Sophienlust – 378 – Warum lasst ihr mich allein?

Sophienlust
– 378–

Warum lasst ihr mich allein?

Harald fühlt sich von allen Seiten verraten …

Elisabeth Swoboda

Impressum:

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Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-977-0

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»Ah, tut das gut!«, rief Angelika Langenbach, legte sich flach auf den Rücken, ruderte ein wenig mit den Armen und strampelte mit den Beinen, dass es nur so spritzte.

»Ja, du hast recht, Angelika«, stimmte Pünktchen dem jüngeren Mädchen zu. »An einem so heißen Tag wie heute ist ein kühles Bad in unserem Waldsee eine wahre Wohltat. Auch die Hunde genießen es.«

Die Kinder von Sophienlust hatten den Bernhardiner Barri und Anglos, eine junge schwarze Dogge, die Fabian Schöller gehörte, mit an den See genommen.

Vicky Langenbach, Angelikas jüngere Schwester, watete einige Schritte in den See, holte tief Luft, hielt sich die Nase zu und verschwand dann für einige Sekunden unter der Wasseroberfläche. Prustend kam sie wieder hoch und blickte sich Beifall heischend um. »Wie lange war ich unten?«, fragte sie. »Mindestens eine Minute, nicht wahr?«

»Ich habe nicht auf die Uhr geschaut«, erwiderte die Kinderschwester wahrheitsgemäß. Sie saß in einem Liegestuhl unter einer Schatten spendenden Zitterpappel und beobachtete das Treiben ihrer Schutzbefohlenen.

»Schade, dass du nicht auf die Uhr geschaut hast«, seufzte Vicky. »Ich habe beim Tauchen sicher einen Rekord aufgestellt.«

»Hast du nicht«, meinte Fabian Schöller abfällig. »Du warst höchstens zehn Sekunden unter Wasser.«

»Das ist nicht wahr! Ich halte es viel länger aus als du. Probieren wir es doch! Wir tauchen gleichzeitig, und wer als Erster hochkommt, hat verloren. Schwester Regine wird den Schiedsrichter spielen«, schlug Vicky vor.

»Meinetwegen«, brummte Fabian.

Schwester Regine erhob sich aus ihrem Liegestuhl, trat näher an das Seeufer, blickte auf ihre Armbanduhr und gab das Startzeichen. Gleichzeitig verschwanden die Oberkörper und Köpfe der beiden Kinder unter der Wasseroberfläche. Da warf sich Anglos mit einem pantherähnlichen Sprung in den See, und Barri sprang hinterher. Die Kinderschwester strauchelte und wäre beinahe ebenfalls im kühlen Nass gelandet.

Dort, wo Vicky und Fabian ihren Tauchversuch unternommen hatten, gab es ein wildes Gerangel. Fontänen spritzten auf. Fabian keuchte: »So lass mich doch los, du dummer Hund!«

»Anglos und Barri haben geglaubt, dass wir ertrinken«, kicherte Vicky. Dabei verschluckte sie sich und musste husten. Für Barri war das der Anstoß, mit den Zähnen nach den am Rücken gekreuzten Bändern von Vickys Badeanzug zu fassen und das Mädchen zum rettenden Ufer zu zerren.

»O Barri, du Held!«, rief Vicky hustend und lachend. »Du hättest dir dein Eingreifen sparen können. Ich wäre auch ohne deine Hilfe zurechtgekommen.«

»Schimpf nicht mit dem braven Barri!«, tadelte die kleine Heidi, eines der jüngsten Kinder von Sophienlust. »Er hat es gut gemeint. Er konnte doch nicht wissen, dass du absichtlich den Kopf unters Wasser gesteckt hast.«

Unterdessen war Fabian von Anglos ans Ufer bugsiert worden. Fabian wusste nicht, ob er seine Dogge tadeln oder loben sollte.

Anglos wedelte mit dem Schwanz und blickte sein Herrchen Lob heischend an.

»Ja, ja, du hast mich gerettet«, sagte Fabian. Er brachte es nicht übers Herz, Anglos’ Erwartungen zu enttäuschen.

Auf Heidis Rüge hin verfuhr Vicky mit Barri ähnlich, konnte es jedoch nicht lassen, enttäuscht hinzuzufügen: »Zu dumm! Jetzt weiß ich noch immer nicht, wie lange ich unter Wasser bleiben kann, ohne Luft zu holen. Probieren wir es ein zweites Mal? Wenn Schwester Regine Anglos und Barri festhält …«

»Nein, dazu bin ich nicht stark genug«, entgegnete die junge Frau lächelnd. »Ich schaffe es nicht, die beiden Riesenhunde zurückzuhalten, wenn sie sich einbilden, euer Leben retten zu müssen. Verschiebt eure Rekordversuche auf ein anderes Mal. – Ah, da kommen ja Frau von Schoenecker, Nick und Henrik!«

»Na endlich! Wir sind schon seit mindestens einer Stunde am See! Guten Tag, Tante Isi! He, Henrik! Hallo, Nick! Wo habt ihr so lange gesteckt?«, begrüßten sie die drei, die sich über einen schmalen Pfad, der durch einen lichten Laubwald führte, dem Badeplatz näherten.

»Na, wo wohl? Zu Hause, auf Gut Schoeneich natürlich«, beantwortete Henrik Vickys Frage, während seine Mutter Denise einen kurzen Händedruck mit der Kinderschwester wechselte und sein älterer Halbbruder Nick von Heidi in Beschlag genommen wurde.

Nick, dessen voller Name Dominik von Wellentin-Schoenecker lautete, war der eigentliche Besitzer des Kinderheims Sophienlust. Allerdings verwaltete seine Mutter Denise dieses Erbe für ihn. Nick war bei Kindern aller Altersstufen überaus beliebt, da er sich auf kameradschaftliche Art für sie einsetzte und für ihre Nöte und Probleme stets ein offenes Ohr hatte.

Auch die übrigen Kinder kamen herbeigeeilt oder herbeigeschwommen, um Denise, die sie liebevoll »Tante Isi« nannten, und die beiden Halbbrüder zu begrüßen. Lediglich ein etwa fünfjähriger Junge hielt sich abseits. Er saß auf einer Luftmatratze, hatte die Arme um seine mageren Knie geschlungen und starrte missmutig auf die Picknickkörbe, die neben ihm im Schatten standen. Er war ein hübsches Kind, blond, mit regelmäßigen Gesichtszügen und blaugrünen Augen, aber mit seiner mürrischen Miene passte er ganz und gar nicht in die allgemeine Heiterkeit, die rings um ihn herrschte.

Heidi bestürmte Henrik, mit ihr eine Bootsfahrt in dem Ruderboot zu unternehmen. Pünktchen wollte wissen, ob Nick morgen mit ihr ein Tennismatch machen würde, Vicky erzählte Denise von dem verpatzten Tauchversuch, und die beiden Hunde drängten sich dazwischen und wollten gestreichelt werden.

Henrik lehnte ab, Heidi über den See zu rudern, mit der Begründung, dass er sich vorher erst abkühlen müsse. »Vielleicht später«, vertröstete er das kleine Mädchen. »Zuerst möchte ich schwimmen. – Seid ihr wirklich schon seit über einer Stunde am See?«

»Ich weiß nicht. Ich habe ja noch keine Uhr und kenne mich auch mit den Zeiten noch nicht richtig aus. Aber wir sind schon lange hier. Ich habe die ganze Zeit auf euch gewartet«, beantwortete Heidi weitschweifig Henriks Frage.

»Du hast auf uns gewartet? Wieso? War dir fad?«

»Ja! Niemand hat mit mir gespielt. Schwester Regine hat gesagt, ich soll mich um Harald kümmern, weil er doch ungefähr so alt ist wie ich. Aber mit Harald kann man nichts anfangen, er sitzt nur da und schaut böse.«

Henrik warf einen flüchtigen Blick zu dem kleinen Jungen auf der Luftmatratze hinüber, runzelte die Stirn und sagte leise zu Heidi: »Du hast recht, er schaut wirklich böse. – Warum? Habt ihr ihn beleidigt?«

»Nein! Bestimmt nicht. Aber ich glaube, er mag uns nicht. Seit deine Mutti ihn vorgestern nach Sophienlust gebracht hat, hat er noch nichts geredet. Nur beim Essen, da meckert er ständig. Dabei kocht Magda doch so gut. Findest du nicht auch?«

»O ja.« Henrik leckte sich unwillkürlich die Lippen und schielte auf die Picknickkörbe. »Was hat Magda euch heute Gutes mitgegeben?«, erkundigte er sich.

»Brote mit Käse, gefüllte Tomaten, Gurkensalat, Rettiche, Fleisch und Obstkuchen«, zählte Heidi die Köstlichkeiten auf, die ihrer harrten.

»Von dem Obstkuchen müsst ihr mich unbedingt kosten lassen«, bat Henrik. »Magda macht die besten Obstkuchen der Welt!«

»Aber Henrik!«, mahnte Nick, der hinzugetreten war und den schwärmerischen Ausruf seines Bruders mit angehört hatte. »Ein Glück, dass Martha nicht hier ist! Sie wäre bestimmt gekränkt, weil dir Magdas Kuchen besser schmeckt als ihrer.«

»Worüber debattiert ihr denn?«, fragte Pünktchen, die zu ihnen trat.

»Es geht um die Streitfrage, wer besser kocht, Martha oder Magda«, erwiderte Nick.

»Ich lasse nichts auf Magda kommen«, erklärte Pünktchen streitbar. »Sicher, Martha bereitet die schwierigeren und ausgefalleneren Gerichte zu, aber sie braucht ja auf Gut Schoeneich nicht für so viele Leute zu kochen, wie es bei Magda in Sophienlust der Fall ist.«

»Du brauchst Magda nicht so zu verteidigen«, erklärte Nick lachend. »Die Sache verhält sich umgekehrt. Ich muss Martha verteidigen. Henrik findet nämlich, dass Magda besser kocht. Er isst viel lieber in Sophienlust als bei uns zu Hause.«

»Das ist doch ganz natürlich«, schaltete sich etwas schüchtern ein halbwüchsiges Mädchen ein, das von seinen Eltern für einige Wochen nach Sophienlust gebracht worden war, da diese eine Geschäftsreise ins Ausland angetreten hatten. »Das Essen schmeckt einem doch immer anderswo besser als zu Hause. Meine Mutti hat sich früher oft geärgert, wenn ich ihr erzählt habe, dass ich am liebsten bei Oma esse.«

Die Kinder lachten, Pünktchen nickte dem Mädchen zu und meinte: »Ja, du hast recht. Jeder von uns hat wahrscheinlich eine Lieblingsspeise, die von einer bestimmten Person zubereitet werden muss. Meist handelt es sich dabei um jemanden, bei dem man nur ab und zu zu Gast ist.«

»Also, ich fühl mich in Sophienlust nicht als Gast!«, machte Henrik geltend. »Ich fühl mich hier in Sophienlust fast genauso zu Hause wie auf Gut Schoeneich.«

Niemand widersprach ihm. Es hätte auch keinen Grund für einen Widerspruch gegeben, denn Henrik hatte nichts anderes als die pure Wahrheit ausgesprochen. Er lebte zwar mit seinen Eltern auf Gut Schoeneich, aber den größten Teil seiner Freizeit verbrachte er in Sophienlust. Das Gleiche galt für seinen Halbbruder Nick. Da der weitläufige Park, der das Kinderheim Sophienlust umgab, in die Anlagen, die zu dem Gut gehörten, überging, hatten die beiden Jungen keinen weiten Weg zurückzulegen, um nach Sophienlust zu gelangen. Hier hatten sie all ihre Freunde und Spielkameraden, mit denen sie meist ein Herz und eine Seele waren.

Noch häufiger als ihre beiden Söhne war Denise von Schoenecker in Sophienlust anzutreffen. Sie trug die Verantwortung für alle Belange des Kinderheims, und sie nahm diese Aufgabe sehr ernst. Sie kümmerte sich nicht nur um die Verwaltung, sondern noch mehr um das Wohl der ihr anvertrauten Kinder. Manchmal hatten die Kinder, die nach Sophienlust gekommen waren, seelische Schäden, hervorgerufen durch den Verlust naher Angehöriger oder durch ungute Familienverhältnisse. Solche Kinder waren oft schwierig, sie zeigten sich störrisch oder auch teilnahmslos. Trotzdem war es in Sophienlust bisher noch immer gelungen, selbst in schwierigsten Fällen aus verstörten oder trotzigen Kindern fröhliche und ausgeglichene Jungen und Mädchen zu machen.

Wenn sie Zeit hatte, nahm Denise gern jede Gelegenheit wahr, um mit ihren Schützlingen beisammen zu sein. Deshalb hatte sie auch heute ihre beiden Söhne an den Waldsee begleitet. Außerdem war es so heiß, dass ein kühles Bad im See eine angenehme Verlockung darstellte. Nachdem Denise sich auf diese Art erfrischt hatte, setzte sie sich zu Pünktchen und Irmela auf den Badesteg.

Pünktchen maß Denise mit bewundernden Blicken, seufzte ein wenig und rief: »Wie schön braun du bist, Tante Isi! Wenn ich nur auch so leicht braun werden könnte wie du. Aber ich bekomme bloß Sommersprossen.«

»Du übertreibst. Du bist auch schön braun. Und die paar Sommersprossen auf deiner Nase stehen dir gut«, tröstete Denise das Mädchen.

»Ich hätte lieber dunkle Augen und dunkle Haare«, murrte Pünktchen.

»Unsinn«, ließ Nick sich vernehmen. Er war weit in den See hinaus- und wieder zurückgeschwommen und zog sich nun mit einem sportlichen Klimmzug am Badesteg hoch, keuchte aber doch ein bisschen, als er schließlich oben war. »Du – du gefällst mir so, wie du bist, Pünktchen«, versicherte er, zwischen den einzelnen Worten nach Atem ringend. »Sei froh, dass du Sommersprossen hast. Dadurch bist zu deinem Spitznamen gekommen«, neckte er das Mädchen.

Pünktchen rümpfte ihr sommersprossiges Näschen. Sie hieß eigentlich Angelina Dommin, hatte aber ihren Vornamen schon seit Jahren nicht mehr gehört, weil alle Welt sie Pünktchen rief.

Sie war übrigens nicht unzufrieden mit ihrem Äußeren, nur die mangelnde Bereitschaft ihrer Haut, im Sommer rasch zu bräunen, störte sie.

Denise, die gleich Pünktchens Gedankengang erriet, forderte sie besorgt auf, ein Handtuch um ihre Schultern zu legen, eine Vorsichtsmaßnahme, welche die ebenfalls blonde Irmela bereits ergriffen hatte.

»Ich könnte mich natürlich auch unter einen Baum in den Schatten setzen«, murmelte Pünktchen.