Das Strandhaus

Deborah O'Donoghue

Das
Strandhaus

Thriller

Aus dem Englischen
von Ulrike Clewing

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Über Deborah O'Donoghue

Deborah O’Donoghue studierte Englisch und Französisch an der University of Sussex und Darstellende Kunst an der Sorbonne. Sie arbeitete als Mädchen für alles in einem Comedy-Club, reparierte Karosserien und verkaufte Fish and Chips in Brighton. Nach einer Lehrtätigkeit an der Université Paris VII und an Sekundarschulen in Sussex lebt und schreibt sie heute in Brüssel. »Das Strandhaus« ist ihr erster Roman.

1

Sie weiß, dass es ihr letzter Blick auf das Watt vor Culbin ist, während sie über den Strand läuft. Den Blick zurück zum Haus mit der Rauchfahne, die sich wie auf einer Kinderzeichnung in den Himmel schlängelt, erträgt sie nicht. Stattdessen wendet sie sich dem Meer zu, dem Strandabschnitt in der Bucht von Moray, an dem sie früher stets Trost fand.

Sie zaudert dort, wo der Sand sich dunkler färbt, doch das Wasser steigt weiter an, umspült sie und schließt sich hinter ihr, als giere es danach, den Saum aus Treibholz und Muscheln zu erreichen, der sich am Waldrand abgesetzt hat. Ein paar Meter weiter schlagen die Wellen schmatzend auf der höchsten Stelle der Sandbank auf. Feinste Tröpfchen stieben in die salzige Luft, verharren einen Augenblick, bevor sie auf dem geriffelten Schlick unter ihren Füßen niedergehen.

Sie spürt die Kälte des Wassers an ihren Zehen nicht. Ihr Blick geht auf die Bucht hinaus: auf die silbrig blaue, sich vor dem weiß-grauen Himmel im stetigen Rhythmus hebende und senkende Flut. Das Flusspferd kann sie nur schwach erkennen, den Felsen, etwa vierhundert Meter weit draußen im Meer, zu dem sie immer hinschwimmen wollte, als sie noch ein kleines Mädchen war.

Er beobachtet sie vom Waldrand aus. Erneut vernimmt sie seine Stimme, die ihren Namen ruft. Sie geht los.

2

Eines Nachmittags im Sommer wird ihre Leiche am Strand gefunden.

Die Luft vor dem Wald schwirrt vor Mücken. Die Familie lässt die Frisbeescheibe in der leichten Brise lieber nahe dem Wasser zwischen Vater, Mutter und Sohn hin und her sausen. Ganz knapp huscht sie über den Kopf des elfjährigen Jacob hinweg. Er läuft mit seinen sonnengebräunten flinken Beinen über den fahlen, geriffelten Sand zurück, den Blick starr auf die rote Scheibe fixiert, die träge über ihm rotiert.

Fast fällt er über sie.

Später stellt der Pathologe Verletzungen oben auf dem Kopf und am Hinterkopf fest. Jacob kann sie glücklicherweise nicht sehen. Er starrt sie nur an.

Sie hat kurzes, dunkelblondes Haar, ist zierlich und trägt ein hellgrünes Bikinioberteil, orangefarbene Baumwollshorts, aber keine Schuhe. Ihr Bikini ist verrutscht, sodass Jacobs Vater sie mit einem verblichenen gestreiften Strandtuch bedeckt. Bis auf die seiner Mutter hat Jacob noch nie Brüste gesehen.

Nur die Zehen des Mädchens, die Knöchel und die Handgelenke weisen Verletzungen auf – so massiv, dass wächserne Knochen durch die schwarz verfärbten Wunden nach außen dringen, als wollte eine Pflanze Wurzeln schlagen.

3

Es ist kurz vor zehn, als Dominic das Büro verlässt. Die Titelseiten sind im Kasten. Nach einem fulminanten Abendrot hat die Dämmerung in London eingesetzt. Die Luft ist feucht. Jogger ziehen ihre Runden, Pärchen schlendern umher, und der Duft von Streetfood schwebt über der South Bank. Die Lampen, wie Perlen in Bögen an den Brücken aufgereiht, spiegeln sich schwach auf der Wasseroberfläche. Dominic lässt sich auf einer Bank nieder, um die SIM-Karten in seinem Handy auszutauschen, und wählt die Nummer seines Vaters.

»Palmer.«

»Dad« – er überlegt, sein Vater hasst derlei Kinderkram, wenn es ums Geschäftliche geht – »Bernhard hier. Wir kommen mit der Story morgen als Erste raus.«

»Wunderbar. Keine Vorankündigung?«

»Die wird ihr blaues Wunder erleben.«

»Und wasserdicht ist sie auch? Und abgesegnet?«

»Sie haben alles überprüft. Kannst dich auf mich verlassen. Alles sauber. Das Interesse der Öffentlichkeit ist garantiert.«

Am anderen Ende der Leitung ist es still. Das heißt, nicht richtig still. Ein gedehntes, zufriedenes Einatmen lässt sich vernehmen. Dominic kennt seinen Vater und sieht ihn förmlich an seiner Spätabendzigarre ziehen. Dominic kramt in der Jackentasche und zündet sich auch selbst eine Zigarette an. Eigentlich sollte er aufhören.

»Über welche Kanäle?«

»Erst mal nur unsere. Die bringen es alle. Das ist der Aufmacher, der Knüller für den Examiner

Lachen. »Gute Arbeit, wenn du mir die Bemerkung gestattest.«

»Und Brockwell wollen wir wirklich nicht groß herausbringen? Im Courier?«

»Oh ja, ganz sicher. An irgendwelchen Scharmützeln zwischen dir und Brockwell mit seinem linken Schundblatt besteht kein Bedarf. Konzentrier dich auf Goldman. Sie muss noch viel lernen.«

»Sehr gut.«

Erneut gedehntes Atmen. »Und den Zeitpunkt hast du dir auch genau überlegt?«

»Hältst du es für zu früh?« Dominic war sich nicht sicher. »Drei Monate?«

»Nein. Es reicht weit über die Wahl hinaus. Und bietet genügend Zündstoff. Diese alten Fotos von Lyall. Mach damit weiter.«

Sie legen auf. Die Lichter auf der Wasseroberfläche flirren, als schwitzten sie ihre Wärme in die feuchtkühle Nacht hinaus. Dominic steht auf, öffnet den Kragen seines Hemdes und legt sich den Mantel über den Arm, bevor er sich wieder auf den Weg ins Büro macht.

Exklusiv im Examiner:
Prominente Feministin in
Sex-Skandal verwickelt

9. Juni 2018

  • Fiona Goldman, Parteivorsitzende der Progressive Alliance, hat Affäre mit Zeitungsverleger.

  • Kompromittierende Fotos liefern Beweis für heimliche Liebschaft.

 

Die in der heutigen Ausgabe des Examiner veröffentlichten Fotos liefern den Beweis für die Affäre zwischen Fiona Goldman, radikale feministische Vorsitzende der Progressive Alliance, und James Brockwell. Brockwell ist verheiratet und Chefredakteur des City Courier.

Brockwells Ehefrau ist die Fernsehproduzentin Amy Brockwell. Das Paar hat zwei Kinder im Teenageralter. Unsere Fotos (rechts und Mitte) zeigen Brockwell beim frühmorgendlichen Verlassen von Goldmans Apartment in Islington. Eines davon zeigt das Paar in inniger Umarmung in einer Straße unweit des Hauses, in dem Brockwell mit seiner Familie lebt.

Der City Courier unter seinem Herausgeber Brockwell tritt offen für die Progressive Alliance (PA) und ihre kämpferischen Forderungen nach Investitionen in die Infrastruktur und sozialen Reformen ein. Das wirft zwei entscheidende Fragen auf: Was hat das Blatt dazu bewogen, die PA zu unterstützen, und wie gelangte Goldman an die Spitze der Partei? Nicht zuletzt im Hinblick auf die in nur wenigen Monaten anstehenden Wahlen müssen sich Mitglieder der PA die Frage gefallen lassen, ob eine Ehebrecherin, die sich Gefälligkeiten der Medien mit Sex erkauft, das geeignete Aushängeschild für eine Partei ist, die für Elternrechte am Arbeitsplatz und eine allumfassende psychiatrische Versorgung eintritt.

Mit ihrer kürzlich abgegebenen Erklärung zur Flüchtlingskrise und der Kritik am Waffenhandel Großbritanniens mit Saudi-Arabien hat Goldman bereits an Glaubwürdigkeit verloren. Goldman ist Vorsitzende des parteiübergreifenden Ausschusses für Ethik in der Finanzwirtschaft. Die Geschäftsführer von über zwanzig Unternehmen unterzeichneten im Mai einen offenen Brief, in dem sie den Rücktritt der ehemaligen Schauspielerin forderten und Goldman »als Risiko für das internationale Ansehen des Vereinigten Königreichs als Handelspartner« bezeichneten.

Weder Goldman noch Brockwell waren bereit, sich zu äußern. Amy Brockwell ist zu Hause nicht anzutreffen. Ein Lehrer, der namentlich nicht genannt werden möchte, teilte uns mit, dass die Kinder heute nicht in der Schule erschienen seien.

4

Inverness. Drei Monate später

Der Tag der Wahl. Juliet kann für Fiona oder die Partei nichts mehr tun. Und heute wird Beth beerdigt.

Sie wird früh wach, wieder einmal jäh aus einem Traum gerissen, in dem es um Wasser geht. Declan liegt leise schnarchend neben ihr. Sie fühlt sich immer noch matt von der Reise. Die Hektik, mit der sie gestern direkt von der Arbeit zum Flieger von London in den Norden hasten musste, und der anstrengende Besuch bei ihrer Schwester Erica sind nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Juliet ist müde, auch wenn sie weiß, dass an Schlaf jetzt nicht mehr zu denken ist. Sie liegt still da, den Blick zur Decke gerichtet, so wie sie es fast jeden Morgen tut, seit sie vom Tod ihrer Nichte erfahren hat.

Nüchterne Strahler in der Decke des Hotelzimmers glotzen leer auf sie herab. Die Laken fühlen sich rau und schwer an, fast als trachteten sie danach, sie zu erdrücken. Das Hotel am Ness, das ihre Assistentin für sie gebucht hat, ist eine gute Wahl. Es liegt zentral, und es ist ruhiger als bei Erica in der Stadt oder in dem Strandhaus ein paar Meilen entfernt draußen an der Küste, das Juliet gehört. Doch daran denkt sie nicht. Sie sieht Beth vor sich, als Baby, das ihr die Arme aus der Wiege entgegenstreckt, und heute der Erde übergeben werden muss. Das Geräusch eines Lasters dringt von der Straße, fünf Stockwerke weiter unten, zu ihr herauf.

Declan dreht sich um und sieht sie einen Moment lang an. Er rutscht an sie heran, und sie wendet sich ihm zu, drückt sich an ihn, legt die Hände auf sein drahtiges Brusthaar und fährt ihm, auf der Suche nach seinem Herzschlag, tastend mit den Fingerspitzen über die Haut. Sie schlafen zärtlich miteinander, Declan küsst ihr Gesicht, die Augenlider. Ein kurzer Augenblick, den sie festhält, länger als sonst. Dann schwingt er die Beine aus dem Bett, tappt zu den Vorhängen und lässt das Sonnenlicht herein. Sie blinzelt und kneift die müden blauen Augen zu, als sich die Pupillen erschreckt zusammenziehen.

Er geht mit dem Wasserkocher ins Bad, und sie hört, wie er das Wasser einen Augenblick laufen lässt. »Soll ich die Nachrichten einschalten?«

Murrend reibt sie sich das Gesicht. »Ja, kannst du machen.«

Er schaltet den Fernseher an, den Ton aber stumm. Archivaufnahmen von Wählern, die Schulen und Kirchen betreten und wieder herauskommen. Regale voller Stimmzettel. Der Bericht eines Reporters, der sich vor dem Parlament postiert hat. Worüber eigentlich? Für Umfrageergebnisse oder gar Analysen ist es noch zu früh. Der nächste Bericht: eine griechische Insel; Leichensäcke; ein Berg aufeinandergetürmter Rettungswesten; der Schuh eines Kleinkindes. Juliet greift zur Fernbedienung und schaltet den verdammten Kasten ab. Sie kann diese Bilder nicht ertragen. Nicht heute.

In dem Moment fragt sie sich, ob wohl die Presse auf der Trauerfeier erscheinen wird. Ein paar Blättern war nicht entgangen, dass die Beisetzung auf den Wahltag fallen würde, und sie hatten diese Tatsache als gutes Omen für die Wahl gewertet. Natürlich ist das Unsinn. Juliets Einfluss auf die polizeilichen Ermittlungen oder die Beisetzung ist genauso begrenzt wie der auf den Wahltermin. Ehrlicherweise muss sie sogar gestehen, dass sie sich wünscht, mehr Zeitungen hätten es aus dieser irrwitzigen Perspektive gesehen. Jedenfalls würde das den Dampf aus dem Kessel um Fiona Goldmans Sex-Affäre nehmen.

Als Generalsekretärin der PA hat Juliet seit Wochen alle Hände voll damit zu tun, sich gegen die reißerischen Schlagzeilen über Fiona und James Brockwell zur Wehr zu setzen und zugleich allein mit ihrer Trauer und damit fertigzuwerden, dass sie einfach nicht glauben kann, dass ihre Nichte gestorben ist. Das Porträt, das die Polizei von Beth gezeichnet hat, in dem sie als krank und depressiv beschrieben wird, entspricht ganz und gar nicht dem, was Juliet zu wissen glaubte, und das lässt sie nicht los. Dennoch muss sie die letzten Monate voller Zweifel und Selbstvorwürfe heute beiseiteschieben.

An jenem Abend im Juni war es schon sehr spät, und Juliet arbeitete noch allein im Portcullis House, als sie die Nachricht von Beths Tod erreichte. Sie befand sich mitten im Krisenmanagement, brütete über der Verleumdungsgeschichte gegen Fiona, nahm sich jede einzelne Rede und Stellungnahme noch einmal vor, gab Tipps sowohl zum Inhalt als auch zur Formulierung und zu rechtlichen Fragen. Vorbereitet sein. Das ist der Schlüssel. Aber auf das, was sie dann erfahren musste, konnte sie nicht vorbereitet sein.

»Juliet? Hier ist Cathy. Cathy Henderson.«

»Hallo, Cathy. Wie geht es Ihnen?« Kein Grund, sich Sorgen zu machen. Noch nicht. Juliet hatte in all den Jahren schon viele Anrufe von Cathy bekommen, der Psychiaterin ihrer Schwester. Sie erinnert sich, sich sogar gefreut zu haben, wieder von ihr zu hören. »Wie geht es Erica?«

Währenddessen hatte sie weiter ihre Anmerkungen an den Rand des Papiers geschrieben, das vor ihr lag. Im Nachhinein kann sie kaum glauben, wie ahnungslos sie damals gewesen ist.

»Danke, mir geht es gut. Aber eigentlich rufe ich nicht wegen Erica an. Es geht um Beth.«

Erst jetzt, als ihr Stift gerade zum Querstrich eines T ansetzte, stockte Juliet.

Cathy fuhr in ihrem leicht kehligen Highland-Akzent fort. »Ich habe eine schlechte Nachricht. Beth ist verschwunden. Sie hatte einen Nervenzusammenbruch. Wie es aussieht, hat sie ihre Entwürfe zerstört und ihre Arbeiten an der Universität fast vollständig in Brand gesetzt. Seit heute früh ist sie verschwunden.«

Juliet erinnert sich an das Rauschen in ihren Ohren: an das Demoband, das ihre Nichte ihr unaufgefordert zugeschickt hatte. Ein kleines Mädchen im Wald, das sich vor Kichern kaum halten kann, weil Tante Jet darauf bestand, sich Bärte aus Moos vor den Mund zu halten und mit Moos-Stimmen zu sprechen, strahlende Mandelaugen und das Zahnlückengrinsen, die als Einziges durch das Grünzeug zu sehen waren. Eine gertenschlanke Halbwüchsige am Strand mit karamellfarbenem Haar und langem Sommerrock, die mit ihrem Großvater tanzt. Die Studentin bei ihrem London-Besuch, die auf einem hohen weißen Barhocker sitzt und überschwänglich von Stoffentwürfen schwärmt, am Strohhalm in ihrem Cocktail nippt, mit hohen Wangenknochen und lebhaften Augenbrauen.

Cathy sprach immer noch. »Den Anruf von der Polizei bekam ich leider erst, nachdem sie schon bei Erica gewesen waren, um sie zu informieren.«

O mein Gott, Erica. Der Gedanke an ihre Zwillingsschwester, die zu begreifen sucht, was ihr ein Trupp Uniformierter gerade übermittelt, ließ Juliet zusammenzucken. »Sie sind bei ihr geblieben, bis ich da war. Sie ist jetzt in der Klinik. Sie ist schließlich doch freiwillig mitgekommen und hat Sie als ihre nächste Verwandte angegeben. Wir mussten sie ruhigstellen.«

Das Bild eines kleinen Mädchens schoss ihr blitzartig durch den Kopf, das in einer stillen Stunde daumenlutschend auf dem Schoß seiner Mutter sitzt.

»Juliet?«

»Ja, ich bin …« Sie kniff sich mit Daumen und Zeigefinger in die Falte, die sie zwischen ihren Augenbrauen spürte. Sie wollte sich nach Erica erkundigen, als ihr einfiel, dass ihre Schwester gut aufgehoben war. »Seit wann ist Beth verschwunden? Wo hat man sie das letzte Mal gesehen?«

»Ihr Freund hat sie am späten Vormittag vermisst gemeldet. Sie wurde vor zwei Tagen das letzte Mal gesehen.«

Freund?

»Sie würden bestimmt gern nach Schottland kommen, aber das ist vermutlich erst sinnvoll, wenn wir mehr wissen und Erica stabiler ist. Sie ist vollkommen außer sich. Sie macht Ihnen Vorwürfe und Alex … allen macht sie Vorwürfe.«

Juliet stand auf, ging zur Tür und sah den Flur entlang. Er war menschenleer.

»Cathy, gibt es irgendwelche Hinweise, wohin Beth gegangen sein könnte? Könnte es sein, dass sie hierher nach London kommt?«

Cathy schwieg einen Moment. »Nein, das halte ich für unwahrscheinlich.«

»Was bringt Sie zu der Einschätzung?«

»Im Moment wissen wir noch gar nichts. Aber die Polizei … es ist schwierig, Juliet. Es gibt Anzeichen, dass sie … versucht haben könnte, sich etwas anzutun.«

 

Juliet sieht zum Hotelfenster hinaus, während ihr all diese Gedanken durch den Kopf gehen. Es ist erst September, könnte aber auch schon Winter sein. Der Himmel präsentiert sich in einem fahlen Blassblau, die Luft ist kristallklar. Declan lässt den Löffel leise klingelnd in der Kaffeetasse kreisen.

»Ich wünschte, es wäre vorbei«, bringt sie nahezu tonlos hervor. Sie soll ein Gedicht vortragen, das Erica ausgewählt hat.

Declan sieht sie an. »Du schaffst das«, sagt er. »Es sind doch nur ein paar Strophen.« Das Wort Strophen bringt er nur vernuschelt hervor. Immer wenn er sich bemüht, besonders ruhig zu klingen, fällt er in seinen irischen Akzent zurück. Sie hat bemerkt, dass er seine Sorgen in letzter Zeit herunterspielt. »Denk daran, dass du für Erica hier bist. Niemand zwingt dich.«

Er hat recht. Alex, Ericas übellauniger, wortkarger Ex-Mann, würde nicht mal für seine eigene Tochter eine Grabrede halten. Deshalb hatte Juliet sich angeboten, ohne zu wissen, ob sie es durchstehen würde, etwas für Erica vorzutragen, um ihr ein wenig von dem Leid zu nehmen, das ihre Schwester durchmachen musste. Das letzte Mal, dass sie Erica so zerbrechlich und benommen erlebt hat – in Phasen der Krankheit und danach –, war vor drei Jahren, als ihr Vater starb.

Juliet sollte dankbar sein, dass ihre Eltern nicht mehr erleben müssen, wie ihre Enkelin beerdigt wird. Sie weiß es. Trotzdem wünscht sie sich, sie wären noch da. In ihrer Kindheit erschien ihr Inverness wie eine verschworene Gemeinschaft. Und wie viele Familien mit Zwillingen, waren sich die MacGillivrays besonders nah. Erst mit Ericas Krankheit wurde alles anders. Kurz danach war Juliet in den Süden an die Universität in London gegangen und nie wieder ganz zurückgekommen, weder körperlich noch gefühlsmäßig. Dass sie sich so weit von zu Hause entfernt ein eigenes Leben aufbaute, bedeutete nicht, dass sie Ericas Zustand nicht ertragen konnte. Und niemand behauptete das. Dennoch empfand Juliet immer ein Gefühl von Schuld, zumal Mum und Dad den größten Teil der Last allein zu tragen hatten. Sie begleiteten Erica durch die Krisen ihrer Ehe, nachdem Beth geboren war. Sie ließen Erica und Alex bei sich wohnen, solange sie klein war.

Auf diesen Rückhalt kann sie jetzt nicht bauen. Erica ist die Einzige, die Juliet geblieben ist. Diese Reise nach Schottland wird nicht die letzte sein.

Sie sieht Declan an. »Ich habe Angst davor, dass Erica es nicht durchsteht, wenn ich zu weinen anfange oder meine Stimme versagt.«

»Du wirst nicht weinen. Es ist ein miserables Gedicht.« Er lächelt sie aufmunternd an, während Juliet auf dem Nachttisch nach dem Zettel fischt, den sie am Abend dort hingelegt hat.

»Ich meine die Worte. Hör dir das an. Hör mal.« Sie versucht ein Eselsohr glattzustreichen. »›Heiter und sorglos … stark wurde sie …‹ Das ist doch Beth, oder? Unsere Beth. Warum können es nicht … ich weiß nicht, die Korinther sein, oder sonst was, wie bei allen anderen auch?«

»Möchtest du wirklich, dass Beth eine Beisetzung bekommt wie alle anderen auch?«

Juliet lässt sich in die Kissen zurücksinken. »Ich möchte überhaupt keine Beisetzung für sie haben.« Sie kann nicht schon wieder ihren Standpunkt vertreten. Auch die Ermittlungen werden mit der Beerdigung zu Grabe getragen.

»Ich weiß.« Declan setzt sich am Fußende aufs Bett und streicht ihr mit dem Daumen über die Zehen.

Juliet hat wirklich versucht, sich mit dem Entscheid zu arrangieren. Aber nichts von dem, was auf einen Selbstmord hinweist, scheint ihr auch nur halbwegs plausibel zu sein.

Die Indizien sind erdrückend; alles deutet darauf hin, dass Beth ins Wasser gegangen ist. Dabei gibt es ein Problem, das allem Anschein nach nur Juliet sieht. Und dieses Problem besteht darin, dass das Mädchen, das alle diese Indizien hinterlassen haben soll, kaum etwas mit der Nichte gemeinsam hat, die sie so gut kannte.

In den vielen Telefongesprächen und Nachrichten, die sie sich geschrieben hatten, war Juliet nie etwas von Beths angeblicher Einsamkeit oder ihrem seltsamen Verhalten aufgefallen. Nach all den Jahren, die sie bei ihrer Zwillingsschwester unentwegt auf Veränderungen gelauert hatte, wären ihr Zustände von Depression oder Angst bei ihrer Nichte doch aufgefallen. Nichts deutete darauf hin, dass Beth Valium nahm. Trotzdem hat man eine Packung bei ihren Sachen gefunden. Juliet schien sich als Einzige zu fragen, warum es weder ein ärztliches Rezept noch einen Hinweis darauf gab, wie sie darangekommen sein könnte. Es war nicht einmal erwiesen, dass es überhaupt ihres war.

Aber jedes Mal, wenn Juliet es wagte, einen Zweifel zu äußern, speiste man sie damit ab, dass sie zu misstrauisch und nicht bereit sei, sich der Wahrheit zu stellen. Als wäre Selbstmord eine Art zusätzliches Familienstigma, das sie sich auf diese Weise vom Hals schaffen wollte. Am liebsten würde sie es laut hinausbrüllen: Ericas Diagnose wurde vor zwanzig Jahren gestellt, mein Gott. Das kann ich wohl kaum leugnen. Ich hatte genügend Zeit, mich damit abzufinden, dass ich mit dem Mist leben muss, danke. Natürlich schrie sie es nicht hinaus. Eher schloss sie es tiefer und fester in ihrem Innersten ein und wurde stiller. Das ist so, seit sie ein Teenager war; unentwegt überprüft sie ihr Verhalten und tut alles, um nur ja nicht den Eindruck zu erwecken, sie würde dieselben Symptome entwickeln wie Erica. Als Zwilling einer Erkrankten glaubte sie, sich schon lange mit dem möglichen Risiko arrangiert zu haben, selbst eine bipolare Störung zu entwickeln. Mit Beths Tod wurde die Wunde erneut aufgerissen.

Ihre Zweifel aber haben weder etwas mit Scham noch mit Leugnung zu tun, sondern damit, dass sie den Tod ihrer Nichte verdammt noch mal gewissenhaft aufgeklärt und die richtigen Fragen gestellt haben möchte, statt sich mit dem Nächstliegenden zufriedenzugeben. Ihr reichen die Informationen nicht, die andere für beweiskräftig zu halten scheinen. Am meisten verunsichert sie die Nachricht, die beim Strandhaus der Familie gefunden wurde und ein stichhaltiger Beweis sein soll. Ich kann so nicht weiterleben. Wie weiterleben? Beth hatte Juliet um das Sommerhaus gebeten, um Raum für sich zu haben und Abstand zu ihren Eltern zu gewinnen, die sich gerade scheiden ließen. Alle hielten das für eine gute Idee. Dort konnte sie sich entfalten und auf ihre Entwürfe konzentrieren. Sie hatte sich sogar einen Hund zugelegt und schien ihr Leben zu genießen. Von einem »Nicht so weiterleben können« konnte keine Rede sein.

Das ist auch so ein Punkt. Der Hund. Beth hatte Bucky geliebt. Für Juliet war er immer der Größte, und das nicht nur, weil sie selbst auch eher Hunden als Menschen zugeneigt ist. Bucky war vermutlich allein im Strandhaus zurückgeblieben, als Beth ins Wasser ging. Und genau das klingt nicht plausibel. Und ins Wasser gehen, um sich das Leben zu nehmen? Wie schon Erica und Juliet ist auch Beth an der Moray-Küste aufgewachsen. Sie hat das Wasser geliebt. Sie war eine sehr gute, sichere Schwimmerin und respektierte das Meer.

Nach Abschluss der wochenlangen Ermittlungen mit dem Ergebnis, dass es sich um Selbstmord handelte, wünscht Erica sich eine Trauerfeier, während Juliets Einwände auf nichts als ihrem Bauchgefühl beruhen.

Mit vorsichtigen Schritten bringt Declan ihr den Kaffee ans Bett. »Finde dich damit ab, dass sie tot ist, Jet. Du wirst es vorlesen, weil du es tun musst. Für Beth. Und wenn du es hinter dir hast, wirst du froh darüber sein.«

»Für Beth? Ich dachte, du würdest sagen, das ist aber abgedroschen.«

»Na ja«, räumt er mit einem verlegenen Lächeln ein. »Es ist abgedroschen. Aber wenn die Strophen etwas mit Beth zu tun haben, dann wirst du sie auch vortragen können. Lies es vor, als würdest du mir im Bad etwas vorlesen. Oder im Bett, so wie gestern Abend. Ich bin ja auch in der Kirche. Lies es mir vor. Mach es persönlich.«

Wenige Stunden später tut Juliet, was Declan ihr geraten hat. Ihren Blick an seinen geheftet und mit ungebrochener, fester Stimme bis zum letzten Wort.

Heiter und sorglos das Wellenspiel,

flüstert von Freiheit und Gottes klarer See.

Stark wurde sie, suchte ein Ziel,

ihr Lied sanft hinfortgetragen, von einer Fee.

 

Sie trat ins Tal, vertraut die Hügel,

treib dahin mit klarem, hellem Klang.

Dorthin, wo Finsternis spannt ihre Flügel,

folgt in die Kälte sie ohne Bang –

 

… um Wärme und Licht zu finden an anderem Ort.

Sollen die klagen, die ihr Lied nicht mehr hören?

Nein, Hoffnung und Glaube leiten sie dort,

und Wogen und Wellen lassen ihr Lied immer währen.

Danach verschwimmt alles vor ihr. Gebete. Die Worte des weißhaarigen Pastors über den Verlust eines so jungen Menschen. Dann schreitet die Gemeinde ins kühle Sonnenlicht hinaus, und alles erscheint wieder klar: die silbrig schimmernden Birken, die den Weg zur Petty Chapel in Tornagrain säumen, die beiden kleinen Kreuze, die sich über dem rötlichen Sandstein und den weißen Giebeln zu beiden Seiten des Kirchendachs symmetrisch in den Himmel erheben.

Tornagrain war nicht Ericas Wunsch gewesen; sie hätte sich das große Areal aus viktorianischer Zeit in Inverness gewünscht, auf dem auch Beths Großeltern begraben sind. Alex hatte darauf bestanden, und ausnahmsweise ist Juliet ihm sogar dankbar dafür. Östlich der Stadt gelegen und unweit der Küste auf dem Land, erweist sich Tornagrain jetzt als der bessere Ort. Trotz der Abgeschiedenheit sind die Kapelle und der Friedhof mit vielen Studenten und Freunden der Familie gefüllt. Juliet kennt die Menschen nicht, aber soweit sie sehen kann, ist von der Presse niemand da.

Als sie vor dem Grab stehen, lässt Erica zu, dass Juliet ihre Hand hält. Buckys Leine um die Hand gewickelt, steht Alex im Hintergrund. Der Hund drückt sich flach auf den Boden, die Brauen kummervoll hochgezogen und den Kopf auf die Pfoten gebettet. Der Dekan der Universität und einer von Beths Kommilitonen halten eine Rede und legen einen von Beths Textilentwürfen auf den Sarg. Ein dunkelblauer, von grauen und silbernen Fäden durchwirkter Stoff. Juliet wünscht sich, sie hätten etwas weniger … Maritimes gewählt.

Erst als die Menge sich aufzulösen beginnt und auch Alex sich mit Bucky auf den Rückweg macht, kann Erica nicht mehr an sich halten.

Sie löst sich aus Juliets Hand und sinkt am offenen Grab zu Boden. Ihr Schluchzen durchdringt die Luft, als würde sie zerbrochenes Glas einatmen. Es ist grauenvoll, das mitzuerleben, aber Juliet weiß, dass sie nur abwarten kann. Sie signalisiert Declan, sie allein zu lassen. Widerstrebend kommt er ihrem Wunsch nach, denn auch ihr laufen Tränen über das Gesicht. Hastig wischt sie sie weg und greift sich mit der Hand an die Kehle, um die erstickten Laute zurückzuhalten, die sie sonst von sich geben würde. Nebelschwaden steigen geisterhaft von den Hügeln auf, und der Rauch aus dem Schornstein der nahegelegenen Holzfabrik steigt säulenartig in den Himmel empor. Ganz allmählich wird Erica ruhiger. Cathy steht mit dem Auto bereit, um sie in die Klinik zurückzubringen. Juliet hilft ihrer Schwester auf wie einer alten Frau.

Später zieht der Nebel den Ness hinauf und verhüllt barmherzigerweise den Blick von der Hotelbar, an der Declan Juliet mit kleinen Whiskys versorgt, aufs Wasser. Zaghaft fragt sie nach. Hat sie das Gedicht wie ein Roboter vorgetragen? Das Wort »Gott« gar gefühlskalt ausgespuckt? Declan versichert ihr immer wieder: nichts von beidem.

Im Fernseher über ihnen laufen die Wählerbefragungen. Es ist zwar noch früh, aber sie verheißen nichts Gutes. Juliet nimmt einen Schluck von dem Whisky; er schmeckt metallisch. Nichts schmeckt mehr richtig. Sie konzentriert sich auf das, was als Nächstes zu tun ist. Das Strandhaus und Beths Sachen müssen ausgeräumt werden. Erica ist dazu nicht in der Lage, und Juliet möchte es selbst tun, und zwar jetzt, bevor die letzten Hinweise darauf, warum und wie es ihrer Nichte so schnell so schlecht gehen konnte, auch noch verloren sind.

Sie nimmt noch einen Schluck. Die Fernsehbilder spiegeln sich schwankend im Glas. Sie hätte mehr Zeit hier oben in den Highlands verbringen sollen; mit dem Flugzeug sind es nicht mal zwei Stunden. Vorgenommen hatte sie es sich immer wieder, nachdem Dad ihr vor drei Jahren das Strandhaus und Erica die Wohnung hinterlassen hatte. Kleine Fluchten hatte sie sich vorgenommen, mehr Zeit für die Familie. Aber bei dem Vorsatz war es geblieben. Nie fand sie den richtigen Zeitpunkt. Dass sie Beth mit Bucky hatte ins Strandhaus einziehen lassen, war vor allem ihrem schlechten Gewissen geschuldet, dass sie selbst nicht öfter nach Schottland kam. Eine Art Absolution dafür, dass sie ihre Besuche immer wieder aufschob. Solange es Beth im Strandhaus gutging, konnte Juliet sich ihrer Arbeit widmen.

Selbst jetzt wird sie schon wieder zurückgerufen. Vorhin ist eine Nachricht von der Zentrale, von Fiona Goldman persönlich, gekommen. Es ist der Tag, an dem Beth beigesetzt wird. Und trotzdem geht das Geschäft weiter. Ich hoffe, dir geht es gut. Wenigstens hat Goldman es selbst geschrieben und nicht einen ihrer Laufburschen damit beauftragt. Um vier, vielleicht fünf Uhr morgen früh wissen wir mehr. Bitte komm her, sobald du wieder zurück in London bist.

Juliet lässt das Eis im Glas kreisen. »Ich glaube, ich fahre gleich morgen früh zum Sommerhaus«, sagt sie. »Es sind nur zwanzig Meilen, und ich sollte es tun, solange ich hier oben bin.« Ihr Mund verzieht sich zu einem verkniffenen Strich. »Wenn Fiona etwas von mir will, kann sie anrufen oder herkommen.« In dem Moment fragt sie sich, wann jemand von den wichtigen Leuten der PA zuletzt in den Highlands war. Das wäre vielleicht eine Gelegenheit … Sie hält inne.

Declan hebt die Augenbrauen. »Du kannst Fiona nicht im Ernst bitten, herzukommen. Jedenfalls nicht jetzt. Hast du eine Ahnung, was sie von dir will?«

»Nein. Wahrscheinlich geht es um die Leichenschau.«

Er sieht sie fragend an. »Meinst du wirklich?«

»Nicht die von Beth.« Ihre Stimme bricht. »Ich meine die Partei.« Declan verzieht keine Miene. Er bekommt den größten Teil ihrer Verärgerung und Trauer ab. In einem unbeholfenen Versuch, über das verzeihliche Missverständnis hinwegzugehen, fährt sie fort. »Sie möchte vermutlich über die nächsten Schritte sprechen. Über ihren Ausstieg vielleicht.«

Declan schüttelt den Kopf. Sie spürt, wie sehr er stets bemüht ist, sich nichts anmerken zu lassen. Sie sind sich nicht immer einig, konnten bis vor Kurzem darüber aber noch lachen. In den letzten Wochen des Wahlkampfes aber nahmen diese Unstimmigkeiten zunehmend persönliche und sogar feindliche Züge an, und Juliet – die normalerweise allem mit Gelassenheit und Ironie begegnet – verwandelte sich immer mehr in eine Art tickende Zeitbombe, die schon bei der leisesten Andeutung einer abweichenden Meinung hochgehen konnte. Es ist für beide aufreibend, und sie weiß, dass sie überhaupt nicht so ist wie sonst.

Trotzdem möchte sie die Diskussion nicht abbrechen. »Weißt du was? Vielleicht sollten sie einfach mal ohne mich auskommen. Nur dieses eine Mal. Das ist doch das Mindeste, was sie tun können.« Nicht einmal in ihren eigenen Ohren klingt das überzeugend. Sie legt noch einen drauf. »Ich habe gerade meine zweiundzwanzig Jahre alte Nichte beerdigt. Ich hätte schon vor Wochen hier oben sein sollen. Aber ich hatte ja zu viel zu tun, musste ausbügeln, was andere verbockt haben

Sie verstummt, als sie den Hass in ihrer Stimme bemerkt. Sie hat versucht, nicht Fiona und die Schlagzeilen über ihre Affäre mit Brockwell verantwortlich zu machen. Ihre Verärgerung richtet sich auch eher gegen sich selbst als gegen jemand anderen, auch wenn sie weiß, dass sich das für Declan ganz anders anfühlt. Jetzt und hier aber kann sie sich nicht verzeihen, nicht früher hergekommen zu sein. Wie ist es möglich, dass sie nach Beths Tod nicht mehr als eine kurze, wenn auch anstrengende Nacht lang Erica besucht hat? Und selbst da stand ihr Diensthandy nicht still. Nach fast zehn Jahren bei der PA, in denen sie sich von der kleinen Assistentin schnell zur Generalsekretärin hochgearbeitet hat, ist Juliet Dreh- und Angelpunkt der Partei. Und diese Abhängigkeit hatte ihr gefallen. Bis jetzt.

Auf der mickrigen Stippvisite im Norden hatte man sie in Ericas Klinik weggeschickt. Besuche seien im Augenblick nicht hilfreich, hatten sie ihr höflich, aber bestimmt zu verstehen gegeben. Das wäre die perfekte Gelegenheit gewesen, sich selbst ein Bild vom Stand der Ermittlungen zu machen. Declan hatte darauf gedrängt, vernünftig zu sein, nach London zurückzufahren und sich um die Arbeit zu kümmern; ihr Handy klingelte weiter, und natürlich gab sie klein bei und flog zurück. Als die Maschine in den leuchtend lachsfarbenen Abendhimmel stieg, versuchte sie, durchs Fenster einen Blick auf das Strandhaus zwischen den Bäumen an der Küste erhaschen zu können, als könnten sich daraus Rückschlüsse auf den Sinn von Beths Tod ergeben.

Sie bemerkt, dass Declan sie beobachtet. »Du kannst unmöglich alles stehen und liegen lassen und hier oben einfach verschwinden. Nicht ausgerechnet jetzt. Sie brauchen dich mehr denn je. Fiona mag der Star sein, aber vergiss nicht, dass du der Kopf bist.«

Juliet seufzt.

Der Star.

Juliet war sich nicht sicher, was sie von dem Zusammenhang zwischen dem Glamour eines Stars und dem Erfolg der PA halten sollte. Fiona Goldman und sie kennen sich schon sehr lange. Vor fast zwanzig Jahren hatte es Fiona als Anhängsel eines Mannes von Welt, mithilfe einer aufreizenden Rolle in einer Filmtrilogie über Sexualität, in die Schlagzeilen der Boulevardpresse geschafft. Eines Tages hielt sie auf einer Veranstaltung der London School of Economics einen Vortrag über Geschlechterrollen in der Filmindustrie. Juliet schämt sich heute noch dafür. Jung und von der Welt der Stars in den Bann gezogen, hatte sie es gewagt, eine Frage ans Podium zu richten. Sie fühlte sich geschmeichelt, als Fiona sie auswählte, um die Diskussion über das Ausmaß an Gewalt gegen Frauen in Großbritannien, eines der höchsten in Europa, fortzusetzen. Nach der offiziellen Fragerunde führten sie das Gespräch im kleineren Kreis im Foyer des Old Building noch eine Weile fort. Am Ende erklärte Fiona sich bereit, eine basisdemokratische Bewegung anzuführen, in der Juliet sich damals engagierte, um etwas am Umgang mit sexueller Belästigung an den Universitäten zu verändern. Die Bewegung breitete sich wie ein Lauffeuer über alle Universitäten des Landes aus und hatte Juliet zweifelsfrei als Steigbügel zu ihrem ersten Pressejob bei Woman’s Aid gedient.

Von dort ging sie weiter zu den Grünen. Jahre darauf schloss sie sich einer Gruppe an, die eine neue Partei gründen wollte, eine politische Vereinigung, die die Linke zusammenführen und sich eine größere Wählerschaft erschließen wollte. Die Ziele dieser Partei schienen alles in sich zu vereinen, was Juliet umtrieb: soziale Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Nachhaltigkeit, ganz zu schweigen von der Entschlossenheit, Veränderungen auch tatsächlich umzusetzen.

Macht und Einfluss waren ihr nie wichtig. Juliet wurde gebeten, die Spitzenkandidaten genauer unter die Lupe zu nehmen. Sie hatte sich für ihre akribisch recherchierten Hintergrundpapiere einen Namen gemacht. Obwohl die Aspiranten auf Herz und Nieren geprüft worden waren, bevor sie es überhaupt auf ihren Schreibtisch schafften, fand sich Juliet keine achtundvierzig Stunden später in einer Runde von, wie Declan sie immer nannte, Thinktank-Wichsern, wieder und machte ihnen klar, dass ihre Auswahl unhaltbar war.

Als man sie dann mit der Gegenfrage konfrontierte, ob sie denn einen besseren Vorschlag hätte, fiel ihr ein, dass sie tatsächlich jemanden wusste. Fiona hatte sich aus dem Showbusiness zurückgezogen und engagierte sich seit Kurzem in zahlreichen prestigeträchtigen Kampagnen. Sie war eine hochgeschätzte und enthusiastische Rednerin. »Wir brauchen Fiona Goldman«, platzte es aus Juliet heraus. Kaum ausgesprochen, wurde ihr Einfall schon umgesetzt.

Zum Teil ist es die Enge ihrer Verbundenheit, in der manche eine … Reziprozität erkennen, die Juliet stört. Über den Einfluss, den Fiona als Star hat, kann sie sich jedoch kaum beklagen, wo sie doch selbst ihren Vorteil daraus gezogen und ihn ungeniert für die Progressive Alliance ausgenutzt hat. Mit Fiona an der Spitze schafften sie es, Abtrünnige aus anderen Parteien und unterschiedlichste unabhängige Kandidaten für sich zu gewinnen, und waren erfreut, der Presse ein Gesicht und eine Persönlichkeit vorzeigen zu können. Fiona gewann Förderer und Spender, die ganz scharf darauf waren, ihren Namen in Verbindung mit ihrer neuen Politik zu sehen, sodass zur Unterstützung wichtiger, regionaler Kampagnen genügend Geld da war. Schon ein Jahr nach Fionas Eintritt war es der Progressive Alliance gelungen, sechs Wahlkreise in Wales und fünfzehn im schottischen Parlament für sich zu gewinnen. Und die Bewegung nahm weiter Fahrt auf. Vier Jahre später verfügten sie über zwölf Sitze in Westminster und einen im Europäischen Parlament. Nach dem Brexit-Referendum jedoch und der Darstellung von Fiona als männermordendem Biest in der Presse ging es mit der Unterstützung für die PA bergab.

Declan lässt den Whisky in seinem Glas kreisen. »Du bist die Königsmacherin«, sagt er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Der Begriff lässt Juliet zusammenzucken. Er rudert zurück. »Du musst Fiona helfen, da ohne Gesichtsverlust rauszukommen. Du kannst sie jetzt nicht im Stich lassen.«

Er beugt sich vor und spricht mit eindringlicher Stimme. Was er zu sagen hat, scheint er für so wichtig zu halten, dass er eine Abfuhr von ihr riskiert. »Hör mal zu. Wenn du hierbleibst und jetzt zum Strandhaus fährst statt erst in ein paar Wochen, dann könnte das, von deiner Karriere mal abgesehen, schlimme Folgen für die Partei haben. Nur für Beth ändert sich nichts. Sie ist schon tot.«

»Aber wenn ich nichts tue, wird die Spur noch kälter.«

»Die Spur?« Declan sieht sie auffordernd an, und sie hält seinem Blick stand, während er sein Glas leert. Mit leiserer Stimme fährt er fort. »Juliet, du musst die Nerven behalten. Die Polizei ist allen Hinweisen nachgegangen. Was glaubst du, noch finden zu können?«

Einspruch. Die Polizei behauptet, allen Hinweisen nachgegangen zu sein, denkt sie. Und dass ausgerechnet Karen Sutherland die Untersuchungen leitete, eine alte Bekannte aus Schultagen, der Juliet misstraut, macht die Sache nicht besser. Um die Wahrheit zu sagen: In der Schule damals war Karen eine ignorante dumme Kuh, schikanös und neunmalklug. Sie schob einen Hass auf Erica und Juliet, weil die Jungen immer sagten, sie wäre fetter als die beiden zusammen. Jungen in diesem Alter können gemein sein, aber Karen ließ keine Gelegenheit aus, mit Gemeinheiten zurückzuschlagen. Sie rempelte Erica und Juliet an, stellte ihnen im Flur ein Bein, machte schnippische Bemerkungen darüber, wie abgedreht es sei, Zwilling zu sein, und bedachte sie mit den Spitznamen Jerrica und Jerry, lange bevor es als schick galt, It-Girl zu sein. Ihre Identitäten zu verschmelzen, war der Gipfel an Gehässigkeit, wussten doch alle, die sie kannten, wie sehr jede der beiden verzweifelt versuchte, eine eigenständige Person zu sein. Mit ihren ständigen Bemerkungen über die französische Herkunft ihrer Mutter zettelte sie sinnlosen Streit zwischen den Familien an. Am allerwenigsten entschuldbar war Karens Bemerkung, dass man Erica, als sie einmal weggelaufen war, doch bitte auch in der Klapsmühle suchen sollte. Dass jetzt ausgerechnet diese Frau mit der Aufklärung von Beths Tod betraut ist, erträgt Juliet nur schwer.

Sie sieht in ihr Glas. Der Whisky schimmert in der Farbe von Beths Haar.

»Ich glaube«, fängt sie an, bemüht, ihrer Stimme einen entschlossenen Klang zu geben, »ich komme langsam zu dem Schluss, dass Karen …, dass sie etwas übersehen haben. Ich möchte mit Beths Freunden sprechen. Ich möchte in die Uni gehen und mir ihre Sachen ansehen.«

»Aber wenn du dich jetzt mit Fiona triffst, dir anhörst, was sie zu sagen hat, und dir die amtlichen Endergebnisse ansiehst, dann ändert das nichts an dem, was passiert ist. Wenn du ein paar Wochen wartest, würdest du bei der PA kein Risiko eingehen und einen frischen Blick auf die Dinge bekommen. Anschließend kommen wir wieder her und kümmern uns um Beths Sachen, wenn du weniger …«

Er hält inne. Aber es ist zu spät.

»Wenn ich emotional weniger aufgewühlt bin, wolltest du das sagen?«, ergänzt sie eisig.

Schweigend gingen sie in ihr Zimmer und ins Bett.

Von Alkohol und Müdigkeit benommen, die Morgenmaschine nach London ist ohne sie geflogen, gibt Juliet vor, an Declans Schulter gelehnt zu dösen. Das Strandhaus muss warten. Die Wahlergebnisse sind da. Die Progressive Alliance hat verloren. Jeder Sitz, alle hart erkämpften Kommunen, alles weg.