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Stefan Geyer/Jürgen Roth (Hg.)

Frankfurter Wegsehenswürdigkeiten

Zum Buch

HA, was für eine Weltverachtung und wahre Wut sich mir heute morgen da schon wieder an meiner Schreibmaschine, meiner an sich friedlichen, ja gemütlichen Schreibmaschine entfackelt, oh, was eine Wut, auf Frankfurt und diesen Wallmann und Brück und Goethe sowieso, eine Wut, vergleichbar durchaus der des kleinen Jungen zu Beginn von Ravels Kurzoper L’enfant et les sortilèges, wo er da schimpft: „J’ai envie de gronder tout le monde – Ich habe Lust, auf die ganze Welt wütend zu sein“ – und auf dieses Frankfurt, denk’ ich an Frankfurt schon am Tag, aber halt ganz besonders – seine zum Wegsehen zwingenden Monster und Struwwelpeter und Bronzeplastikbombastiken schon ganz, ganz speziell; auf diesen Henninger-Turm und jene brunnenverunzierte Hauptwache, sogar noch auf den jetzt weggesprengten Unihochhausturm, dann auch auf dieses Eintracht-Stadion und diesen angeblich nagelneuen sozialdemokratischen Oberbürgermeister da, auf die ganze Alte und die sogenannte Neue Frankfurter Schule dazu, dann dieses lustlos, ja gänzlich lustfrei vor sich hin gammelnde Frankfurter angeblich legendäre saudumme Bahnhofsviertel – alles, alles wahrlich weg sehenswürdige Dinge!

ECKHARD HENSCHEID

Stefan Geyer/Jürgen Roth (Hg.)

Frankfurter
Wegsehenswürdigkeiten

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Alle Rechte vorbehalten

© by Waldemar Kramer Verlag in der Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden 2014
Der Text basiert auf der Ausgabe Waldemar Kramer Verlag, Wiesbaden 2014
Korrektorat: Karin Flörchinger, Hattersheim
Covergestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH Hamburg Berlin
Bildnachweis: © Stefan Geyer
Alle Rechte an den Photos bei den Autoren und den Herausgebern.
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0453-0

www.verlagshaus-roemerweg.de/Waldemar_Kramer

Übermenschliche Kräfte scheinen nötig, um sich in einer Stadt wie Frankfurt seine Heimat zu schaffen.

Bodo Kirchhoff

Inhalt

Vorwort – Von Joe Bauer

Die Hansaallee – Von Eva Demski

Ein Schloß für Barbie – Von Dieter Bartetzko

Die ihr eintretet – Von Dirk Braunstein

Ein Goetheturm, endlich vernichtet – Von F. W. Bernstein

Vorbildliche Leistung – Von Arno Dahmer

Kaisersack oder: Wo die Ungastlichkeit dieser Stadt ihren Anfang nimmt – Von Volker Breidecker

Grauer Grund – Von Stefan Geyer

Vor dem Gesetz – Von Stefan Gärtner

Gäbe es O-Bahnen – Von Mark Obert

Unten durch – Von Harry Oberländer

Siedlung Römerstadt – Von Tilman Birr

Die Baustelle – Von Mark-Stefan Tietze

Wie heißt er bloß wie heißt er bloß – Von Klaus Hensel

Der Schlips? Muß weg – Von Sybille Wilhelm

Frankfurter Menschen – Von Anonymus

Steine schreien leise oder: Zur skulpturalen Ausgestaltung von Taunusanlage und Gallusanlage – Von Leo Fischer

Balkone – Von Uve Schmidt

Der Tod, die Dummheit, das Glück – Von Rayk Wieland

Im Kopf des Bankers – Von Jess Jochimsen

Wer will den ganzen Krampf noch einmal in echt erleben? – Von Elsemarie Maletzke

Zettelwirtschaft – Von Oliver Maria Schmitt

XXL-Spielothek – Von Christian Jöricke

Gebaute Sinnfrage – Von Severin Groebner

Das Oosten – Von Philipp Mosetter

Ein feiner Fluß – Von Jürgen Roth

Frankfurt: ins Verhältnis gesetzt – Von Michael Sailer

Atacamawüste – Von Stefan Behr

Frankfurter Jungs – Von Otto A. Böhmer

Das Königsbrünnchen im Stadtwald – Von Bert Bresgen

Geschichts- und bedenkenlos – Von Detlev Claussen

Hinter gelben Gittern – Von Jörg Schneider

Angloquatschagglomeration – Von Andrea Diener

2,80 Euro – Von Andreas Maier

Ein Beispiel der Frankfurter Unfreundlichkeit – Von Matthias Egersdörfer

Auf einen Schoppen in den Luftschutzkeller – Von Marco Gottwalts

Zunge mit Kraut – Von Hauck & Bauer

Visuelle Nötigung – Von Natalie de Ligt

Ich bin eine schöne Überschrift – Von Michael Tetzlaff

Bei den Morlocks – Von Katja Thorwarth

Lohnt nicht – Von Silke Wustmann

Drei bärenstarke Brunnen – Von Eckhard Henscheid

Nachwort

Autorinnen und Autoren

Vorwort

Von Joe Bauer

Dies ist das erste Vorwort meines Lebens. Ein Provinzler wie unsereins hat naturgemäß lieber das letzte Wort, im Glauben, er könne durch pausenlosen Redefluß seine Ahnungslosigkeit vertuschen. Die Pause an sich ist im Fluß des Lebens eine existentiell wichtige Einrichtung, völlig unterschätzt, und die beste Erholung auf der Flucht vor den Wegsehenswürdigkeiten einer Stadt findet der Spaziergänger im Park. Der Park, habe ich mal gelesen, hat im kakophonischen Gebilde einer Großstadt (und was sich dafür hält) eine ähnlich bedeutende Funktion wie die Pause in einem symphonischen Orchesterwerk. Deshalb ist es mehr als vernünftig, wenn die Bürger ihre Parks gegen die Bulldozer der Investoren und die Lobbyisten verteidigen.

Ich lebe seit Mitte der siebziger Jahre in Stuttgart und müßte angesichts der Texte im vorliegenden Buch eigentlich die Klappe halten. Der Schriftsteller Helmut Heißenbüttel verglich Stuttgart einmal mit einer Wanne: „Diese Wanne ist rundherum abgeschlossen, sie hat zwei offene Seiten, einmal zum Neckartal und in einem schmalen Durchgang nach Heslach und Kaltental. Ein Spaßvogel hat einmal gesagt, wenn man diese beiden Ausgänge zustopfte und die Wanne voll Wasser laufen ließe, würde aus Stuttgart ein schöner See.“ Eine reizvolle Idee angesichts der Tatsache, daß man für das Megalomanie-Projekt Stuttgart 21 mehrere Parks umpflügt, sechzig Kilometer Tunnel bohrt und damit Europas zweitgrößtes Mineralwasseraufkommen gefährdet. Offiziell heißt es, die Deutsche Bahn baue einen neuen „Tiefbahnhof“ – ein „Verkehrsprojekt“. Dummes Geschwätz. Propaganda. Als ob je irgendein Schwachsinniger Milliarden investierte, auf daß der ohnehin mißliebige Eisenbahnkunde ein paar Minuten schneller von Stuttgart nach München kommt.

Die Wahrheit ist: Die Gleise auf Gottes Erdboden müssen in den Untergrund, damit Bauland frei wird und das milliardenschwere Immobilien- und Bodenspekulationsgeschäft freie Fahrt genießt. Die übliche Landnahme, wir kennen das von den Indianern.

Fast immer geht es ums Geschäft, wenn die Städte verschandelt werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg ließen die Rathauspolitiker Stuttgart mit Stadtautobahnen tranchieren; danach mußte jeder Auswärtige glauben, Stuttgart ähnele mit seinen Fabriken von Mercedes, Porsche und Bosch irgendwelchen Industrielöchern im Kohlenpott. Dabei liegt die Stadt, wie von Dichtern ersonnen, in einem Talkessel mit Weinbergen, die man zur Zeit noch bei der Einfahrt mit dem Zug über dem von Paul Bonatz erbauten, inzwischen für S 21 ziemlich zerstörten Bahnhof sehen kann.

Daß ich trotz meiner Herkunft an dieser Stelle die Klappe aufreißen darf, verdanke ich einem Zufall. In den sechziger Jahren ging ich in einer stockkonservativen Kleinstadt namens Schwäbisch Gmünd für eine kurze Weile auf dasselbe Gymnasium wie der Wegsehenswürdigkeiten-Mitherausgeber Stefan Geyer. Nach meiner Schulpanne sah ich ihn öfter in Berlin; er hatte sich Richtung Frontstadt abgesetzt. Das war zu einer Zeit, als ich die Qualität einer Stadt vorzugsweise an der Zahl ihrer Kneipen und deren Öffnungszeiten bewertete. Da stand Berlin so gut da, daß unsereins als Tourist von einer Peinlichkeit in die nächste torkelte.

Auf das mir lange unbekannte Wesen Stadt stieß ich dennoch in Stuttgart. Nach gut zwanzig Jahren Redakteursarbeit bei den Stuttgarter Nachrichten gab man mir eine Kolumne mit dem Titel „In der Stadt“. Womit ich sie füllen könnte, sagte keiner. Wasser haben wir leider nur in der Vorstadt, der von Hölderlin besungene Neckar meidet Stuttgarts Kern und wird von der Politik böswillig ignoriert und allein als industrielle Wasserstraße mißbraucht. Da liebe ich geradezu Frankfurt, wenn mich ein Einheimischer in ein Café am Mainufer führt, eine Songzeile der Stranglers auf den Lippen: „Walking on the beaches looking at the peaches.“

Als Zeitungsfritze hatte ich schon früh den Eindruck, eine Zeitung spiegele nur höchst dürftig die Menschen und das Leben in der Stadt. Das ging mir nicht nur in Stuttgart so, auch in Berlin oder Hamburg wunderte ich mich, wie Zeitungen ihre Stadt buchstäblich ausblendeten. Mit urbaner Realität hat die Feuerwehr- und Rathausberichterstattung in den Lokalteilen oft nicht viel zu tun. Also begann ich versuchsweise mit dem Herumgehen und Schnüffeln, zunächst ohne Kenntnis der literarischen Flaneure. In den achtziger Jahren hatte ich gelegentlich in der Münchner Abendzeitung Sigi Sommers Kolumne „Blasius, der Spaziergänger“ gelesen. Was der Mann trieb, wie er den Leuten seine Stadt mit kleinen Beobachtungen wie ein Buch voller Geschichten öffnete, gefiel mir. Begriffen habe ich sein Handwerk erst später.

In meiner ersten Herumgeherzeit nannte ich mich „Stadtstrolch“, ohne zu ahnen, daß diese abwertende Bezeichnung etwas mit dem wahren Image des Flaneurs zu tun hatte, bevor diese Figur in der jüngeren Vergangenheit wieder in Mode kam (und heute in bescheuerten „Flaniertouren“ kommerziell ausgeschlachtet wird). Vom schlechten Ruf des Flaneurs, des streunenden Einzelgängers, erfuhr ich erst später bei der Lektüre von Franz Hessel: „Ich bekomme immer mißtrauische Blicke ab, wenn ich versuche, zwischen den Geschäftigen zu flanieren. Ich glaube, man hält mich für einen Taschendieb.“ Unsereins fühlt sich bis heute eher als Tagedieb.

Ich bitte, diese Schilderungen nicht als jene Art von Privatmitteilungen mißzuverstehen, die Schreiberlinge oft mit Poesie oder gar Unterhaltung verwechseln. Ich will nur erklären, wie lange es brauchte, mich dem Phänomen Stadt zu nähern. Womöglich geht es nicht nur mir so. Wohl war ich als Dörfler neugierig, aber es dauerte, bis ich mich mit der Sache halbwegs bewußt beschäftigte und erkannte, daß es keine Floskel ist, wenn man sagt: Geschichten liegen auf der Straße. Das gilt nicht nur für die großartige Idee der Stolpersteine zur Erinnerung an die von den Nazis ermordeten jüdischen Bürger. Manchmal hängen Geschichten auch an Hauswänden; eine unscheinbare Gedenktafel öffnet den Blick auf Menschen, deren Vergangenheit uns mehr über die Zukunft erzählt, als das alle Marketingschreier zusammen tun.

Eines Tages kaufte ich mir ein kleines gummiertes Fernglas von Nikon. Mit seiner Hilfe gewöhnte ich mir an, die Häuser in den Straßen nicht länger nur bis zur Gürtellinie, also bis zum oberen Ende der Eingangstüren oder der Schaufenster, zu betrachten. Obenrum, das ist wie bei Menschen, wirkt alles anders als beim Blick bis zum Bauchnabel. Das ziellose Herumgehen kam mir auch gelegen, weil ich an einer angeborenen Orientierungslosigkeit leide. Da fehlen irgendwelche Hirnspeicher. Ich finde in einer fremden Stadt nie eine Straße oder eine Kneipe wieder, in der ich tags zuvor war. Am besten, ich muß nichts suchen und gehe einfach der Nase nach. Zum Glück las ich in Paul Austers Winterjournal, wie sich der große New Yorker Autor und Spaziergänger in seiner Heimatstadt trotz der numerierten Straßen schwertut, beim Aussteigen aus der U-Bahn zu begreifen, wo er ist. Wo Süden und wo Norden ist, wo rinks und lechts. „Immer auf dem Holzweg, immer in der falschen Richtung, immer im Kreis herum“, schreibt er. Damit war geklärt, daß die Krankheit des hilflosen Herumirrens in der Stadt jeden befallen kann. Heute mache ich mir Mut mit meiner Losung: Lieber zu weit gehen als gar nicht. Immer wieder reise ich jeweils für eine Woche pflichtschuldig nach New York – auf der Suche nach dem Gefühl von Stadt: in der Nacht mit der U-Bahn raus aus dem Gewühl von Manhattan, runter nach Brooklyn, wo es entspannt sein kann wie auf einem Dorf und aufregend wie nur in New York City, in einer phantastischen Stadt, in der die Meldung umgeht, gewisse Herrschaften wollten die Pferdekutschen in den Straßen nicht etwa aus Tierliebe abschaffen. Die Droschken sollen weg, weil ihre Stallungen im Trendviertel Hell’s Kitchen den Immobilienhaien im Wege stehen.

Der Hinwendung zur Stadt, auch zur eigenen, folgt meist eine gewisse Liebe oder Haßliebe, je nachdem, und die Liebe macht nicht blind, sie schärft den Blick und das Gehör. Der Herumgeher beginnt, sich über die Würdelosigkeit im Umgang mit der Stadt zu ärgern, er spürt den Zorn auf die Verschandler mit ihrer dummdreisten Vorstellung von „Modernität“. Sie reden von „Moderne“, wo der Ramsch der Vergangenheit in neuer Verpackung zum Himmel stinkt. Es sind die Wegsehenswürdigkeiten, die uns zu Hinsehern machen. Es sind die ästhetischen Verbrechen, die uns den Blick auch politisch öffnen. Kaum war 2011 in Stuttgart Baden-Württembergs grün-rote Landesregierung angetreten, rülpste der SPD-Fraktionsvorsitzende Schmiedel: „Wo der Bagger steht, geht es uns gut.“ Welch gestriger Geist die Bulldozerfraktion prägt, erklärte der amerikanische Konzeptkünstler Joseph Kosuth in einem Interview über Städtebau mit Spex: „Selbst wenn etwas nicht vollständig abgerissen wird, so läßt man in der Regel nur die Fassade stehen und baut dahinter praktische Gebäude. Das ist ein rückschrittliches Architekturverständnis. Architektur hat die Psychologie eines Ortes zu konservieren, dadurch ist es uns Menschen möglich, eine Verbindung herzustellen zu den Menschen, die vor uns dagewesen sind. Durchbricht man diese Logik, indem man nur die Fassade stehen läßt, verändert man die Städte, in denen wir leben, in eine Art Euro-Disneyland.“ Euro-Disneyland macht sich in Deutschlands Städten unaufhaltsam breit, und die Kriminalpolizei meldet: Es gibt keine deutsche Großbaustelle mehr ohne den extremen Einfluß der internationalen Mafia, keine ohne Schwarzarbeiter.

Unter der Überschrift „Teufelsspiralen“ schrieb der Architekturkritiker Dieter Bartetzko 2013 in der FAS einen denkwürdigen Beitrag über den Bauwahn und den Mietwahnsinn. „Immobilienentwickler“ versprächen „Neues Wohnen in der Stadt“, in Wahrheit „wachsen in den Innenbezirken von München, Stuttgart, Frankfurt, Hamburg, Lübeck, Leipzig, Hannover oder Berlin Wohnquartiere wie die sprichwörtlichen Pilze aus dem Boden. Doch mit dem Wohnungsbedarf und den fehlenden Sozialwohnungen haben diese so viel zu tun wie ein Flamingo mit einem Huhn – was entsteht, sind Luxusquartiere, deren Mieten und Kaufpreise das Monatseinkommen oder die Rücklagen der sogenannten Mittelschicht um ein Vielfaches übertreffen.“ Die Luxusarchitektur, so Bartetzko, neige ästhetisch „zur Armseligkeit“, die Einheitlichkeit der Bauten erinnere „erschütternd an Praktiken der späten DDR“: an austauschbare Dekorserien in völlig unterschiedlichen Städten wie Rostock, Erfurt, Dresden.

Wo das dämliche Adjektiv „modern“ auftaucht, folgen unweigerlich die städtebaulichen Totschlagargumente aus den Marketingagenturen. Jeder Schwachsinn steht heute für „Zukunft“ und „Fortschritt“. Aus der Psychologie weiß man, daß die menschlichen Hirnspeicher der großen Mehrheit vorwiegend nicht etwa mit Sammelstücken aus der Vergangenheit oder der Gegenwart gefüllt sind. Was den Kopf am meisten belastet, sind von Existenzangst geprägte Gedanken. Auch deshalb steht heute jeder verkäufliche Scheiß, sofern neu produziert, für Zukunft und Fortschritt.

In Ruben Fleischers düsterem Hollywood-Film Gangster Squad spielt Sean Penn den Mobster Mickey Cohen im Los Angeles der vierziger Jahre. Der Verbrecher will die ganze Stadt. Als er, größenwahnsinnig und süchtig nach „mehr“, ein weiteres Hindernis auf seinem Weg nach oben beseitigt hat, sagt er: „Das war kein Mord. Das war Fortschritt. Ich bin Fortschritt.“ Diese Szene fällt mir ein, wenn ich vor zerstörten oder mutwillig der Verwahrlosung überlassenen Baudenkmälern stehe, den gekappten Brücken zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Wegsehenswürdigkeiten unserer Städte zwingen den Herumstiefelknecht im Dienste seiner selbst zum Hinsehen. Er sollte so umweltfreundlich sein, nicht überall hinzukotzen, wo ihm in einer schöpferischen Pause gerade danach ist. Womöglich tritt der Falsche rein.

Die Hansaallee

Von Eva Demski

Als ich vor Jahrzehnten in die Hansaallee zur Schule ging, konnte man Vergangenheit und Gegenwart an ihr ablesen: schöne, verschont gebliebene, vergammelte Gründerzeithäuser im innenstadtnahen Teil, wozu auch die imperiale Halbruine unserer Schule gehörte. Ihr Namenspatron Lessing stand steinern auf dem Dach und schaute hinüber zu den amerikanischen Latifundien mit dem Poelzig-Bau als beeindruckender, wenn auch geschichtsumdüsterter Kulisse. Um den scharten sich Zweckbauten inmitten verwilderten Grüns. Darin versteckt gab es sogar ein Theater, um das wir Legenden woben, weil wir nicht reindurften.

Stadtauswärts reihten sich Blocks aneinander, die der großen Wohnungsnot nach dem Krieg abhelfen sollten. Schön waren sie nicht, aber Schönheit war in der Architektur sowieso obsolet geworden. Sie stand unter Bürgerlichkeitsverdacht. War ja auch was dran. Die schönsten Bauten verdankt die Menschheit häßlichen Systemen oder miesen, menschenverachtenden Charakteren. Allerdings hatte das vor unserer Kindheit gerade überwundene System nicht einmal akzeptable Architektur hervorgebracht, obwohl der Führer so gern bauen ließ.

Die Zeiten änderten sich. Die Altbauten an der Hansaallee wurden renoviert, Bäume wuchsen, meine Schule wurde abgerissen, Lessing landete auf dem Boden vor dem Neubau, der nicht mehr imperial, dafür klobig war. Die Mauer zwischen den beiden Deutschlands fiel, und die Amerikaner zogen von dannen. Die Fünfzigerjahreblocks wurden neu gestrichen, verzagt bunt, die Universität zog in den Poelzig-Bau und bekam den schönsten Campus, den man sich nur denken kann. Die Amerikaner waren immer großzügig mit Platz umgegangen, wahrscheinlich, weil sie daheim genug davon hatten. So waren auch ihre Wohnblocks umgeben von weiten Wiesen und konnten ihre architektonische Einfallslosigkeit hinter den groß und mächtig gewordenen Bäumen verstecken.

Mit der Universität kamen Neubauten an die Hansaallee, Institute auf der einen, Wohnungen auf der anderen Seite. Die Institute haben eine gewisse Aggressivität an die Straße gebracht, steinerne Messerschneiden gleichsam, die von den jungen Bäumen der neubepflanzten Allee bisher nur mühsam im Zaum gehalten werden. Einschüchterungsarchitektur mit Schießschartenfenstern, ein Wechselbalg von Platz, unbebauter Raum, dessen Zweck noch immer nicht klar ist: Parken? Lustwandeln? Abhängen? Ein teuer gepflastertes, mit kostspieligen Leuchtkörpern sinnfrei erhelltes Nichts, dessen äußerstes urbanes Element im Frühling ein Spargelhäuschen ist. Manchmal wagt sich auch ein Bücherstand hin.

Aber gegenüber! Gegenüber, das neue Wohnen! Für den gehobenen Bedarf!

Das noch immer neue Wohnen sieht nach wenigen Jahren schon ziemlich alt aus. Die verwendeten Farben, die ich schon beim Erstanstrich als Elefantengrau in mehreren Stadien von Leukämie empfunden hatte, sind nicht heiterer geworden. Falsche Palmen und zerrüttete Binsenmatten erwecken nicht den Eindruck hochklassigen Wohnens, der hier erwünscht war – von Beginn an gab es in diesem Konstrukt urbanen Lebens (Höfe! Verdichtung! Passiv!) einen sichtbaren Zug zur Verkommenheit. Die stammheimhaften Betonabgrenzungsmauern und die Tiefgaragenschluchten tun das ihre. Es sieht nicht beschützt aus, sondern bedrohlich.

Nur die Bäume, die Bäume und die Grünstreifen, sie trösten und wollen eine Allee werden. Die Hansaallee. Irgendwann wird die Architektur hinter ihnen verschwinden.

Wenn sie die Bäume dann nicht abhacken.

Aber vielleicht werden ja dann auch schon wieder die Häuser abgerissen, das geht in unserer Stadt ganz schnell.

Meine alte Schule ist auch ganz neu, jedenfalls von außen.

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Ein Schloß für Barbie

Von Dieter Bartetzko

Schauplatz Frankfurt-City. Ein totenstiller Innenhof, den blind starrende Fensterreihen umgeben. Von draußen sind das blecherne Krachen und nervtötende Rollen des Leerens von Müllcontainern zu hören. Dazu das Tuckern von Transportern, das Scheppern und Ächzen von Hebebühnen, die durchdringenden Rufe von Müllmännern und Möbelpackern, die ärgerlichen Kommentare von Autofahrern, die sich aufgehalten fühlen.

Ein Morgen in der Großen Eschenheimer Straße zwischen Hauptwache und Eschenheimer Turm. In besagtem Innenhof macht die Geräuschkulisse des Großstadterwachens die Einsamkeit noch lastender. Hier könnte ein ehrgeiziger junger Filmregisseur die depressive Hauptfigur seines ersten Spielfilms über Selbstmord oder Amok grübeln lassen.

Wie aufs Stichwort erscheint ein Kellner und wischt nachlässig über ein Dutzend leerer Caféhaustische. Sie spiegeln sich im metallisch grauschimmernden Sicherheitsglas von Rundbogentüren, die an beiden Längsseiten des Hofs in umlaufende Arkaden aus Rotsandstein eingelassen sind. Wo die Scheiben nicht reflektieren, schaut man in kahle Räume. Nur auf Höhe der Tische annonciert die Espressobar gute Laune, Lifestyle, Events und dergleichen.

Ihre Leuchtreklamen stechen ordinär von der barocken stummen Eleganz ab, die sich an der Stirn- und Rückseite des Hofs darbietet. Zur Straße hin sind monumentale korinthische Säulen gereiht, darüber eine Balusterbalustrade, die zu beiden Seiten auf zweigeschossige Pavillons mit hohen Sprossenfenstern und pompösen Mansarddächern trifft. Auf der gegenübergelegenen Schmalseite zieht ein leicht vortretender Mittelpavillon mit säulenverziertem Eingangstor den Blick auf sich. Über dem Portal erhebt sich ein stattliches Rundbogenfenster, gerahmt von korinthischen Pilastern und überfangen von einem mächtigen Dreiecksgiebel.

Zwei aufgerichtete steinerne Löwen präsentieren dort mit gefletschten Zähnen ein Wappen. Es ist das der Fürstenfamilie Thurn und Taxis. Nach ihr heißt das beschriebene Palais, in dessen verwaistem Hof eine Espressobar seit Monaten das einzige ist, was von den hochfliegenden Hotel- und Luxusboutiquenvisionen eines Investors übrigblieb.

Deshalb – oder auch nur, weil die beiden Tropaia beiderseits des Giebels nicht wie Sandstein anmuten, sondern wie aus Styropor geschnitzt, und man den Mansardenfenstern so deutlich ansieht, daß sie dem technoid-nachhaltigen Bauen unserer Tage angehören – müßte korrekterweise vom einstigen Thurn-und-Taxis-Palais gesprochen werden. Und das hat eine imponierende Geschichte: 1739 als höfische Dreiflügelanlage entstanden, nach seinen fürstlichen Erbauern benannt, war es Frankfurts Bürgern zunächst als Adelssitz, dann als reaktionäres, vom preußischen Gesandten Bismarcks dominiertes „Bundespalais“ ein Dorn im Auge, ehe es 1895 zum Postamt verschandelt, ab 1908 als Museum für Völkerkunde glänzend restauriert und 1951 wegen angeblich unheilbarer Bombenschäden gesprengt wurde.

Was heute an der Großen Eschenheimer Straße im Schatten des Kaufhof-Kolosses und zweier kapriziös geknickter neuer Hochhäuser steht, ist also eine Kopie – und zwar eine schlechte. Wer den Innenhof genau betrachtet, merkt, daß seine Proportionen sonderbar gestaucht und unharmonisch sind. Der Grund: Um genügend Baufläche für die beiden Türme und die Supermall MyZeil zu gewinnen, wurden die Achsen des Ensembles verkürzt – kaum merklich bei den einzelnen Abschnitten, verheerend für den Gesamteindruck.

Letzterer wird an der Rückseite des Bauwerks tragikomisch und obszön zugleich. Wie die Primaballerina eines klassischen Balletts, die sich einem hingerissenen Publikum zu präsentieren meint, realiter aber fast mit der Nasenspitze auf den geschlossenen Eisernen Vorhang trifft, wölbt sich die kopierte halbrunde Gartenfront des Palais dem Hinterausgang von MyZeil entgegen, die ihre in Rauten zerteilte dunkle Glaswand wie ein Bulldozer mit verspiegelter Frontscheibe auf das Fake-Palais zuschiebt.

Kaum ein Shopping-Enthusiast gönnt dieser auferstandenen Gartenfront ohne Garten, die zudem aus Platzgründen um fünf Fensterachsen verschmälert wurde, einen Blick – warum auch, wird sie doch, wie das gesamte Palais, von der baulichen Umgebung zur Schaufensterdekoration und Event-Attrappe degradiert. Wer dennoch die drei geschwungenen Rotsandsteinstufen zum Rundbau hinaufsteigt, schaut durch die Sprossenfenster in einen kaltweißen, leeren Rundsaal. Das Original stammte, wie das gesamte Palais, von Robert de Cotte, dem Hofbaumeister des französischen Königs Ludwig XV. Es wies ursprünglich herrliche weiße und jadegrüne Stuckaturen auf. Noch prächtiger war der darüber gelegene Festsaal mit Säulen, Statuen des Bildhauers Paul Egell, einer umlaufenden Empore und einer vom berühmten Maler Luca Antonio Colomba ausgemalten Kuppel.

Der Festsaal würde, so versprach 2005 der Investor des gesamten Quartiers, vollständig rekonstruiert – als eine Attraktion des seinerzeit im Palais geplanten Luxushotels und als ein Geschenk an Frankfurts Bevölkerung. Damit machten der Magistrat und die Bauherren das Projekt den Bürgern schmackhaft; notgedrungen – denn es hatte merklichen Unwillen gegeben, als bekannt wurde, daß für das neue Palais-Quartier (MyZeil, die beiden Hochhäuser, das nachgebaute Palais sowie einen weiteren Büro- und Geschäftskomplex) der Fernmeldeturm von 1952 plus dem Paketamt, das im selben Jahr auf den Fundamenten des gesprengten Thurn-und-Taxis-Palais unter Einbezug der geretteten Torpavillons gebaut worden war, sowie das bis zur Zeil reichende Hauptpostamt von 1956 und das Verlagshaus der Frankfurter Rundschau abgerissen werden sollten.

Das Verlagshaus schätzten selbst Laien als hinreißendes Denkmal der Nierentischära, das mit seiner gläsernen Treppenhausspindel das berühmte Berliner Mossehaus zitierte. Der bei seiner Einweihung umstrittene Fernmeldeturm – zu seinen Gunsten hatte man, obwohl der Wiederaufbau beschlossene Sache war, die standfeste Ruine des Palais abgerissen – war längst zum Wahrzeichen geworden. Und das Paketpostamt, dessen Empfangshalle die Frankfurter Allgemeine Zeitung 1952 als „repräsentativste in der gesamten Bundesrepublik“ gelobt und mit den Räumen von Mies van der Rohes Barcelona-Pavillon verglichen hatte, ästimierten Architekturliebhaber zunehmend als einzigartiges Schloß der Wiederaufbaumoderne; einige Jahre noch, und das Ensemble wäre von der Allgemeinheit als das Juwel erkannt worden, das es war.

Vorbei. Im Jahr 2009 wurden MyZeil und das nachgebaute Palais eröffnet. Palais? Dank seiner verstümmelten Proportionen und der monotonen, frei erfundenen Seitenfronten (denn das originale Palais besaß links und rechts ausgedehnte Anbauten und Nebenhöfe, die einheitliche Fassaden verhinderten) ist der paßgenau für die Anliegen der Investoren zurechtgeschusterte Nachbau zum Barbie-Schloß abgestiegen; ein Spielzeug des Kommerzes, eine Fehlinvestition, die leerstehend unsere eventsüchtigen Tage verdämmert.

Neben ihm, da, wo ehemals das Rundschau-Haus stand (und vor dem Krieg das klassizistische Palais Mülhens ragte, in dem sich ab 1816 die bürgerliche Opposition, später der „Bürgerverein“ traf, um gegen das als „Bundespalais“ zum Sitz der Reaktion gewordene Thurn und Taxissche Anwesen respektive dessen Abgeordnete zu agieren), zwischen Eschenheimer Turm und Palais-Nachbau also, klafft am einstigen Standort des Verlagshauses eine riesige Brache, wo eigentlich ein rasanter neuer Bürokomplex geplant war. Diese Leerstelle ist das bisher grellste Indiz eines um sich greifenden brachialen autistischen Städtebaus, den wir noch vor zehn Jahren einzig den mafiosen Zuständen in Italien oder dem privatistischen Kapitalismus der Vereinigten Staaten zuordneten.

Die Erinnerung an das großartige RundschauGinsterRundschau