserspiegels durch ihre Perspektive. Sie erweckten durch ihre Form – in der Nähe scharf konturiert – den Eindruck, dass es sich bei den blauen, violetten und farbig grauen, lockeren Farbgebilden im Wasser, das von Seerosen nicht bedeckt wurde, wirklich nur um Spiegelungen der Ufervegetation und des Himmelsgewölbes handelte. Zwischen den Spiegelungen nahmen die Blätter der Seerosen ein eigenartig leuchtendes, kaltes Zinkgrün an, wie es im Licht keiner anderen Stunde zu sehen war. Aus den Blätterinseln stiegen die großen, jetzt bereits voll entfalteten Kelche der Seerosenblüten auf. Die Mehrzahl der Blüten war weiß, zur Teichmitte hin auch hellrosa im Herzen und mit einem äußeren Kranz dunklerer, rotvioletter Blütenblätter. Wenige Blüten, in größerer Entfernung, den oberen Bildrand fast streifend, waren von hellem Zitronengelb. Die Seerosenblüten waren dem Maler als farbige Akzente willkommen. Aber sie sollten nicht dominieren, sie sollten nicht das Motiv sein! – Das Motiv, die Bildidee, die Bildaussage – das sollten das Ineinanderwirken und Durchdringen der Spiegelungen der Ufervegetation und des Himmels in gedämpften, verwandten Farben zwischen den hervorstechenden, hellgrünen Seeroseninseln sein; ein kleines Universum an gegenseitigem Durchdringen von Wirklichem und Gespiegeltem in einer Bildfläche, auf der die Illusion eines Wasserspiegels erweckt wurde. Ganz bewusst – gewissermaßen als Programm – hatte daher der Maler diese Gemäldeserie, an welcher er schon seit einigen Jahren – etwa seit Beginn der Jahrhundertwende – gearbeitet hatte, nicht etwa unter das begrenzte Thema »Seerosen« gestellt. Nein: er hatte sein gewaltiges Werk unter das umfassendere Thema »Seerosen« und »Wasserlandschaften« – »Nympheas« und »Paysages d´eau« – gestellt, da es sein Vorhaben in dieser Breite am besten zu charakterisieren vermochte.

 

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/24/Le_bassin_aux_nymph%C3%A9as%2C_harmonie_rose_Claude_Monet.jpg

 

Die Zigarette war erloschen. Monet nahm den kalten Stummel aus dem Mund, warf ihn aber nicht weg, sondern steckte ihn in die Seitentasche seiner Jacke, nachdem er den Rest der erkalteten Asche mit dem Finger abgestreift hatte; eine Angewohnheit, die seine Frau Alice und seine Schwiegertochter Blanche seit Jahren unduldsam rügten. Obgleich er Zigaretten abgöttisch liebte und sich eingestehen musste, dass er bereits seit Jahren als Nikotinsüchtiger und Kettenraucher gelten musste, konnte er den Anblick weggeworfener Zigarettenstummel in seinem gepflegten und gehegten Garten nicht ertragen; insbesondere nicht auf den sauber gerechten Wegen und schon gar nicht an den Ufern des Seerosenteiches. So hatte er die Taschen seiner Jacke zu bequemen Aschenbechern umfunktioniert. Allerding musste er einräumen, dass die Überprüfung, ob die Asche der Stummel tatsächlich erkaltet war, nicht immer sorgsam genug von ihm vorgenommen worden war. Daher hatte das eine oder

andere, kleinere oder größere Brandloch die so missbrauchten Seitentaschen in dem ursprünglich haltbaren Gewebe mehrerer Jacken schwer geschwächt.

Bevor er sich eine neue Zigarette zwischen die vom Barte eingerahmten, gespitzten Lippen schob und mit einem Sturmfeuerzeug vorsichtig anzündete, wandte er sich nach links und blickte jetzt in westlicher Richtung zum Abfluss des sich dort verschmälernden Teiches und zur Japanischen Brücke hin. Wenn die Sonne gegen Mittag höher stehen würde – wenn dieser Teil des Wassergartens an seinem rechten Ufer im hellen, steil einfallenden Sonnenlicht goldgrün aufscheinen würde, während das linke Ufer mit seinen hohen, ausgebreiteten Weidenkronen und schlank aufragenden Pappeln in tiefen, braunvioletten und stumpfen, braungrünen Schatten liegen würde, wenn der linke Teil des Laubes sich schwer und dunkel im Wasser spiegeln und zugleich Schlagschatten auf die Wasseroberfläche legen würde – dann wollte er dieses Motiv wieder bearbeiten, das er ebenfalls am Vortage bereits auf der Leinwand in seinen wesentlichen Partien in flüchtigem und lockerem, die pastosen Farben wie Ziselierungen aufgetragenem Pinselduktus skizziert hatte. In diesem steil einfallenden, in diesem scharfen und klaren Licht des hohen Mittags würde dann die Brücke, würde dann dieser Teil des Sees – mit seinen tief herabhängenden Laubschleiern der Trauerweiden – auf der rechten Seite im vollen Sonnenlicht liegen, während links die hohen Pappeln den krautigen, durch Pestwurz, Bambus und Pfeilkraut in abwechslungsreichen Formen gestalteten Ufersaum und die vor dieser dunklen Kulisse hingebreitete Wasserzone in tiefe, nur gelegentlich durch Flecken scharfen Sonnenlichtes aufgehellte Schatten tauchen würden.

Die Problematik, die der Maler bei diesem Motiv bewältigen musste und die Bildaussage, die er unbedingt erreichen wollte, waren auch in diesem Gemälde nicht die zahlreichen, teils in runden, teils in wie von schwingenden Girlanden begrenzten Inseln auf dem Teich treibenden Wasserrosen mit ihren weißen, rosa und gelben Blütenkelchen. Die Problematik war vielmehr die Kunst, die Teichoberfläche so zu gestalten, dass der Wasserspiegel in der Bildmitte das steil einfallende Sonnenlicht in blendenden, fast flächig in Weiß und in hellstem Gelb aufgesetzten Reflexen widerspiegeln und daher undurchsichtig wirken würde, wohingegen rechts und insbesondere links – in den von den Bäumen beschatteten Uferzonen – durch die perspektivisch aufgelagerten Wasserroseninseln der Wasserspiegel zwar als Illusion evoziert würde, gleichzeitig aber das Auge die imaginäre Wasseroberfläche wie einen durchsichtigen Spiegel zu durchdringen vermeinte und den schlammigen Grund mit den braun aufsteigenden Stängeln der Seerosen und den moosig grünen, schmalblättrigen Bewuchs des Teichgrundes als geheimnisvolle Schemen wahrzunehmen glaubte.

 

Monet erinnerte sich, dass er ein maltechnisch ähnliches Problem bereits früher mehrfach erfolgreich, wenn auch, wie er dies stets vermeinte, nicht zu seiner gänzlichen Zufriedenheit zu lösen vermocht hatte. Er erinnerte sich mehrerer Bilder, deren Entstehungsjahr ihm entfallen war, deren Einzelheiten er aber noch genau vor sich sah. Auf einem Bild trieb eine menschenleere Barke unter tiefhängenden Zweigen auf dunklem, beschattetem Wasser. Auf anderen Bildern fanden sich zwei oder auch drei seiner Stieftöchter, angetan mit sommerlichen, weiß leuchtenden Kleidern. Die Mädchen ruderten ein schmales Boot auf der teils besonnten, teils vom Uferbewuchs überschatteten Ru und auf der Epte. Durch die Perspektive der Boote und durch die im Sonnenlicht aufscheinenden weißen Kleider der darin kauernden Mädchen hatte er die Illusion der Wasseroberfläche zu geben vermocht. In der Schattenzone am oberen Bildrand und im Vordergrund jedoch vermeinte der Betrachter in die Tiefen des Flusses mit seinen smaragdgrünen, langblättrigen Schlingpflanzen einzutauchen, die sich von der trägen Strömung unter der Oberfläche wiegen ließen. Monet erinnerte sich auch zweier Gemälde, auf denen er ähnliche Gegensätze versucht hatte darzustellen: den reflektierenden, undurchsichtigen Wasserspiegel im Sonnenlicht neben der durchsichtigen Wasseroberfläche im Schatten. Beide Gemälde gaben den westlichen Teichablauf unter der Japanischen Brücke wieder, also genau jenen Ausschnitt seines Wassergartens, den er auch für das Bild im Mittagslicht des heutigen Tages gewählt hatte. An die Entstehungsjahre dieser Bilder vermochte er sich im Gegensatz zu den Gemälden mit den Mädchen in den Barken und Booten allerdings genau zu erinnern. Das frühere der beiden Gemälde hatte Monet, nahezu auf den Tag genau, vor sechs Jahren gemalt, im Sommer des Jahres 1899. Mit Ausnahme der Wasserrosen, der Brücke und des Uferbewuchses hatte er das Kolorit des Wassers fast gänzlich in Erdfarben angelegt; die Uferzonen in grüner Umbra und den schlammigen Teichgrund in natürlicher und gebrannter Umbra, aufgelockert durch einige kleine Partien in gebrochenem Zinkgrün, den Unterwasserbewuchs andeutend. Der Pinselduktus bestand aus teils kurzen, teils längeren parallelen, stets aber senkrechten Strichen, welche die Tiefe des Wassers simulierten. Die auf dem Wasser breit gelagerten Seeroseninseln hingegen hatte er mit kräftigem, horizontal gelagertem Farbauftrag wiedergegeben, um durch ihre so gestaltete materielle Struktur und Perspektive die Illusion des an sich unsichtbaren, durchsichtigen Wasserspiegels hervorzurufen. Das zweite Gemälde hatte er vor fünf Jahren geschaffen, im Sommer der Jahrhundertwende. Auf diesem Bild hatte er eine horizontale Zweiteilung der Szenerie gewählt. Hinter der Japanischen Brücke glühten die Seeroseninseln golden im scharf zentrierten, steil einfallenden Sonnenlicht. Der Bildhorizont, gegeben durch die überhängenden Trauerweiden im violettbraunen, tiefsten Schatten, war im Vergleich mit anderen Bildern des Seerosenteiches tief gelagert, etwa auf Höhe der Bildmitte, so dass die nach hinten entrückten Teile des Teiches sehr flach gesehen wurden. Die Wasseroberfläche bestand im belichteten Ausschnitt, jenseits der Brücke, daher nur aus streifig gelagertem Seerosenbewuchs in gleißend aufscheinendem Weiß und sehr hellem Gelb, ohne dass Blätter und Blüten scharf unterschieden werden konnten. Wasser war auf diesem Gemälde erst in der Bildmitte zu sehen, im Schatten unter der Brücke. Der Maler erinnerte sich genau, welchen Mut es ihm gekostet hatte, diesen schmalen, horizontal gelagerten Streifen des Wasserspiegels, der von der Brücke beschattet wurde, in einem recht hellen, glühenden Rot auszuführen, aufgehellt in der Mitte durch vier gelbweiße, senkrecht gestrichene Reflexe, hervorgerufen durch die Spiegelung eines fokussierten Lichteinfalles auf die hinter der Brücke herabhängenden Laubkaskaden der in anderen Teilen beschatteten Trauerweiden. Diese Reflexe sollten den beschatteten Wasserspiegel undurchsichtig machen. Die untere Bildhälfte lag am linken, schilfigen Ufer im Halbschatten, zum rechten Bildrand hin aber ohne Uferbegrenzung im vollen Schatten nicht sichtbarer, überhängender Bäume. Die in Kobaltblau und Türkis gehaltenen Seeroseninseln dieses beschatteten Vordergrundes waren in stärkerer Draufsicht gegeben als jene in der Bildmitte oder im Licht jenseits der Brücke. Der Maler vermochte sich genau zu erinnern, welches Ziel er mit diesem gewagten, abrupten Sprung der Perspektive angestrebt hatte. Die steile Draufsicht im Vordergrund war nötig, um, wie in den anderen Gemälden mit ähnlicher Gegenüberstellung, die Illusion des durchsichtigen Wasserspiegels zu erwecken. Um diesen Effekt zu erreichen hatte er nicht nur einen Bruch der Perspektive gewagt; er hatte auch einen Bruch des Kolorits der horizontal abgesetzten Bildhälften gewagt. Anstelle des glühenden Rots der reflektierenden, undurchsichtigen Wasseroberfläche in der Bildmitte hatte er im Vordergrund dunkles Violett und gebrannte Umbra in senkrechten Strichlagen verwandt, um so im Auge des Betrachters die Illusion zu erwecken, es blicke in die Tiefe des Wassers bis auf dessen schlammigen Grund.

 

 

 

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/aa/Claude_Monet_-_Water_Lilies_-_1906%2C_Ryerson.jpg

Seerosen, 1906, Art Institute of Chicago

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/6b/Nympheas_71293_3.jpg

Seerosen, etwa 1915, Neue Pinakothek München

 

Claude Monet - Waterlilies (Rome).jpg

Seerosen (1897–1899)

 
 
 
 
 
 
Kapitel 3
Blanche

 

Während der Maler seinen Gedanken über die anstehende Arbeit des herauf dämmernden Tages nachgehangen hatte, war auch die zweite Zigarette dieses frühen Morgens aufgeraucht und erloschen. In gewohnter Weise streifte Monet den bereits erkalteten Aschenrest ab und steckte den Zigarettenstummel in seine Jackentasche. Dabei schüttelte er kaum merklich wie in Resignation den Kopf, schob seinen Hut, diesen mit zwei Fingern an der Krempe fassend, etwas aus der Stirne, schräg zur Seite und in den Nacken, so als sei er auf ein keckes Abenteuer aus; eine Mutmaßung, die seiner ernsten, mürrischen Miene hingegen absolut widersprach.

Inzwischen war eine bereits gereifte, dennoch aber jugendlich anmutende Frau neben den Maler getreten. Sie trug die beiden am Vortage begonnen Leinwände, deren Farben in weiten Partien noch feucht waren. Sie hatte die auf Keilrahmen gespannten Leinwände sehr vorsichtig, mit der bemalten Fläche in beiden Händen von ihrem schleppenden, weiten Rock nach außen gekehrt und mit leicht angewinkelten Armen weit abhaltend, den Weg vom Hause unter den Rosenbögen hindurch, über Straße und Eisenbahntrasse und schließlich über die japanische Brücke getragen. Der Name der Frau war Blanche Hoschedé-Monet. Die vierzigjährige Blanche war Monets zweitälteste Stieftochter und zugleich auch seine Schwiegertochter. Sie hatte 1897 Jean geheiratet, den ältesten der beiden Söhne aus seiner ersten Ehe mit Camille-Leonie Doncieux. Sie nannte sich seither Blanche Hoschedé-Monet. Seit der Heirat lebte sie mit ihrem Mann in Rouen, dann in Beaumont-le-Roger, kam aber häufig zu Besuch nach Giverny.

Blanche, die zweite Tochter des mit dem Maler ehedem eng befreundeten Ehepaares Ernest und Alice Hoschedé, war ihrem späteren Stiefvater vom ersten Moment an, da sie ihm gegenüber getreten war, ungewöhnlich zugetan. Das damals elfjährige Mädchen hatte sich geradezu leidenschaftlich verliebt in Claude Monet, als sie dem damals sechsunddreißig Jahre alten Maler 1876 erstmals begegnet war. Diese ihr unvergessliche Begegnung, die Blanche entscheidend prägte, hatte sich im Parc de Monceau in Paris und etwas später auf Château de Rottembourg ereignet, dem Landhaus ihrer Eltern in Montgeron, südöstlich von Paris.

Ernest Hoschedé, ein Sammler impressionistischer Malerei und früher Gönner und Förderer Monets, hatte den Maler für einige Monate auf seinen Landsitz eingeladen, um das Château mit vier großformatigen, dekorativen Paneelen ausstatten zu lassen. Blanche erinnerte sich genau an eines dieser vier Gemälde. Sie sah noch heute die weißen Truthähne mit ihren zinnoberroten Köpfen und Hälsen auf der sattgrünen Wiese unter einem fast schon dämmrigen, bewölkten Abendhimmel vor sich; so wahrhaft und lebendig, als schaue sie dem geliebten Mann beim Malen über die Schulter. Zu ihrem großen Kummer hatte Monet das an Farben und Formen prächtige Gemälde nie vollendet. »Die Truthähne« sollten in seinem frühen Werk einen herausragenden und ungewöhnlichen Platz einnehmen. –

Die damals elfjährige Blanche war außerordentlich begabt. Sie interessierte sich ernsthaft für Malerei und hatte bereits selbst zu malen begonnen. Ohne Zweifel war diese Veranlagung eine der Triebfedern, die ihr Gefühl inniger Zuneigung und Verbundenheit mit dem Maler gespeist hatten. Später aber musste Blanche sich eingestehen, dass – neben dieser platonischen Schwärmerei eines vorgereiften, warmherzigen, ernsten Mädchens – sie einer erotischen, fast sexuellen Anziehung des bereits reifen, verheirateten Mannes mit seinem wüsten, schwarzen Vollbart und mit seiner ungebändigten Mähne krausen, rabenschwarzen Haares erlegen war. Diese hatte sie in ihren Mädchenträumen wie in einem Bann gefangen gehalten; in Träumen, die sie auch hinfort in ihrem Inneren lebte, ungeachtet ihrer kurzen Liebesromanze mit dem Maler John Leslie Breck, die sich in ihrem äußeren, biografischen Leben der Erfüllung versagt hatte. –

 

File:Alice Hoschedé, 1878.jpg

Alice Hoschedé

 

Blanche Hoschedé-Monet war von gedrungener Gestalt, an Größe Claude nicht überragend. Ein mit seinem Saum bis zur Erde reichender, tabakbrauner