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1. Auflage 2018
© Delius Klasing & Co. KG, Bielefeld

Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:
ISBN 978-3-667-11424-2 (Print)
ISBN 978-3-667-11528-7 (Epub)

Lektorat: Birgit Radebold
Umschlaggestaltung und Layout: Felix Kempf, ww.fx68.de
Karte vordere Klappe und Facts hintere Klappe: inch3, Bielefeld
Illustrationen: mamita / Shutterstock S. 45, 67
EkaterinaP / Shutterstock S. 14/15, 89, 120, 154/155
Lithografie: Mohn Media, Gütersloh
Datenkonvertierung E-Book: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice, München

Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnis des Verlages darf
das Werk, auch Teile daraus, nicht vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.

www.deliusklasing.de

INHALT

MARQUESAS
GENAU HIER

GEDANKENSPLITTER
WORAUF HABE ICH MICH DA NUR EINGELASSEN?

WELTWEIT
LA CAPITANA

HAITI
DAS VERLORENE PARADIES

SAN-BLAS-INSELN
MODERNES LEBEN

PANAMA
CANAL GRANDE

ÄQUATOR
AUS NORD WIRD SÜD

GALAPAGOS
EIN MYTHOS

GEDANKENSPLITTER
SALZ SAMMELN

OZEANLEBEN
EIN FISCH IN MEINEM BETT

MARQUESAS / TAHUATA
MANTAS ZUM FRÜHSTÜCK

TUAMOTUS / KAUEHI
PASS-PASSAGEN

TUAMOTUS / FAKARAVA
DAS SCHRECKLICHE ENDE VON VISKUS

TUAMOTUS / RANGIROA
WENN MOANA SINGT

GEDANKENSPLITTER
FAMILIE IM HECKWASSER

PAZIFIK
ENGEL IN DER NACHT

SUWARROW
DAS EILAND DER EINSIEDLER

TONGA / VAVA’U
DIE STIMMEN VON NEIAFU

TONGA / NUAPAPU
MARINER’S CAVE

TONGA / PANGAIMOTU
BIG MAMA

GEDANKENSPLITTER
WARUM EIGENTLICH?

WELTWEIT
MEINE TÄGLICHE BAUSTELLE

FIJI / YASAWAS
FIJIS FILMSTARS

FIJI / MAKONGAI
DER KAMPF DER MÖRDERMUSCHELN

FIJI / MAKONGAI
DER TANZ DES KLEINEN KRIEGERS

VANUATU
DIE RIESENFÜSSE VON TANNA

GEDANKENSPLITTER
DRUCK UND EINSAMKEIT

SYDNEY
GROSSSTADTFLAIR

QUEENSLAND
SCHMETTERLINGSZEIT

GEDANKENSPLITTER
GOODBYE, PAZIFIK

BALI
INDONESISCHER IRRWITZ

INDONESIEN
DIE UNGEHEUER VON KOMODO

CHRISTMAS ISLAND
DIE HEILIGEN WEIHNACHTSKREBSE

COCOS KEELING
STURM AM ANKERPLATZ

INDISCHER OZEAN
AN LAND LEBT ES SICH GEFÄHRLICH

SÜDAFRIKA
SHOSHOLOZA

GEDANKENSPLITTER
MAGIC MOMENTS

NORDATLANTIK
DIE NASSE FAHRT NACH LISSABON

WELTWEIT
WASSERFARBENSÜCHTIG

MARQUESAS

GENAU HIER

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Die Ankunft auf den Marquesas nach fast drei Wochen auf See ist einer der bewegendsten Momente meiner Reise.

Das ist es – jetzt und hier, genau hier. Der Moment, der eine Moment, den ich mir so lange gewünscht habe und von dem vielleicht jeder Segler träumt: Nach 18 Tagen auf See tauchen die Marquesas am Horizont auf – keine 20 Meilen mehr bis zum Landfall. Wir fallen uns in die Arme, wir tanzen über Deck, wir freuen uns wie irre. Nicht, weil die Überfahrt erst mal zu Ende ist, nein, weil wir in der Südsee angekommen sind! Mittendrin im großen, blauen, weiten Pazifik liegen die Inseln, die wir sonst nur aus Büchern kennen. Ungeheuer hoch ragen sie in den Himmel und sind knallgrün. Fatu Hiva ist der klingende Name der ersten Anlaufstation. Was uns wohl hinter der Huk erwartet? Wie die Bucht wohl aussehen wird? Wer ist schon da von unseren Freunden? Mit für mich ungewohnt kleiner Crew sind wir unterwegs – zu zweit von den Galapagosinseln gestartet. 3.000 Seemeilen liegen hinter uns, eine spannende, wunderschöne, aber auch anstrengende und ermüdende Tour. Und nun liegt das Paradies voraus. Eine Bucht zum Ankern, das heißt, wieder ganze Nächte durchschlafen können, frische Früchte, Landgang, durchatmen, auftanken, genießen.

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Wir holen die Segel ein und biegen um die Ecke. Der Anblick ist atemberaubend. Die tief eingeschnittene Bucht scheint wie aus einem Bilderbuch entsprungen. Steil aufragende grüne Berge, tiefblaues, fast schwarzes Wasser, und im Scheitel der Bucht dieser bekannte Felsen in Form eines Frauenkopfes, weshalb die Bucht auch Baie des Vierges (Jungfrauenbucht) genannt wird. Die besten Pomelos der Welt – riesige, süße Grapefruits – bekommen wir hier geschenkt: Gleich nach dem Ankermanöver tuckern unsere französischen Freunde von der Geronimo heran, heißen uns willkommen und bringen uns diese wunderbare Köstlichkeit. Nach fast drei Wochen auf See ist das frische Obst heiß ersehnt.

Das Dingi wird zu Wasser gelassen, wir montieren den Außenborder und fahren an Land. In dem Dorf Hanavave scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Klischees erfüllende Südseemädchen mit unendlich langen, schwarzen Haaren schlendern die Dorfstraße entlang und grüßen scheu, aber freundlich: »Bonjour.« Wir sind in Französisch-Polynesien. Kinder tollen herum, spielen Fußball im Matsch. Fischer sortieren ihre Netze, die Kirchenglocken beginnen zu läuten. Idylle pur. Vier magische Tage verbringen wir auf Fatu Hiva. Erkunden die Umgebung, baden in Wasserfällen, tauschen unsere Angelhaken gegen frisches Obst, entdecken alte in Stein gemeißelte Zeichnungen im Wald und riesige Tiki-Figuren, lernen, wie die auf Papier gemalten Kunstwerke, genannt Tapas, angefertigt werden und treffen uns mit den anderen Seglern am Strand zum Barbecue. Es ist: das Paradies.

Der Norwegische Forscher Thor Heyerdahl hat hier auf der Insel in den 30er-Jahren mit seiner Frau Liv ein Jahr lang gelebt, und ich kann mir gut vorstellen, wie das Leben damals, vor etwa hundert Jahren, gewesen sein muss. Scheint es doch auch jetzt noch wunderbar einfach und fern jeglicher westlicher Zivilisation.

Die Insel hat etwas Mystisches und wird für mich zum Inbegriff der Südsee. Und zu einem persönlichen Meilenstein. Immer wieder werde ich später gefragt, wo es am schönsten war. Und immer wieder antworte ich, dass ich mich nicht auf einen Ort festlegen kann, aber die Ankunft auf den Marquesas ein ganz besonders prägender Moment für mich war. Und jedes Mal, während ich das erkläre, taucht in meinem Kopf das ergreifende Bild dieser außergewöhnlichen Bucht auf. Ein Schatz für meine eigene kleine Ewigkeit.

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Schwimmen unter dem Wasserfall auf Fatu Hiva – eine wunderbare Erfrischung nach der langen Überfahrt.

GEDANKENSPLITTER

15. März 2012

Worauf habe ich mich da nur eingelassen?

»Das Schiff wird dir gefallen«, sagt Ralf noch am Ende unseres Telefonats. Ralf hat Medianoche gebaut. Mit viel Schweiß und Blut, Zeit und Sorgfalt – und vor allem mit ganz viel Enthusiasmus. Denn eigentlich wollte Ralf mit Medianoche und Gästen selbst um die Welt segeln. Die Geschichte ist dann leider anders ausgegangen – aber fest steht, dass ohne Ralf dieses Boot nie entstanden wäre – und meine Reise so wohl auch nicht.

Ralf hat mich als Skipperin shanghait und mir das Schiff erklärt. Vorerst aber nur in Deutschland auf dem Trockenen, denn Medianoche liegt auf Lanzarote, und als ich im Frühjahr 2012 den Vertrag unterschreibe, habe ich sie noch nie gesehen.

Der Vertrag besagt, dass ich mir das Schiff ausleihe, um mein Projekt einer Weltumsegelung zu realisieren – und dabei vielen Mitseglern die Möglichkeit gebe, auf einem Teilstück meiner Reise dabei zu sein. Die Einnahmen fließen dabei an den Eigner, der mittlerweile gewechselt hat und nicht mehr Ralf heißt.

Ein hohes Risiko? Ja, vielleicht, aber ich hatte auch das Urteil anderer eingeholt, die Medianoche bereits kannten und mir einhellig die Qualität des Schiffes bestätigten.

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FEST STEHT, DASS OHNE RALF DIE MEDIANOCHE NIE ENTSTANDEN WÄRE – UND MEINE REISE SO WOHL AUCH NICHT.

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Irgendwann also stehe ich in Puerto Calero auf Lanzarote, mit meinem Gepäck für die nächsten Jahre in der Hand, der Schweiß läuft mir den Rücken runter, und betrachte mein neues Zuhause. Medianoche liegt ruhig und zufrieden da; deutlich größer und beeindruckender, als ich sie mir je vorgestellt hatte. Von einem Schwimmsteg aus, also fast auf Wasserlinienhöhe, wirkt sie einfach riesig. Schnell taufe ich sie die »dicke Berta«, da sie nicht nur etwas altbacken aussieht, sondern auch sehr robust und schwer ist und mir ihren ausladenden Hintern zeigt.

Auf was habe ich mich da nur eingelassen? Es ist alles noch ziemlich unwirklich. Ich klettere an Bord und hole den Schlüssel aus dem verabredeten Versteck. Langsam wandere ich über Deck und gucke mich um. Alles scheint mir ganz schön mächtig. Dann öffne ich die Tür und tauche in den Salon. Fotos hatte ich ja schon gesehen. Sie waren nicht geschönt. Alles ist wirklich so großzügig und sehr geschmackvoll ausgebaut. Ja, Ralf, das Schiff gefällt mir! Ich brauche ein paar Stunden, bis ich die wichtigsten Schalter und Materialien gefunden habe. Langsam beziehe ich meine neue Heimat. Drei Wochen bleiben, um noch vieles an Ergänzungen und Umbauten durchzuführen und mich an das Schiff zu gewöhnen.

So viel Schiff beinhaltet auch viel Technik. »Kein Problem«, hatte Ralf gesagt, der Medianoche für den neuen Eigner managt. »Bei allen technischen Problemen kannst du mich jederzeit anrufen, ich bin dein Back-up.« Das funktioniert prima. Ich rufe ihn an, wenn ich etwas nicht finde, feststecke oder Ersatzteile brauche, und bin immer wieder erstaunt, wie er selbst ohne große Beschreibung jede Kleinigkeit noch genau zu kennen scheint. Dann aber, drei Monate später, verlässt Ralf den Management-Job, und ich stehe allein da. Bei einem Selbstbauboot ohne Pläne wird das immer wieder zur Herausforderung.

Nun, nach 4,5 Jahren enger Verbundenheit mit dem Schiff, habe ich mich längst an ihre Ausmaße gewöhnt und empfinde sie nicht mehr als groß. Jeder Winkel ist mir vertraut, und (fast) jede Schraube hatte ich mindestens einmal in der Hand. Medianoche ist meine Heimat, meine Partnerin, meine sichere Basis und meine immerwährende Beschäftigung. Denn Ruhe gibt es an Bord nicht; irgendetwas ist einfach immer zu tun – meist eher etwas mehr als weniger. Die dringlichsten Arbeiten betreffen immer die Sicherheit von Schiff und Crew. Abschließend geht es darum, den Komfort und die Präsentation des Schiffes zu optimieren. Das startet beim Riggcheck (hohe Priorität) oder einer nicht funktionierenden Toilette und endet beim Polieren des Edelstahls (das Sahnehäubchen); dazwischen liegen unendlich viele Aufgaben, neue, immer wiederkehrende und manchmal auch unlösbare. Doch es ist eine klare Aufgabe, die Ausrichtung steht fest – was zu tun ist, brauche ich nicht zu entscheiden, es ergibt sich von selbst.

Jetzt also, nach so vielen gemeinsamen Jahren, in denen Medianoche mich sehr viel Arbeit gekostet, mir dafür aber auch unglaublich schöne Momente geschenkt hat – jetzt sind wir ein Team, eine Einheit, und sie erscheint mir gar nicht mehr mächtig. Nur einmal im Jahr, wenn ein Travellift sie aus dem Wasser hebt und sie aus ihrem Element entfernt wird, wenn ich daneben stehe, unterhalb der Wasserlinie, dann ist sie plötzlich wieder doppelt so groß, und somit auch meine »dicke Berta«.

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WELTWEIT

LA CAPITANA

Warum eigentlich ist es noch immer so selten, dass Skipperinnen auf hoher See unterwegs sind? Ich wünschte mir, ich wäre nicht eine solche Ausnahme. Dabei hat es mich bislang weder ernsthaft gestört noch beeinträchtigt. Aber ich finde es einfach unglaublich schade, dass in Zeiten, in denen um Gleichstellung gerungen wird und viele Erfolge den richtigen Weg aufzeigen, noch immer viel zu wenig Frauen aus der traditionellen Rolle der Mitseglerin ausscheren. Im besten Fall, aber immer noch selten, sind Mann und Frau immerhin gleichberechtigt und ebenso gut ausgebildet. Diese Konstellation habe ich unterwegs ab und an getroffen. Oft aber wird dennoch der Mann im Vordergrund als Entscheider gesehen.

Einer muss an Bord die Verantwortung tragen, das ist klar, aber ich möchte, dass mehr Frauen diesen Schritt gehen. Wagt es, zieht los, macht euer Ding, ohne darauf zu warten, dass ein Kerl sagt, wo es langgeht.

Unbequem? Ja klar! Es ist leichter, sich Entscheidungen abnehmen zu lassen – aber gleichzeitig verliert man damit doch auch ein großes Stück der eigenen Freiheit. Und es fühlt sich eindeutig viel besser an, wenn man zumindest könnte, wenn man wollte. Ausbildung ist daher der Schlüssel zum Erfolg; dazu ein Quäntchen Mut, den Schritt zu wagen die Dinge selber anzugehen. Fehler macht jeder dabei. Männer tun sich nur nicht so schwer damit. Frauen wollen um jeden Preis Fehler vermeiden und überlassen daher die Entscheidungen eher den anderen. Oft wird es mit Erstaunen, immer aber freundlich, offen und positiv aufgenommen, wenn der Kapitän an Bord gesucht wird und ich meine Hand hebe.

Auch bekomme ich viel Hilfe und nehme sie meist auch gern an, sicher ein Unterschied zu vielen männlichen Kollegen. Ich nutze den Luxus, einfach fragen zu können: Kennt sich jemand besser damit aus? Männer geben sich diese Blöße nur ungern.

Nicht selten, gerade in Italien, wird grundsätzlich der Mann an Bord angesprochen – auch wenn es nur einen an Bord gibt. Die Möglichkeit, dass als Ansprechpartner eine Frau am Ruder stehen könnte, ist hier noch nicht angekommen.

Manchmal wurde ich gar als Sensation gesehen, immer aber als willkommene Abwechslung, ob es nun die Hafenmeister in Boca Chica (Dominikanische Republik) waren, die mich sofort »La Capitana« tauften, die indonesischen Einwanderungsbeamten, die auf Selfies mit mir bestanden, oder ein Zöllner im Mittelmeer, der abends immer vorbeikam, um zu sehen, ob ich nicht vielleicht doch Gesellschaft bräuchte. Wenn ich allein ohne Crew unterwegs bin, verstärkt sich der Beschützerinstinkt der Außenstehenden um ein Vielfaches. Eine Frau mit einem so großen Schiff, allein – das spricht sich schnell rum. Einsamkeit ist daher nie mein Problem …

Am rührendsten war sicher der alte, beleibte Hafenmeister in der Marina von Bastia. Der hatte sich eindeutig ein kleines Bisschen in mich verliebt, als ich mit der dicken Berta um die Ecke der Hafeneinfahrt seiner Marina kam. Ich hatte vorab gefunkt, dass ich gern wüsste, mit welcher Seite ich anlegen soll, da ich allein unterwegs war und die Fender und Leinen rechtzeitig anbringen wollte. Interessant war, dass sie mich zwar extra mit einem Boot vor der Einfahrt begrüßten und mich in den Hafen eskortierten, mir dort aber dann bei dem üppigen Wind die hinterletzte, schwer zugängliche Ecke zuwiesen, in die ich mich mit dem größten Schiff im Hafen hineinzwängen musste. Vielleicht war der Grund, dass ich so direkt vor dem Hafenmeisterbüro lag?

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Unterwegs und glücklich.

Was dann folgte, war ein regelrechtes Verwöhnprogramm des Hafenmeisters. Immer wieder kam er an und brachte Schätze aus seinem Garten. Mal waren es Aprikosen, mal Kräuter oder Blumen. Zum Schluss schenkte er mir noch seinen Hut, auf dem »Havanna Noche«, das Logo einer bekannten Rum-Marke zu lesen war – die »Noche« gehörte seiner Meinung nach eindeutig auf mein Schiff. Der Hut ist dann im Salon einmal um die Welt gereist. Jetzt habe ich den Hafenmeister tatsächlich wiedergetroffen, als ich bei meiner Suche nach einem neuen Schiff zufällig in seinem Hafen landete. Wir haben einen Abend lang zusammen gesessen und die Route seines Hutes um die Welt nachgemalt. Menschen, die meinen Törn so unvergesslich gemacht haben, reisen in Gedanken immer mit.

HAITI

DAS VERLORENE PARADIES

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Fischer vor der traumhaften Île à Vache. Motorboote gibt es kaum.

Wir sind seit zwei Tagen unterwegs. Von der Dominikanischen Republik segeln wir im Süden der Insel Hispaniola nach Westen. Unser Ziel: die kleine Insel île à Vache, zu Haiti gehörig und nur etwa sieben Meilen von der Hauptinsel entfernt. Hier leben die Menschen nach dem großen Erdbeben von 2010 noch immer ohne Strom, ohne fließend Wasser und in zumeist provisorischen Hütten.

Ich habe Spenden gesammelt, in Santo Domingo das Schiff vollgeladen mit Grundnahrungsmitteln, Kinderbekleidung, Seife, Zahnbürsten, Windeln und Co – und nun sind wir (zwei Deutsche, eine Schwedin und ein dänischer Quotenmann) auf dem Weg in das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Es ist das zweite Mal, dass ich mich auf den Weg mache, um die Waisenkinder in Haiti zu unterstützen. Wer wie ich mit einem Transportmittel in dieser Region unterwegs ist, sollte nicht zögern, sondern helfen.

Am dritten Tag taucht am Horizont die Silhouette der île à Vache auf. Die kleine Insel ist umringt von einem großen Riff, das wir weiträumig umfahren müssen. Mehrere Fischer ziehen an uns vorbei, raus auf See. Mit ihren kleinen Einbäumen und den aus vielen verschiedenen Tüchern zusammengesetzten Segeln sehen ihre Boote ziemlich räudig und zugleich wunderschön aus.

Die Wasserfarbe wird langsam heller, grün, türkisfarben, wunderschön klar.

Als unser Anker in Port Morgan, der einzigen geschützten Bucht, fällt, sind wir müde. Aber gleich paddeln uns vornehmlich männliche Kinder und Jugendliche in ihren Einbäumen entgegen. »Hello«, »Bonjour«! Neugierig beäugen sie uns, zwei von uns sind ziemlich blond und das Schiff ist riesengroß. Mit meinem etwas eingerosteten Französisch geht es gleich los. »Woher kommt ihr? Wie lange bleibt ihr? Habt ihr Kugelschreiber?«, fragen sie. Jeder bekommt ein Goodie aus unser großen Geschenkekiste. »Solltet ihr nicht eigentlich zur Schule gehen?«, frage ich – und ernte nur ein Schulterzucken. Oft ist nicht genug Geld da, um die Kinder zur Schule zu schicken. Was für uns »Peanuts« sind, kann hier einem Kind die Ausbildung finanzieren. Umgerechnet sind etwa 40 Euro pro Jahr nötig.

Einige der Boote, in denen sie ankommen, sind so marode, dass sie ständig Wasser machen und permanent gelenzt werden müssen. Kleinere Löcher sind mit Kaugummi zugestopft, größere notdürftig repariert.

Am nächsten Morgen werde ich ganz früh von einem leisen »Hello?« geweckt. Zwei kleine Jungs, die auch schon am Vortag ständig um La Medianoche herumgepaddelt waren, sind wieder da. Ich versuche sie zu ignorieren, um noch ein bisschen weiterzuschlafen – vergebens. Im Cockpit treffe ich Nadja, die ebenfalls geweckt wurde und noch müde in die Morgensonne blinzelt. »Hello?«, raunt sie mir zu und grinst. Die beiden kleinen Besucher freuen sich, dass endlich was passiert.

Nach dem Frühstück machen wir uns mit einheimischer Unterstützung auf den Weg ins Hauptdorf »Madame Bernard«. So heißt das Zentrum der Insel tatsächlich. Edison, ein Jugendlicher, der auch bei meinem ersten Besuch schon geholfen hatte, holt uns am Vormittag ab. Gemeinsam mit zwei Freunden zeigt er uns den Weg ins Dorf. Ich erinnere vom ersten Besuch vor zwei Jahren nur, dass Edison damals sagte, es wäre etwa eine Viertelstunde zu gehen und ich nach einer guten halben Stunde vorsichtig nachgefragt habe, wie lang die Viertelstunde denn noch so dauern würde. Tatsächlich war es dann eine gute Stunde strammer Fußmarsch. Hier gibt es kaum Uhren, das Zeitempfinden ist grundlegend anders. Ich warne meine Crew also vor, wir nehmen genügend Wasser mit und machen uns in der Hitze auf den Weg durch den Busch, über Stock und Stein; Straßen gibt es hier nicht. Wir kommen an Häusern vorbei, die liebevoll zusammengeflickt sind, meist sehr schief und oft undicht. Edison zeigt uns auch die Disco der Insel. Wir müssen zweimal hingucken, um unter Bäumen so etwas wie aus Ästen konstruierte Tische und eine mit hellen Korallen abgegrenzte Tanzfläche zu erkennen. Strom gibt es nicht, also wird wohl Livemusik hier für Stimmung sorgen.