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Sophienlust
– 151 –

Als ich noch bei Vati war

Warum Evi zurück ins Fürstenhaus wollte

Elisabeth Swoboda

Impressum:

Epub-Version © 2022 Kelter Media GmbH & Co. KG, Averhoffstraße 14, 22085 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © Kelter Media GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-007-4

Trotz des geöffneten Fensters herrschte in dem Eisenbahnabteil drückende Schwüle. Betti, das Hausmädchen von Andrea von Lehn, atmete insgeheim auf, als sie merkte, dass sich die vierköpfige Familie, die bisher das Geschehen in dem kleinen Raum diktiert hatte, offensichtlich ihrem Reiseziel näherte. Das Familienoberhaupt suchte die Koffer und die übrigen Gepäckstücke zusammen und ermahnte die beiden Söhne, die herumliegenden Reste von Äpfeln sowie andere Überbleibsel des Reiseproviants wegzuräumen.

Als die vier das Abteil verlassen hatten, kam es Betti beinahe leer vor. Außer ihr war jetzt nur noch eine junge Frau mit einem Kind da. Das Kind, ein ungefähr drei- bis vierjähriges Mädchen, hatte sich an die Mutter geschmiegt und schlief. Betti wunderte sich, dass das Kind schlafen konnte, denn die beiden Jungen hatten einen beträchtlichen Lärm vollführt. Doch nun war außer dem Rattern der Räder kein Geräusch mehr zu vernehmen.

Betti erhob sich, um ihren Platz zu wechseln. Sie setzte sich ans Fenster und blickte hinaus auf die vorbeifliegenden Bäume und Häuser. Sie schämte sich ein wenig, dass sie gute Laune hatte. Wenn man von einem Begräbnis kam, hatte man schließlich nicht heiter, sondern traurig zu sein. Aber Betti konnte beim besten Willen keine große Trauer wegen des Ablebens ihrer Großtante Therese empfinden. Erstens hatte besagte Großtante das hohe Alter von sechsundachtzig erreicht und zweitens hatte Betti ihr nicht besonders nahe gestanden, sodass sie die Tante in den letzten Jahren kaum zu Gesicht bekommen hatte. Aber trotzdem hatte Großtante Therese ihr ihre gesamten Ersparnisse vermacht. Es handelte sich dabei zwar nicht um eine große Summe, aber es war so viel, dass Betti sich rosigen Träumen hingab. Sie sah sich in einer hübsch eingerichteten Wohnung herumwirtschaften – oder vielleicht sogar, wenn sie Glück hatte, in einem kleinen Häuschen.

Was wohl Helmut dazu sagen wird?, überlegte das Hausmädchen. Sicher wird er sich freuen, obwohl … Unbewusst runzelte Betti die Brauen. Als sie vom Tod ihrer Großtante erfahren und Frau von Lehn um einen kurzen Urlaub gebeten hatte, um zu dem Begräbnis fahren zu können, hatte Helmut Koster darauf bestanden, seine Verlobte zu begleiten. Es war sehr schwer gewesen, ihn von diesem Vorhaben abzubringen. Jetzt, im Nachhinein, war Betti sich noch immer nicht klar darüber, warum sie Helmuts Begleitung eigentlich abgelehnt hatte. Sie hatte vorgegeben, ihn nicht von seiner Arbeit abhalten zu wollen, aber sich selbst gegenüber gestand sie ein, dass sie nur ein Vorwand gewesen war.

Konnte es sein, dass sie einfach eine Abneigung dagegen hatte, mit Helmut ein paar Tage allein zu sein? Betti schüttelte über sich selbst den Kopf. Was wollte sie denn? Helmut liebte sie, und sie erwiderte seine Liebe.

»Mami, Mami, sind wir bald da?« Die Stimme des kleinen Mädchens, das soeben erwacht war, riss Betti aus ihren Grübeleien.

»Nein, wir sind noch nicht da, schlaf weiter«, erwiderte die Mutter.

»Ich mag nicht mehr schlafen. Ich bin ganz munter. Lass mich zum Fenster. Ich möchte hinausschauen.«

Die Kleine kletterte auf den Sitz gegenüber von Betti und streifte dabei deren Rock.

»Kannst du nicht aufpassen, Evi?«, wurde sie von ihrer Mutter ermahnt. »Du machst das Kleid der Dame schmutzig.«

Evi warf Betti einen schuldbewussten Blick zu, doch diese meinte lächelnd: »Es ist nicht so schlimm. Falls mein Rock wirklich schmutzig geworden ist, kann ich ihn leicht waschen. Schau einmal, siehst du die beiden Pferde auf der großen Wiese?«

»O ja. Schade, jetzt sind sie weg.«

»Ja, der Zug fährt recht schnell«, erwiderte Betti.

»Mami, hast du die beiden Pferde gesehen?«

»Nein«, entgegnete Evis Mutter mit gelangweilter Stimme.

»Eines war schwarz, das andere braun«, erzählte Evi. »Leider war kein weißes dabei. Mir gefallen weiße Pferde am besten. Dir auch?«

»Ja, ja«, sagte Evis Mutter.

»Weißt du noch, als wir bei dem Mann, dem … Wie hat der Mann geheißen?«

»Ach, lass mich in Frieden! Wie soll ich wissen, an wen du denkst?«

»An den Mann, der zwei weiße Pferde im Stall hatte. Kannst du dich an ihn erinnern? Wir waren mit Vati dort.«

»Hör endlich auf, von weißen Pferden zu faseln. Wen interessiert denn das?«

Betti sah die junge Frau erstaunt an. Sie konnte sich deren Verhalten nicht recht erklären. Warum war sie so ungeduldig mit dem Kind? Evi war ein niedliches kleines Mädchen mit dunklen Locken und blauen Augen. Wenn das mein Kind wäre, dachte Betti, wäre ich stolz darauf und würde ihm keine so unfreundlichen Antworten geben.

Evi schien jedoch an die abweisende Art ihrer Mutter gewöhnt zu sein, denn sie plauderte unbekümmert weiter: »Ich mag auch Kühe gern. Am liebsten habe ich Rehe.«

»So?«, fragte Betti. »Rehe sieht man nur selten. Sie sind sehr scheu und laufen davon.«

»O nein. Ich habe schon oft im Wald welche gesehen. Früher, als wir noch bei Vati wohnten.« Ein Schatten huschte über das Gesicht des Kindes. »Jetzt wohnen wir leider nicht mehr im Wald«, fügte es traurig hinzu.

»Rede keinen Unsinn zusammen«, wies die Mutter ihre kleine Tochter zurecht. »Wozu brauchst du einen Wald? Sei froh, dass wir in der Stadt eine so günstige Wohnung gefunden haben.«

Evi sagte nichts mehr, aber ihr Gesichtsausdruck verkündete deutlich, dass sie anderer Ansicht war als ihre Mutter.

Das Kind tat Betti ein wenig leid. Deshalb sagte sie: »Ich kann gut verstehen, dass du gern im Grünen wohnen würdest. Mir geht es genauso, aber ich habe das Glück, bei einer Familie zu leben, die ein Haus auf dem Land besitzt.«

Evi hörte interessiert zu. »Sind das deine Eltern?«, fragte sie.

»Nein«, erwiderte Betti, »ich habe keine Eltern mehr.«

»Du Arme!«, rief Evi spontan aus. »Ich habe wenigstens noch meine Mami. Schöner würde es aber sein, wenn auch Vati …«

»Musst du unbedingt unsere Familienangelegenheiten vor Fremden ausplaudern?«, wurde sie von ihrer Mutter unterbrochen.

»Ich plaudere nichts aus«, verteidigte sich Evi. »Ich wollte der Frau nur von meinem Vati erzählen.«

Evis Mutter seufzte und wandte sich an Betti. »Das Kind ist so schwierig«, klagte sie.

Betti staunte. Auf sie machte Evi nicht den Eindruck, ein schwieriges Kind zu sein. »Wirklich?«, murmelte sie deshalb vage.

»Sie will nicht einsehen, dass mir einfach kein anderer Ausweg blieb, als mich von meinem Mann scheiden zu lassen«, sagte Evis Mutter. »Nun quält sie mich, indem sie dauernd von ihm redet. Jeder zweite Satz beginnt mit: Als wir noch bei Vati im Wald wohnten …«

»Wahrscheinlich hat sie Sehnsucht«, mutmaßte Betti.

Die junge Frau zuckte mit den Schultern. »Sie wird diese Sehnsucht unterdrücken müssen«, meinte sie kühl.

»Könnte das Kind nicht seinen Vater ab und zu besuchen?«, wagte Betti vorzuschlagen.

Evis Mutter schüttelte den Kopf. »Nein, das ist vollkommen ausgeschlossen«, erwiderte sie kurz.

Betti fühlte sich unbehaglich. Evis Familienangelegenheiten gingen sie wirklich nichts an. Sie überlegte krampfhaft, wie sie das Gespräch in eine andere Richtung lenken könnte.

Evi kam ihr dabei zu Hilfe. »Was ist das für eine Familie, bei der du wohnst?«, fragte sie.

Erfreut, über etwas Angenehmes reden zu können, erzählte Betti: »Es ist ein junges Ehepaar mit seinem Kind, dem kleinen Peter. Er ist blond und …«

»Ist Peter so alt wie ich?«, wollte Evi wissen.

»Nein, Peterle ist jünger. Er ist erst ein Jahr alt, also beinahe noch ein Baby.«

»Ach! Und er hat eine Mutti und einen Vati«, stellte Evi ein wenig neidisch fest.

Evis Mutter räusperte sich vernehmlich, sagte jedoch nichts.

»Hat Peter eine liebe Mutti und einen lieben Vati?«, fragte die Kleine weiter.

»O ja«, erwiderte Betti. »Peters Vater ist Tierarzt. Außerdem hat er zusammen mit seiner Frau ein Tierheim eingerichtet. Es heißt Waldi & Co. Der Chef des Tierheims ist nämlich ein Langhaardackel, der auf den Namen Waldi hört.«

Betti erzählte nun nicht nur von Waldi, sondern auch von den übrigen Insassen des Tierheims.

Evi hörte ihr mit immer größer werdenden Augen zu. »Ich möchte auch einmal das Pferdchen Billy und den Esel Fridolin und die Bären und die Hunde und alles andere sehen«, meinte sie schließlich sehnsüchtig.

»Wenn wir wieder zu Hause sind, werde ich mit dir einen Zoo besuchen«, schaltete sich ihre Mutter ein.

»Fein! Aber wirst du auch Zeit dafür haben?«, fragte Evi misstrauisch.

»Wir werden sehen«, erwiderte die Mutter.

Evi sah betrübt drein, sodass Betti sich bemüßigt fühlte, sie abzulenken. »Besuchst du einen Kindergarten?«, erkundigte sie sich.

»Ja. Aber es gefällt mir dort nicht«, erklärte Evi. »Die Tante ist so streng, und die anderen Kinder sind älter als ich. Bitte, erzähl mir noch etwas von Waldi und Hexe und Pucki und Purzel.«

Betti erfüllte dem Kind gern diesen Wunsch. Ihre Schilderung war so farbig, dass Evi wie gebannt lauschte.

»So, jetzt muss ich mich aber fertig machen zum Aussteigen«, sagte Betti nach geraumer Zeit. »Beinahe hätte ich übersehen, dass die nächste Station Maibach ist.«

»Du steigst schon aus? Schade. Steigen wir auch aus, Mami, oder fahren wir noch weiter?«

»Wir müssen noch weit fahren«, erklärte Evis Mutter.

»Schade«, wiederholte Evi. »Ich hätte dir noch stundenlang zuhören können«, wandte sie sich wieder an Betti. »Wie heißt du eigentlich?«

»Betti.«

»Auf Wiedersehen, Betti. Vielleicht …, vielleicht treffen wir uns wieder einmal. Meinst du nicht?«

»Ich weiß nicht …« Betti hielt diese Möglichkeit für wenig wahrscheinlich, doch das wollte sie dem Kind nicht sagen. Sie verabschiedete sich nun auch von der Mutter und griff nach ihrem kleinen Koffer. Dann verließ sie das Abteil und trat auf den Gang hinaus.

Betti machte zunächst ein paar Schritte in Richtung des vorderen Ausgangs, doch dann überlegte sie es sich anders. Sie befand sich im vordersten Waggon des Zuges. Deshalb würde es beim Einfahren in die Station für sie günstiger sein, den hinteren Ausstieg zu benützen. Sie würde ohnehin noch ein Stück zurückgehen müssen, um zum Ausgang des Bahnhofes zu gelangen. Deshalb ging sie jetzt gleich nach hinten, um dort auszusteigen.

»Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen, Betti!«

Betti drehte sich um. Evi war es irgendwie gelungen, die Tür des Abteils zu öffnen. Sie stand auf dem Gang und winkte der neugewonnenen Freundin nach. Sie sah ein wenig traurig aus, und schien drauf und dran, Betti zu folgen.

»Auf Wiedersehen, Evi. Nein, du darfst mir nicht nachlaufen. Ich steige gleich aus. Geh zurück zu deiner Mutti ins Abteil!«

Betti konnte nicht mehr erkennen, ob Evi dieser Aufforderung nachkam. Im gleichen Augenblick, als sie sie aussprach, ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen. Betti wurde zu Boden geschleudert und wusste nicht mehr, wo sie sich befand. Ein paar Sekunden später rappelte sie sich jedoch wieder auf. Einen Moment lang fühlte sie überhaupt nichts, doch dann machte sich ein tobender Schmerz in ihrem rechten Schienbein bemerkbar. Sie blickte an sich herab und sah, dass ihre Strumpfhose zerfetzt war und an ihrem Bein Blut herabfloss. Sie biss die Zähne zusammen und murmelte: »Nur nicht ohnmächtig werden. Was mag nur geschehen sein?«

Vorsichtig trat Betti mit dem rechten Fuß auf. Obwohl er höllisch schmerzte, war ihr sofort klar, dass er nicht gebrochen sein konnte, denn sie konnte ihn belasten.

Betti fuhr sich über die Stirn. Um sie herum herrschte ein wüstes Durcheinander. Die Scheiben der Fenster und Abteiltüren waren zerbrochen, die Rahmen verbogen, das Holz zersplittert.

»Ein Zugunglück. Der Zug muss mit einem anderen zusammengestoßen sein«, sagte Betti ein paarmal leise vor sich hin. Sie vermochte nicht zu fassen, dass ihr so etwas zugestoßen war.

Die gellenden Schreie, die unaufhörlich aus einem der zerstörten Abteile drangen, brachten Betti in die Wirklichkeit zurück. Da drinnen gab es Verletzte, die sich allem Anschein nach nicht selbst befreien konnten. Sie musste versuchen, ihnen zu helfen.

Betti bemühte sich erfolglos, eine aus den Angeln gehobene Tür, die verklemmt war, beiseitezuschaffen. Ihre Kraft reichte dazu einfach nicht aus. Und dann hörte sie plötzlich etwas, was sie augenblicklich von den Schreien ablenkte. »Mami, Mami«, schluchzte ein verzweifeltes Stimmchen.

Evi! Das konnte nur Evi sein, die Kleine, mit der sie sich eben unterhalten hatte.

Betti brauchte nicht lange zu suchen. Das Kind saß unweit von ihr auf dem Boden und blickte mit weit aufgerissenen Augen starr vor sich hin.

Betti eilte auf Evi zu und stolperte dabei über ihren Koffer, der ihr vorhin aus der Hand gefallen war. Sie griff nach dem Kind und hob es hoch.

»Evi! Mein kleiner Liebling!« Ängstlich betrachtete sie die Kleine. Nein, Evi schien unverletzt zu sein. Es war beinahe ein Wunder.

»Tut dir etwas weh?«, fragte Betti trotzdem besorgt.

Das Kind sah sie an, aber seine Blicke schienen durch sie hindurchzugehen.

»Erkennst du mich nicht mehr? Ich bin es, Betti.«

»Betti«, wiederholte Evi tonlos, doch dann kehrte die Erinnerung langsam zurück. »Ja, du bist Betti. Du hast mir von Waldi erzählt, und dann wolltest du aussteigen. Warum …, warum bist du jetzt hier? Was war das, der Krach …, und …«

Betti drückte Evi an sich und strich ihr über das dunkle Köpfchen. »Dir ist nichts geschehen«, flüsterte sie dabei.

Evi hob den Kopf. »Da schreit jemand. Hörst du es?« Sie schauderte zusammen. »Mami? Ist das Mami? Wo ist meine Mami? Mami! Mami!« Die Stimme des Kindes steigerte sich, es brüllte nun beinahe.

»Vielleicht ist deine Mami schon draußen auf dem Bahnsteig«, sagte Betti, obwohl sie wenig Hoffnung hatte, dass diese Vermutung zutraf. Doch auf alle Fälle wollte sie den Zug verlassen. Sie konnte nicht verantworten, mit dem Kind länger hierzubleiben.

Die lauten Schreie waren plötzlich verstummt. Dafür vernahm Betti von woanders ein dumpfes Stöhnen. Nein, sie konnte das nicht länger ertragen. Sie war zu schwach, um zu helfen. Ihre vordringliche Aufgabe war es, das Kind von hier wegzubringen.

Betti stolperte mit dem Kind auf dem Arm aus dem Zug, hinaus auf den Bahnsteig. Dort standen die Passagiere der hinteren Waggons, die unverletzt zu sein schienen.

»Eine Weiche war falsch gestellt«, hörte Betti jemanden sagen.

»Der vorderste Wagen ist arg zugerichtet. Ob da noch jemand drin ist?«

»Ja«, sagte Betti, »ich habe gehört, dass jemand geschrien hat.«

»Wir müssen nachsehen, ob wir etwas tun können«, sagte ein Mann entschlossen. Ein paar andere folgten ihm.