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Roman Klementovic

Immerstill

Thriller

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Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

Das E-Book entspricht der 3. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © lumpozumpo / photocase.de

und © Denise-Sophie / photocase.de

ISBN 978-3-8392-5030-3

Widmung

Für Anna

 

Zitat

Wenn alles in einem schreit LAUF!,

sollte man dann nicht darauf hören?




Montag, 9. Februar

1

Das Heizungsgebläse lief auf Hochtouren, damit die Scheiben nicht weiter beschlugen, der blassgelbe Duftbaum, auf dem »Tropical« stand und der nur noch nach Karton roch, baumelte wild vom Rückspiegel herunter, und Roxettes »It must have been love« dröhnte aus den Boxen des Autoradios. Normalerweise liebte ich solche Rock-Schnulzen, aber jetzt war ich gar nicht in der Stimmung dafür. Ein Blick auf den Tacho – 39 km/h – und das auf der Bundesstraße. Aber mehr ließen die stockdunkle Nacht, der nasse Asphalt und die dichten Nebelschwaden nicht zu.

Verfluchter Winter!

Ich hing knapp hinter der Windschutzscheibe und klammerte mich verkrampft am Lenkrad fest, während sich der schmale Lichtkegel der Scheinwerfer durch die Dunkelheit schnitt. Das endlose Schwarz links und rechts davon war mir unheimlich. Meine Hände waren schweißnass, meine Augen brannten und immer wieder schossen mir dieselben Fragen durch den Kopf: Wo konnte sie nur stecken? War ihr etwas passiert? Und wieso ausgerechnet jetzt, genau drei Jahre danach? War es Zufall oder hatte ihr Verschwinden mit den Geschehnissen von damals zu tun? Ich machte mir große Sorgen. Glaubte nicht daran, dass ich übertrieben reagierte.

Kurzes Hoffen, als mein Handy auf dem Beifahrersitz läutete. Doch es war nicht sie, die mich endlich zurückrief. Auf dem Display erschien schon wieder nur Toms Name. Ich drehte Roxette lauter und zwang mich, nicht ranzugehen.

It must have been love but it’s over now

It’s where the water flows, it’s where the wind blows

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis der schrille Standardklingelton verstummte. Erst jetzt merkte ich, dass ich die ganze Zeit über die Luft angehalten und scheinbar jeden Muskel meines Körpers angespannt hatte. Ich atmete tief durch, versuchte locker zu werden, doch es wollte mir nicht gelingen.

Ich fühlte mich verloren. Einsam. Und aus irgendeinem Grund auch schuldig.

Seit geraumer Zeit war ich keinem anderen Fahrzeug mehr begegnet. Ich sehnte mich nach irgendeinem Lebenszeichen, hätte mich schon über ein fahles Licht in weiter Ferne gefreut. Aber nichts.

Langsam nahm ein Verkehrsschild in der Dunkelheit vor mir Formen an. Ich kniff meine Augen zu schmalen Schlitzen und versuchte etwas zu erkennen. Dann endlich: »Grundendorf 9 km«.

Bald hatte ich es also geschafft. Dabei wusste ich gar nicht so recht, ob ich mich wirklich darüber freuen sollte. Beim Gedanken daran, meinen Vater gleich wiederzusehen, verkrampfte sich mein Magen. Es war nicht so, dass ich ihn nicht gernhatte. Es war nur – ach, ich weiß auch nicht. Irgendwie passten wir ganz einfach nicht zueinander, hatten uns nichts mehr zu sagen. Und seit dem Tod meiner Mutter war alles noch komplizierter geworden. Mein Vater meldete sich mittlerweile nur noch zu Weihnachten und an meinem Geburtstag, und wenn er bei einem meiner seltenen Anrufe einmal ranging, redete er kaum etwas, und man musste ihm jeden einzelnen Wortfetzen aus der Nase ziehen. Tagein, tagaus verkroch er sich in seiner Werkstatt und arbeitete dort von frühmorgens bis spät in die Nacht hinein. Die Arbeit war zu seinem einzigen Lebensinhalt geworden. Ansonsten wusste ich kaum mehr etwas über ihn.

In der Dunkelheit vor mir tauchte endlich die scharfe Abzweigung nach Grundendorf auf. Ich drosselte die Geschwindigkeit weiter, verließ die Bundesstraße und folgte einer schmalen, schlecht asphaltierten Landstraße mit unzähligen Schlaglöchern und tiefen Regenpfützen. Auf einmal schien es mir, als ob der Nebel dichter und die Nacht noch schwärzer geworden war. Die alten Kirsch- und Nussbäume zu beiden Seiten der Straße sahen wie bizarre Wesen aus, die mich an der Weiterfahrt hindern wollten.

So nahe war ich meinem Heimatdorf schon lange nicht mehr gewesen. Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken, die Erinnerung an die Ereignisse von damals übermannte mich. Drei Jahre und zwei Tage war es nun schon her, dass Linda und Markus verschwunden waren. Drei Jahre und zwei Tage der Ungewissheit, was mit ihnen geschehen war. Hatten sie das alljährliche Grundendorfer Faschingsfest am Abend ihres Verschwindens jemals erreicht? Niemand hatte es mit Sicherheit sagen können, da fast alle Gäste verkleidet gewesen waren. Waren sie gemeinsam durchgebrannt? Kaum vorstellbar, da Markus als Einzelgänger galt und die hübsche und frühreife Linda wohl kaum etwas mit ihm angefangen hätte. Waren sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen, entführt oder gar ermordet worden? Auch dafür gab es nicht die geringsten Anhaltspunkte. Ihr spurloses Verschwinden war bis heute ein Rätsel.

Ich hatte schon lange nicht mehr an die beiden gedacht, sie waren zu einer vagen Erinnerung verblasst, die irgendwie unwirklich erschien – bis zum heutigen späten Nachmittag jedenfalls. Seitdem spukten die Ereignisse von damals in meinem Kopf herum, und ich war auf dem Weg in meine alte Heimat Grundendorf. Der Grund? Wenige Stunden zuvor hatte ich einen Anruf von meinem Vater bekommen.

Ich war gerade in einem Meeting mit zwei präpotenten und nervtötenden Vertretern gewesen, die glaubten, mich mit ihrer breitbeinigen Sitzhaltung, ihrem schmierigen Grinsen und ihren anzüglichen Witzen beeindrucken zu können, als mein stumm geschaltetes Handy vor mir auf dem Tisch zu vibrieren begann.

»Papa«, zeigte das Display an, und augenblicklich regte sich ein ungutes Gefühl in mir. Instinktiv wusste ich, dass etwas passiert war. Ich griff zum Telefon, hetzte aus der Galerie hinaus in die eisige Kälte und ließ die beiden notgeilen Affen alleine zurück.

»Hallo, Papa.«

»Lisa?« Seine Stimme war brüchig.

»Ja?«

»Störe ich dich?«

»Nein, nein – es geht schon.«

»Gut … wie … wie geht’s dir?«

»Ganz okay.«

»Mh.«

»Und dir, Papa?«

»Ich ruf an, weil … weil …«

»Was ist los?«

Ein tiefes Seufzen. »Maria … sie ist …«

Das ungute Gefühl in mir war schlagartig zu Angst geworden, als mein Vater den Namen meiner Schwester ausgesprochen hatte. Sie hatte sich in jeder Faser meines Körpers festgesetzt. Mein Herz schlug schneller.

Meine Stimme zitterte: »Was ist mit Maria?«

»Sie ist verschwunden. Seit dem Faschingsfest am Samstag.«

2

Still, es war totenstill. Und kalt. Ich saß mit meinem Vater in der kleinen Küche meines Elternhauses und rieb mir die Hände, weil es mich fröstelte.

Seit meinem Auszug vor etwas mehr als zweieinhalb Jahren hatte sich auf den ersten Blick kaum etwas verändert. Doch bei genauerer Betrachtung fiel mir auf, wie heruntergekommen mittlerweile alles war. Die Orchidee auf dem Fensterbrett war verendet, die Wanduhr über der Mikrowelle war stehen geblieben und zeigte sechs nach neun an. Zwei der vier flammenförmigen Glühbirnen der Deckenleuchte waren kaputt, die anderen beiden waren verstaubt und gaben nur mehr ein fahles Licht ab. An der Decke und in den Ecken hingen Spinnweben, auf den hellgrauen Wandfliesen hinter dem Herd klebten eingetrocknete Sugospritzer, und im Küchenrollenhalter steckte eine nackte Kartonrolle. Der Messerblock aus Kiefernholz, den ich meinem Vater zu seinem letzten Geburtstag geschenkt hatte, wirkte unbenützt und als ob er nicht hierhergehörte. Nur das gerahmte Familienfoto hing immer noch neben dem schweren Holzkreuz über dem Esstisch. Es war im September 2011 an Tante Hannelores Geburtstag entstanden. Meine Eltern strahlten darauf, meine Schwester auch. Obwohl ich mich erinnere, diesen Tag sehr genossen zu haben, war mein Gesichtsausdruck ernst. Als ob ich damals bereits geahnt hatte, dass schon wenige Wochen später das Unglück über uns hereinbrechen würde. Dass meine Mutter bald nicht mehr bei uns sein würde.

Ich versuchte die schmerzhaften Erinnerungen abzuschütteln und wandte mich meinem Vater zu, der mir zusammengesunken und mit hängendem Kopf gegenübersaß. Der Mensch vor mir hatte so gar nichts mehr mit meinem Vater auf dem Familienfoto zu tun. Er wirkte verwahrlost und viel zu alt für seine 47 Jahre – und daran hatte nicht nur der zottelige Vollbart Schuld, den er sich vor einigen Monaten hatte wachsen lassen und der sein breites Kinn verdeckte. Nein, vor allem auch die tiefen Falten in seinem Gesicht, die sich seit Mutters Tod so rasant vermehrten, ließen ihn älter aussehen – sie wirkten wie Hunderte feine Risse in einer Fensterscheibe, die sich im eisig kalten Wintersturm immer weiter ausbreiteten. Mein Vater starrte regungslos auf die dunkelgrauen, verstaubten Bodenfliesen. Der alte Holzstuhl knarrte ab und zu unter seinem Gewicht. Der Kräutertee, den ich ihm vorhin gemacht hatte, stand unberührt vor ihm auf dem Tisch. Er schien ihn gar nicht wahrzunehmen. Ich nippte an meinem. Er war bereits kalt geworden und schmeckte nach nichts. Der Heizkörper gab ein Glucksen von sich. Der Wasserhahn begann zu tropfen.

»Warum hast du mich nicht schon früher angerufen?«, fragte ich schließlich nach einer langen Zeit des Schweigens.

Er sagte nichts, begann stattdessen an seinen langen grau melierten Barthaaren zu zupfen. Ich konnte ihm ansehen, dass er in seinen Gedanken nicht hier bei mir, sondern bei Maria war.

»Papa?«

Schwerfälliges Durchatmen. »Musst du denn morgen nicht zur Arbeit?«

»Ich habe mir ein paar Tage freigeschaufelt.«

»Das geht so einfach?«

»Papa, es ist meine Galerie. Mach dir darum keine Sorgen.« Es wäre der falsche Zeitpunkt gewesen, meinem Vater von den finanziellen Problemen und den ausbleibenden Kunden zu erzählen. Davon, dass es ziemlich sicher niemanden kratzte, wenn die Galerie ein paar Tage geschlossen blieb.

»Ah.«

»Warum hast du denn nicht schon früher etwas gesagt?«

Mein Vater seufzte, schien völlig kraftlos. »Ich weiß auch nicht, ich …«

Ich starrte ihn an, wartete auf eine Fortsetzung. Sie kam nicht.

»Hat Maria vielleicht irgendetwas gesagt oder ist sie komisch gewesen, bevor sie verschwunden ist?«

»Nein«, sagte er und kaute an seiner Unterlippe. Als ich schon gar nicht mehr damit rechnete, fuhr er fort: »Sie hat nur gesagt, dass sie sich dann fertig machen und auf das Faschingsfest gehen wollte. Ich bin in die Werkstatt gegangen und erst nach ein paar Stunden zurück ins Haus gekommen. Da ist sie schon weg gewesen.«

»Und seitdem hast du nichts mehr von ihr gehört?«

Er nickte kaum merklich.

»Und ihr Handy war immer ausgeschaltet?«

Wieder wortloses Nicken.

Ich rieb mir mit beiden Händen das Gesicht, atmete tief durch, versuchte trotz meiner innerlichen Anspannung einen klaren Kopf zu behalten und logisch zu denken. »Hast du die Leute im Ort gefragt, ob sie wer gesehen hat?«

»Ja.«

»Wann?«

»Heute.«

»Wieso erst heute?«

»Ich dachte … ich …« Der Satz verlief im Nichts.

»Wen hast du denn gefragt?«

»Ein paar Leute halt.«

»Was heißt ›ein paar‹?«

»Na, einige halt.«

Ein tiefer Atemzug. »Und keiner weiß etwas?«

Er schüttelte den Kopf.

»Und was ist mit Marias Freundinnen? Hast du mit denen schon gesprochen?«

»Schon, aber …« Er begann wieder an seinem Bart zu zupfen.

Es war offensichtlich, dass mein Vater das Problem nicht wahrhaben wollte. Aber ebenso klar war, dass uns stummes Hoffen nicht weiterbringen würde.

»Papa, wir müssen …«

»Du hättest nicht extra kommen müssen, Lisa. Es wird schon nichts passiert sein«, unterbrach er mich und versuchte sich in einem Lächeln, was ihm gründlich misslang.

»Papa!«

Er sah mich an wie ein kleiner, trauriger Junge, der nicht wusste, warum er hier bei mir sitzen und sich rechtfertigen musste.

»Hast du schon die Polizei informiert?«

Sein Blick wanderte zum Familienfoto an der Wand. Er blieb stumm.

»Hast du oder hast du nicht?«

»Noch nicht.«

»Und warum nicht? Worauf willst du warten?«

»Vielleicht kommt sie ja noch.«

»Papa, Maria ist seit Samstagabend verschwunden. Jetzt haben wir Montag, bald Mitternacht.«

Der Mund meines Vaters öffnete sich, aber es drangen keine Worte daraus.

»Wir müssen die Polizei informieren«, drängte ich ihn, obwohl mir selbst unwohl dabei war. Das Wiedersehen mit Patrick würde bestimmt nicht leicht werden. Ich versuchte mir erst gar nicht auszumalen, wie er wohl reagieren würde, wenn ich auf einmal vor ihm stand.

Es dauerte eine Weile, dann sah mich mein Vater an.

»Gleich morgen früh, in Ordnung?«

Zögerliches Nicken.

 

 




Dienstag, 10. Februar

3

Kurz vor 1 Uhr nachts.

Mein Vater hatte sich schlafen gelegt. Besser gesagt, war er irgendwann nach einer endlosen Zeit des Schweigens aufgestanden, hatte etwas gemurmelt, von dem ich annahm, dass es »Gute Nacht« bedeuten sollte und hatte sich in sein Schlafzimmer zurückgezogen. Ich bezweifelte allerdings, dass er in dieser Nacht auch nur eine Minute Schlaf finden würde.

Ich war alleine in der kalten Küche zurückgeblieben, hatte ein wenig abgewartet und mich dann auf Zehenspitzen die Stufen hinauf in den ersten Stock und durch den finsteren Flur in Marias Zimmer geschlichen. Bei jedem verräterischen Knarren der Stufen und des alten Holzbodens hielt ich inne und verzog mein Gesicht unwillkürlich zu einer Grimasse. Ich wollte nicht, dass mein Vater mich dabei hörte, wollte ihn nicht beunruhigen. Doch in mir hatte sich längst eine beißende Unruhe festgesetzt, und pausenlos quälte mich die gleiche Frage: War Maria in Gefahr?

Behutsam schloss ich ihre Zimmertür hinter mir und machte rasch das Licht an. Ich hasste Dunkelheit. Keine Ahnung, warum, aber sie machte mir Angst. Selbst jetzt noch, mit meinen 24 Jahren. Selbst hier in meinem Elternhaus, in dem ich mehr als 21 Jahre und somit den Großteil meines Lebens gewohnt hatte. Vielleicht war irgendein Erlebnis in meiner Kindheit daran schuld, vielleicht eine letzte Erinnerung an ein früheres Leben, vielleicht ein dummer Film, den ich längst verdrängt hatte.

Während die Energiesparlampe nur langsam ihre volle Leuchtkraft entfaltete, sah ich mich im Zimmer meiner Schwester um. Trotz der Leere konnte ich ihre Anwesenheit regelrecht spüren. Maria war mittlerweile zu einer jungen Frau herangewachsen, das konnte ich deutlich erkennen. Die grelle rote Wandfarbe war einem schlichten Weiß gewichen, unter dem Dachfenster stand eine prächtig gedeihende schulterhohe Palme. Die Poster von gut aussehenden Schauspielern und Boybands mit nackten Oberkörpern waren von den Wänden verschwunden – mit 20 war man selbst auf dem Land zu alt dafür. Sie waren durch Ikea-Bilder, die Metropolen wie New York, London und Paris zeigten, ersetzt worden. Waren sie etwa Ausdruck einer Sehnsucht meiner Schwester? Hatte sie aus ihrem Leben ausbrechen wollen? Weg aus Grundendorf, diesem kleinen, trostlosen Kaff? Oder waren die Bilder nur Zeuge eines konformen, postpubertären Geschmacks? So vieles hatte sich verändert, aber von ihrem einäugigen Stoffhund Rufus hatte Maria sich nicht trennen können – er lag unbeirrt auf dem Kopfpolster und starrte an die Decke, als wäre nichts passiert.

Ein Blick in ihren Kleiderkasten. Er war vollgestopft, fast jeder Bügel belegt. Auch die Unterwäscheladen quollen über. Ich musste die Sockenknäuele flachdrücken, um die Lade schließen zu können, ein BH-Träger schaute heraus, ich stopfte ihn hinein. Das unterstrich meine Vermutung, dass Maria nicht einfach ausgerissen war – dann hätte sie doch zumindest Kleidung für ein paar Tage mitgenommen.

Auf der schmalen Kommode an der Fußseite des ungemachten Betts standen ein kleines Keramikschälchen mit unzähligen Ketten, Ohrringen und sonstigem Modeschmuck, daneben zwei pastellfarbene Parfümfläschchen und ein paar gerahmte Fotos. Ein Klassenfoto in einem weißen Holzrahmen erregte meine Aufmerksamkeit. Ich nahm es in die Hand und betrachtete es näher. Es war vor knapp vier Jahren aufgenommen worden, weniger als ein Jahr vor Lindas Verschwinden. Maria war damals 17 gewesen und trug ihre braune Mähne noch so lang, dass sie ihr fast bis zum Hintern reichte – als ich sie zum letzten Mal gesehen hatte, waren sie nur noch schulterlang gewesen. Sie strahlte in die Kamera – ein schiefes Lächeln, frech und unbekümmert, wie es ihre Art war. Wenn sie diesen Blick aufgesetzt hatte, konnte man sich nie sicher sein, was sie gerade dachte oder im Schilde führte. Ich glaube, das wusste Maria genau – und sie genoss es. Links daneben ihre damalige beste Freundin Linda. Auch sie lächelte – ein liebliches, verspieltes und selbstbewusstes Lächeln, eines von der Sorte »mir geht es gut und die Welt ist schön«. Was für ein wunderschönes Mädchen sie doch gewesen war. Und so viel reifer, als es ihre 17 Jahre hätten vermuten lassen. Bestimmt hatte sie einer ganzen Reihe von Burschen im Dorf den Kopf verdreht.

Bilder blitzten vor meinem geistigen Auge auf, Erinnerungen an die unzähligen Abende, an denen Linda bei Maria übernachtet hatte. Bei uns im Haus. Hier in diesem Zimmer. In dem Bett, neben dem ich gerade stand. Ich setzte mich an die Kante, streifte mit den Fingerspitzen über den Flanellbezug von Marias Polster, nahm ihren Stoffhund und drückte ihn ganz fest an mich. Als ich die Augen schloss, war es fast so, als konnte ich ihre Anwesenheit spüren, ihrer beider Stimmen hören, ihr Lachen.

Ich legte Rufus zurück auf den Polster und warf einen letzten Blick auf das Klassenfoto. In der hintersten Reihe rechts außen stand Markus. Obwohl er von so vielen Menschen umgeben war, wirkte er irgendwie einsam, sein Gesichtsausdruck war nichtssagend, fast schon leer. Mir wurde klar, dass ich ihn überhaupt nicht gekannt hatte, er mir bis zu seinem Verschwinden kaum aufgefallen war und ich fast nichts über ihn wusste – bis auf das, was die Leute im Dorf hinter vorgehaltenen Händen über ihn redeten: dass er etwas langsam im Kopf war, ein wenig zurückgeblieben halt.

Maria. Linda. Markus. Drei Menschen aus demselben Dorf. Aus derselben Klasse. Alle drei spurlos verschwunden.

Was ging hier vor?

Schuldgefühle überfielen mich, und ich konnte regelrecht spüren, wie es mir den Magen zusammenzog. Weshalb hatte ich mich nicht öfters bei meiner kleinen Schwester gemeldet, hatte sie gefragt, wie es ihr ging oder sie zu mir nach Wien eingeladen? Hatte es ausschließlich an mir gelegen, dass unsere Beziehung so oberflächlich geworden war? Gott, ich würde es nicht ertragen können, wenn ihr etwas zugestoßen war.

Ich wischte mir die Augen trocken und stellte das Foto zurück auf die Kommode. Rückte es sorgfältig zurecht, strich noch einmal darüber und betete, dass es Maria gut ging.

4

Später lag ich im schmalen Bett meines alten Zimmers, das seit meinem Auszug unverändert geblieben war, und starrte an die spärlich von meiner Nachttischlampe erhellte und mit Spinnweben übersäte Decke. Die Wände waren kahl und weiß gestrichen, alle Bilder hatte ich beim Auszug mitgenommen. Keine Pflanzen, keine Farben. Der Raum strahlte das aus, was er war – leblos und verlassen. Das Fenster war etwas undicht, die Spinnweben und die Vorhänge in ständiger Bewegung.

Es gelang mir nicht, meine Sorgen auszublenden und einzuschlafen. Pausenlos dachte ich an meine Schwester und versuchte mich zu erinnern, wann ich sie zum letzten Mal gesehen oder mit ihr telefoniert und worüber wir gesprochen hatten. War es an Weihnachten gewesen? Doch sosehr ich mich auch anstrengte, ich konnte mich nicht erinnern. Rastlos wälzte ich mich von einer Seite zur anderen, immer und immer wieder. Der Holzrahmen knarrte, die Federn der alten, durchgelegenen Matratze quietschten und bohrten sich in meinen Rücken. Das Bettzeug roch muffig, obwohl ich es zuvor erst frisch überzogen hatte.

Ich tastete nach meinem Handy, das auf dem Nachtkästchen lag. Es zeigte 2.23 Uhr. Außerdem drei verpasste Anrufe und fünf SMS. Leider alle von Tom. Ich zwang mich dazu, sie zu ignorieren, wählte zum gefühlten 100. Mal in den letzten Stunden Marias Nummer und konnte die Anspannung kaum ertragen. Aber wieder erklang sofort die Standardansage ihrer Mobilbox: »Sie befinden sich in der Mobilbox der Nummer …« Ich wollte etwas sagen, fand aber meine Stimme nicht und legte noch vor dem Piepton auf. Dann schrieb ich ihr eine SMS: »Bitte melde dich bei mir oder Papa!!! Wir machen uns Sorgen!!! Lisa«

Ich legte das Telefon zurück auf das Nachtkästchen und wandte ihm den Rücken zu. Tu’s nicht!, befahl ich mir immer wieder. Tu’s nicht! Eine Minute später wurde ich doch schwach und las Toms SMS:

19:51: Es tut mir leid. Bitte ruf mich an, wenn du angekommen bist. Kuss Tom

20:21: Lisa, es tut mir wirklich leid. Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Kuss Tom

22:38: Warum rufst du nicht zurück? Tom

23:17: Hoffe, du bist stolz auf dich. Glaubst du etwa, das beeindruckt mich, wenn du mich ignorierst?

23:45: Es tut mir leid. Kuss

Ich seufzte. Griff nach meinem Magen und unterdrückte die Tränen.

Mit zittrigen Fingern tippte ich zur Antwort: »Mir tut es auch leid.« Ich grübelte, löschte den Text, schrieb: »Ich rufe dich morgen früh an.« Ich starrte auf die Zeilen, löschte auch diesen Text und schrieb: ›Bin gut angekommen.‹ Dann drückte ich auf Senden. Keine Minute später war mein schlechtes Gewissen so groß, dass ich Tom noch eine weitere SMS schickte: »Mir tut es auch leid.«

5

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war mir so kalt, dass es mich regelrecht schüttelte. Trotzdem war mein Flanellpyjamaoberteil durchgeschwitzt und klebte an meiner Haut. Mein Kreuz tat weh, mein Nacken fühlte sich steif an. Ich hatte in der letzten Nacht höchstens zwei bis drei Stunden geschlafen – und selbst dieser Schlaf war hauchdünn gewesen. Ich hatte mich kaum erholt und absurde Albträume gehabt.

In meinem letzten Traum war ich alleine und hatte splitterfasernackt in einem endlosen Meer aus kahlen Äckern gestanden. Der Wind hatte über die Landschaft hinweggepeitscht, und ich hatte Mühe gehabt, mich auf den Beinen zu halten. Nussbäume hatten mich umzingelt und mir bedrohlich ihre langen, bizarren Äste entgegengestreckt. Dahinter hatte sich eine dichte, undurchdringliche Nebelwand bis in die tief hängenden dunklen Regenwolken aufgetürmt. Vertraute Stimmen und Gelächter um mich herum, aber niemand zu sehen. Dann Geflüster, ich hatte spüren können, wie auf mich gezeigt wurde. Ich hatte mich beobachtet gefühlt, in Gefahr. Hatte versucht, meinen nackten Körper so gut es ging mit meinen Händen abzudecken. Hatte weglaufen wollen, egal wohin – einfach nur weit weg. Aber meine Beine waren im schlammigen Ackerboden versunken gewesen. Keine Chance mich zu befreien, sosehr ich mich auch angestrengt hatte. Das Gelächter um mich herum war immer lauter geworden und ich war immer tiefer und tiefer eingesunken, bis ich bis zum Hals in der nassen Erde gesteckt hatte. Irgendetwas in der Tiefe hatte nach meinen Beinen gegriffen, ich hatte es ganz deutlich spüren können. Lange, knochige Krallen. Sie hatten meine Knöchel umschlossen und daran gezerrt. Ich hatte geschrien wie am Spieß, doch der Wind hatte jeden Laut verschluckt und weit davongetragen. Plötzlich ein Ruck. Und ich war in die finstere Tiefe gezogen worden.

Da war ich mit einem Schrei aufgewacht.

Meine langen Haare klebten nass in meinem Nacken. Ich hob sie an, um ein wenig Luft rankommen zu lassen. Ich machte die Nachttischlampe aus, die ich die ganze Nacht über angelassen hatte, rieb mir das Gesicht und streckte meine müden Knochen. Es knackte leise. Bevor ich die schwere Decke zur Seite schlug und mich aus dem Bett kämpfte, warf ich einen hoffnungsvollen Blick auf mein Handy. Drei entgangene Anrufe und drei SMS von Tom. Aber Maria hatte sich immer noch nicht gemeldet. Ich wählte ihre Nummer, kam aber wieder nur in ihre Mobilbox. Nach dem Piepton hinterließ ich ihr mit brüchiger Stimme eine Nachricht: »Ich bin’s, Lisa. Maria, wo bist du? Wir machen uns schon Sorgen … Bitte meld’ dich bei mir oder Papa.«

Dann widmete ich mich Toms Anrufen und SMS:

04:09: War noch in der Bar und hab ein wenig getrunken. Ich liebe dich. Ruf mich an. Kuss Tom

04:14: Warum hebst du nicht ab?

04:17: Heb ab!

Noch während ich darüber grübelte, ob ich Tom anrufen sollte oder nicht, hatte ich bereits seine Nummer gewählt. Die Verbindung wurde aufgebaut. Ich hielt die Luft an, mein Puls flatterte. Quälende Augenblicke. Doch zum Glück sprang noch vor dem ersten Läuten seine Mobilbox an. Erleichterung ergriff mich, ich legte auf und atmete tief durch. Ich schrieb ihm eine SMS, in der ich versprach, mich im Laufe des Tages bei ihm zu melden. Dann kroch ich aus dem Bett.

Als ich nach unten ins Erdgeschoss kam, wurde meine leise Hoffnung, dass Maria in der Zwischenzeit wieder aufgetaucht war, von einer beklemmenden Stille zerschmettert.

»Hallo?«, rief ich zögerlich.

Keine Antwort. Weder von Maria noch von meinem Vater war etwas zu sehen oder zu hören. Auch die Küche war leer. Ich griff nach dem Heizkörper – er war glühend heiß. Trotzdem war mir eiskalt. Eher aus Gewohnheit warf ich einen Blick in den Kühlschrank, in dem, bis auf eine Milchflasche, eine halb aufgebrauchte Packung Teebutter, einer zerdrückten Tube Senf und einem einzelnen Ei gähnende Leere herrschte. Egal, ich hätte ohnehin keinen Bissen hinuntergebracht.

Ich ging zum kleinen Fenster, unter dem die abgestorbene Orchidee stand, und schob den vergilbten Vorhang beiseite. Die Scheibe war angelaufen, ich versuchte sie mit meinem verschwitzten Pyjamaärmel trocken zu wischen, was kaum gelang. Durch die Schlieren hindurch starrte ich hinaus in den Garten an der Rückseite des Hauses. Das Gras war mit einer Schicht Raureif überzogen, an einigen Stellen lagen letzte Schneefetzen. Am Himmel hingen schwere dunkelgraue Wolken. Es sah nach Regen aus. Der Nebel hatte sich noch immer nicht gelichtet und schwebte wie ein dichter Schleier über der Landschaft.

In der hintersten Ecke des Gartens lag das alte Häuschen aus Backsteinziegeln, das nahezu vollständig mit irgendwelchen Schlingpflanzen zugewachsen war. Als Kinder hatten Maria und ich es immer »unser Schloss« genannt. Wir hatten oft ganze Tage darin verbracht und dort zu zweit oder gemeinsam mit unseren Freundinnen gespielt. Eigentlich hatten wir Ritter und Prinzessin spielen wollen, hatten uns aber nie darauf einigen können, wer von uns der Ritter sein musste. Also hatten wir einander die Haare gekämmt, uns imaginären Tee in rosa Plastiktassen gereicht und darum gewetteifert, wer von uns die schönste Prinzessin war.

Nun war »das Schloss« Vaters Werkstatt – sein Zufluchtsort, in dem er jede freie Minute verbrachte. Wahrscheinlich, weil er dort nicht ständig mit der Erinnerung an seine verstorbene Frau konfrontiert wurde.

Durch das kleine Fenster drang fahles Licht nach draußen. Ich überlegte, ob ich nach hinten gehen und nach meinem Vater sehen sollte, doch in diesem Moment ging die massive Holztür auf und mein alter Herr trat hinaus in den Garten. Er erstarrte einen Augenblick, als er mich am Fenster stehen sah. Aber auch ich war erschrocken, denn erst jetzt bei Tageslicht fiel mir auf, wie schlecht er wirklich aussah. Er wirkte völlig fertig und noch älter als am Vorabend. Scheinbar nichts war mehr von dem lebensfrohen Mann geblieben, dem die Frauen reihenweise nachgeschaut und den meine Freundinnen manchmal, vor allem um mich zu ärgern, als sexy bezeichnet hatten.

Mein Vater hob die Hand zum Gruß und kam zu mir ins Haus.

»Du hast schon gearbeitet?«, fragte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte sagen sollen.

»Ich hab nicht schlafen können.«

Ich bekam Schuldgefühle, weil ich zumindest ein paar Stunden geschlafen hatte.

»Möchtest du etwas frühstücken?« Er kratzte sich verlegen am Hinterkopf. »Ich weiß gar nicht, ob im Kühlschrank …«

»Nein, danke. Ich hab keinen Hunger.«

»Mh.« Er wich meinem Blick aus.

»Hat sich Maria bei dir gemeldet?«

Schweigend schüttelte er den Kopf.

Ich schluckte.

Mein Vater setzte sich an den Esstisch und vergrub das Gesicht in seinen Händen.

»Okay«, sagte ich nach einer Weile und unterbrach die betretene Stille zwischen uns, »lass uns zur Polizei fahren.«

Er schnaufte.

»Was?«, fragte ich.

»Muss das denn wirklich sein?«

»Natürlich!«

»Vielleicht kommt sie ja …«

»Darauf können wir nicht mehr länger warten.«

»Wir wissen doch gar nicht …«

»Papa!« Meine Stimme war laut geworden.

Mein Vater sah zu Boden und vergrub seine Hände in den Hosentaschen. Er tat mir leid. Ich wollte ihn gerne in den Arm nehmen oder zumindest an der Schulter streicheln, doch ich brachte es nicht über mich.

»Komm, bringen wir’s hinter uns«, sagte ich.

Er nickte.

Da es in Grundendorf keine Polizeiinspektion gab, fuhren wir in den Nachbarort Obermarch, der immer schon größer und von allem ein wenig mehr gewesen war: mehr Einwohner (was bei den knapp 600 Einwohnern Grundendorfs nicht besonders schwer war), mehr Lokale (auch keine besondere Leistung, da es in meinem Heimatdorf nur die Sportkantine des örtlichen Fußballvereins gab), mehr Geschäfte (in Grundendorf gab es kein einziges), ja, seit der einzige Geldautomat des Orts aufgrund zu hoher Betriebs- und Wartungskosten entfernt worden war, führte Obermarch selbst in dieser Kategorie mit eins zu null. Obwohl sich diese Liste noch viel länger fortführen ließe, konnte sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass Obermarch genauso grau und trostlos war wie Grundendorf. Das bunt blühende und wohl gedeihende Marchfeld war meiner Meinung nach nur eine Lüge, die den Konsumenten in der Werbung und auf Tiefkühlgemüseverpackungen aufgeschwatzt wurde. In Wirklichkeit war es ein staubiges und mit giftigen Chemikalien verseuchtes Fleckchen Land, dem längst alles Leben entzogen worden war.

Die Polizeiinspektion war in einem für den Ort überproportional groß wirkenden Gebäude im Dorfzentrum untergebracht, dessen graue Fassade mit der Umgebung zu verschmelzen schien. Davor stand eine Unmenge an Einsatzfahrzeugen und zivilen Wägen. Wir mussten etwas abseits, vor einer kleinen Grünfläche mit einem heruntergekommenen und mit Moos bewachsenen Kriegerdenkmal und ein paar Holzbänken darum herum, parken. Zwei alte Damen mit Kopftüchern und ausgeprägten Buckeln unterbrachen ihren Morgenspaziergang, als ich sie grüßte. Auf ihre Gehstöcke gestützt, betrachteten sie mich feindselig und blieben stumm. War mir mittlerweile etwa schon an einem einfachen »Guten Morgen« anzuhören, dass ich nun in Wien lebte?

Als mein Vater und ich die Polizeiinspektion betraten, war ich von der Vielzahl an Menschen – manche in Uniformen, die meisten aber in Zivil – überrascht, die im Foyer grüppchenweise zusammenstanden und sich besprachen. Pausenlos klingelte irgendwo ein Telefon, die Atmosphäre wirkte angespannt. Ich schnappte ein paar Wortfetzen auf:

… ja, jeden Mann, den ihr entbehren könnt …

… am besten gestern schon …

… natürlich brauchen wir Hunde …

Niemand schien uns wahrzunehmen. Ich versuchte mich zu orientieren, mein Vater blieb dicht hinter mir.

»Lisa?«, hörte ich auf einmal eine vertraute männliche Stimme rufen, und mir wurde ganz flau im Magen.

Da sah ich Patrick auch schon auf mich zukommen. Seine tiefblauen Augen, ja, sein ganzes Gesicht strahlten mich an. Ich war überrascht und unglaublich erleichtert zugleich. Ich hatte schon befürchtet, er könnte … ja, was eigentlich? Mich ignorieren? Mich anschreien? Mir Vorwürfe machen?

»Was machst du denn hier?« Es sah so aus, als wollte er mich umarmen, er streckte mir im letzten Moment dann aber doch nur die Hand entgegen.

Die dunkle Uniform stand ihm, sie unterstrich seine sportliche Figur, seine breiten Schultern. Er sah richtig gut aus – das hatte er immer schon getan. Aber nicht nur deshalb hatte ich mich damals dazu entschlossen, meine Unschuld an ihn zu verlieren und über fünf Jahre mit ihm zusammen zu sein. Patrick war ein warmer, herzlicher und offener Mensch – so ganz anders als all die anderen da draußen. Ich war glücklich mit ihm gewesen, zumindest für eine gewisse Zeit. Dass es mit uns nicht geklappt hatte, hatte wohl zu einem ganz großen Teil an mir gelegen. Ich hatte es nicht mehr länger in Grundendorf und meinem tristen Alltag ausgehalten, hatte ausbrechen wollen, hinaus in die weite Welt. Auch wenn das nur bedeutet hatte, meine Beziehung zu beenden und ins knapp 50 Kilometer entfernte Wien zu ziehen. Patricks Traum von einer gemeinsamen Zukunft platzen zu lassen und ihm dadurch das Herz zu zerreißen, war der Preis, den ich dafür hatte zahlen müssen. Diese Schuldgefühle würde ich wohl nie loswerden.

Nachdem er auch meinem Vater die Hand gereicht hatte, was dieser wortlos hinnahm, wandte Patrick seine Aufmerksamkeit ganz mir zu. »Ich freu’ mich so, dich wiederzusehen.«

Die Situation war mir unangenehm. Ich machte irgendwelche nutzlosen Handbewegungen, suchte nach Worten, fand aber keine. Ich blickte mich Hilfe suchend zu meinem Vater um, doch der stand mit hängenden Schultern da, hatte seine Hände in den Manteltaschen vergraben und starrte auf den Boden.

»Was ist denn hier los?«, versuchte ich die peinliche Situation zu retten. »Warum sind denn hier so viele Menschen?«

»Ja, habt ihr es etwa noch nicht gehört?«

»Nein, was?«

Ich kannte Patrick zu gut. Das Strahlen seiner Augen war verschwunden. Aber auch an seiner Stimme und an seinem Blick merkte ich ganz deutlich, dass etwas nicht stimmte. Eine böse Vorahnung überfiel mich. Ich spürte, wie mein Vater hinter mir einen Schritt näher trat. Patrick berührte mich am Oberarm und führte mich in eine ruhigere Ecke. Mein Vater folgte uns. Patrick sah uns beide abwechselnd an.

»Jetzt sag schon«, drängte ich ihn.

»Ihr wisst es wirklich noch nicht?«

»Was denn bitte?«

»Natalie Brunner.«

Als ich den Namen der Schulfreundin meiner Schwester hörte, geriet ich augenblicklich in Panik. Mein Herz setzte einen Schlag aus. In Sekundenbruchteilen malte ich mir die schlimmsten Szenarien aus, was mit ihr passiert war. Ich musste an Maria denken. Hoffte, dass es ihr gut ging. Ich sah meinen Vater an und war mir sicher, dass er es bereits wusste.

»Was ist mit ihr?«

Patrick zögerte.

Ich schrie ihn an: »Was ist mit Natalie?«

»Sie ist verschwunden. Seit dem Faschingsfest am Samstag.«

6

Unsere Stimmung schien auf die Neonröhren an der Decke übergesprungen zu sein – sie flackerten hektisch, als man uns Licht machte. Nachdem wir Maria auf der Polizeiinspektion in Obermarch offiziell als vermisst gemeldet hatten, waren mein Vater und ich in einen kleinen kahlen Raum mit schulterhohen Holzvertäfelungen an den Wänden und schäbigem Linoleumboden gebracht worden. Es wirkte, als waren wir gleichzeitig auch in ein längst vergangenes Jahrzehnt geführt worden. In der Mitte standen ein zerkratzter Tisch und vier unbequem aussehende Holzstühle, an den Wänden hingen vergilbte und sich aufwölbende Landkarten, außerdem ein Portrait von Thomas Klestil. Wie lange war der schon nicht mehr Bundespräsident? In einer Ecke stand ein Overhead-Projektor.

Patrick war ganz in Sorge, brachte uns grauenvollen Kaffee und fragte immer wieder, ob er sonst irgendetwas für uns tun könnte. Nachdem ich ihm glaubhaft vermitteln konnte, dass wir nichts brauchten, ließ er uns für ein paar Minuten alleine.

Mein Vater starrte die ganze Zeit über auf die Tischplatte, fuhr mit den Fingerspitzen die tiefen Kratzer nach und rührte seinen Kaffee nicht an. Ich stand mit meiner dampfenden Tasse in der Hand am kleinen verdreckten Fenster und blickte, in dunkle Gedanken versunken, in den wolkenverhangenen Tag hi­naus. Keine Menschenseele war draußen zu sehen, das Dorf schien regelrecht ausgestorben. Nur ein paar Krähen zogen ihre Kreise am Himmel. Einmal glaubte ich für einen ganz kurzen Moment, dass mein Vater etwas sagen wollte, drehte mich voller Erwartung zu ihm um, doch es blieb bei einem tiefen Seufzer. Wir sprachen kein Wort.

Ich war völlig fertig. Die Nachricht, dass auch Marias Freundin Natalie – die vierte aus der damaligen Schulklasse – spurlos verschwunden war, traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Meine Gedanken wollten nicht mehr zur Ruhe kommen, mein Verstand malte sich unzählige Schreckensszenarien aus – eines schlimmer als das andere. Ich konnte nicht begreifen, was da vor sich ging. Mein Vater schwieg. Er schloss seine Ängste und Sorgen tief in sich ein und versuchte so mit ihnen klarzukommen. Aber ich konnte nicht schweigen, ich musste reden, sonst würde mein Kopf explodieren. Patricks nervöser Blick, als ich ihm von Marias Verschwinden erzählt hatte, setzte mir zusätzlich zu. Er war zwar bemüht gewesen, Ruhe auszustrahlen, doch ich kannte ihn viel zu gut. Ich merkte ihm seine tiefen Sorgen an und hatte ihn zweimal dabei erwischt, wie er an seinen Fingernägeln gekaut hatte.

Was ich bisher schon in Erfahrung bringen konnte: Natalie wohnte seit einem knappen halben Jahr nicht mehr bei ihren Eltern und war in das Haus ihrer wenige Monate zuvor verstorbenen Großmutter gezogen. Obwohl dies in derselben Straße lag, wurde Natalies Verschwinden erst am Montagabend, also zwei Tage später, von ihren Eltern bemerkt. Sie hatten ihre Tochter da­raufhin als vermisst gemeldet, zuvor unter anderem auch bei meinem Vater angerufen und sich erkundigt, ob ihre Tochter vielleicht bei Maria war. Mein Vater hatte mir den Anruf von Natalies Eltern und ihnen Marias Verschwinden verschwiegen. Um uns nicht unnötig zu beunruhigen, wie er sagte.

Ich war stinkwütend auf ihn. Das hektische Treiben auf der Polizeiinspektion und die vielen angespannten Mienen verrieten mir, dass meine Unruhe völlig berechtigt war. Bisher war niemand gefunden worden, der sagen konnte, ob Maria und Natalie am Samstagabend das Faschingsfest in der Sportkantine des örtlichen Fußballvereins erreicht hatten oder nicht. Niemand kannte ihre Verkleidung, auf Fotos waren sie nicht zu entdecken. Die Parallelen zu Lindas und Markus’ Verschwinden drei Jahre zuvor waren nicht zu übersehen und äußerst beunruhigend.

Die örtliche Polizei hatte noch am Vorabend Verstärkung bei den Polizeidienststellen der umliegenden Gemeinden und beim niederösterreichischen Landeskriminalamt angefordert. Sie wollten gewappnet sein, falls die Presse Wind davon bekam. Das Verschwinden von Linda und Markus hatte damals hohe Wellen in den Medien geschlagen. Alle Zeitungen waren voll davon gewesen, sogar in den Abendnachrichten im Fernsehen wurde aus Mangel an anderen spektakulären Storys regelmäßig darüber berichtet. Wenn die aktuellen Ereignisse bekannt wurden, würde es garantiert nicht lange dauern, bis die ersten Reporterteams in Grundendorf eintrafen.

Die beiden Kriminalbeamten, die nach wenigen Minuten von Patrick zu uns geführt wurden, um unsere Befragung durchzuführen, stellten sich als Schulz und Mayerhofer vor. Sie hätten unterschiedlicher nicht sein können: Schulz war der Ältere der beiden. Ein etwa 60-jähriger, kahlköpfiger, spindeldürrer Kerl mit einem breiten grauen Schnauzbart und ebenso grauen buschigen Augenbrauen. Seine Augen sahen müde aus, schwere Ringe hingen darunter. Er trug Bluejeans und einen schwarzen Rollkragenpullover, seine dunkelbraunen Lederschuhe sahen abgewetzt aus. Mayerhofer, sein Partner, war mit Sicherheit noch keine 30. Er hatte ein rundliches Gesicht, rote Wangen und einen überreifen Pickel, der kurz vor der Explosion stand, an seinem kleinen Doppelkinn. Er trug einen dunkelgrauen Anzug von der Stange, die Ärmel waren ihm einen Tick zu lang. Keine Krawatte, die Knöpfe seines weißen Hemds spannten.

»Zuckerl?« Schulz streckte uns eine Handvoll in durchsichtiges Plastik gehüllte knallgelbe Bonbons entgegen.

»Nein, danke«, lehnte ich ab.

Mein Vater reagierte nicht, Mayerhofer wurde erst gar nicht gefragt. Schulz zuckte mit den Schultern und warf sich selbst eines ein. Mayerhofer starrte enttäuscht auf den Bildschirm seines Notebooks, das vor ihm auf dem Tisch stand.

Ich saß auf Nadeln. Mir ging alles viel zu langsam, Schulz und Mayerhofer schienen völlig unmotiviert.

»Warum sitzen wir hier nur herum?«, fuhr ich sie an. »Sollten wir nicht lieber …«

»Hören Sie«, unterbrach mich Schulz und schmatzte genüsslich. Sein Atem roch nach Zitrone. »Wir tun alles, um Ihre Schwester zu finden. Aber es ist wichtig, dass wir alle ruhig bleiben und systematisch vorgehen.«

»Systematisch«, murmelte der junge Mayerhofer und tippte im Zweifingersystem in sein Notebook.

»Wir sollen ruhig bleiben

»Es hilft Ihrer Schwester nicht, wenn Sie in Panik ausbrechen. Wir haben bereits die ersten Maßnahmen gesetzt.«

»Welche Maßnahmen?«

»Zum Beispiel haben wir eine österreichweite Fahndung ausgegeben und prüfen gerade, ob ihr Handy ein Signal sendet.«

»Wie lange dauert das?«

»Das Ergebnis sollten wir bald haben. Aber für den Moment ist es das Wichtigste, dass Sie uns ein paar Fragen beantworten.«

Ich seufzte, versuchte mich zu beruhigen.