...


 

Deutsche Erstausgabe (ePub) August 2015

 

Für die Originalausgabe:

© 2010 by Andrew Grey

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Love Means... No Fear«

 

Originalverlag:

Published by Arrangement with Dreamspinner Press LLC, 5032 Capital Circle SW, Ste 2, PMB# 279, Tallahassee, FL 32305-7886 USA

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2015 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

 

 

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

 

ISBN ePub: 978-3-95823-553-3

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de


 

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

vielen Dank, dass Sie dieses eBook gekauft haben! Damit unterstützen Sie vor allem der Autor des Buches und zeigen Ihre Wertschätzung gegenüber seiner Arbeit. Außerdem schaffen Sie dadurch die Grundlage für viele weitere Romane des Autors und aus unserem Verlag, mit denen wir Sie auch in Zukunft erfreuen möchten.

 

Vielen Dank!

Ihr Cursed-Team

 

 

 

 

Klappentext:

 

Nachdem Eli die Amish-Gemeinschaft verlassen hat, zieht es auch seinen jüngeren Bruder Jonah in die große, weite Welt. Doch als Jonah Eli auf seiner Farm besucht, wird er mit Dingen konfrontiert, die sein konservatives Weltbild gehörig ins Wanken bringen: Nicht nur, dass sein Bruder ein Sodomit ist und mit seinem Partner zusammen die Farm leitet, Jonah entdeckt selbst Gefühle für einen Mann – Gefühle, die er nicht haben dürfte…


 

Andrew Grey

 

...

 

 

Aus dem Englischen
von Uta Stanek


 

Widmung

 

 

Für Lynn West, meine Lektorin und Partnerin bei diesen Abenteuern. Ich bin vielleicht derjenige, der sich diese Geschichten ausdenkt und sie aufschreibt, aber sie perfektioniert sie, sodass sie mit Freude und Genuss gelesen werden können. Ohne sie gäbe es keine Andrew-Grey-Geschichte, die in Druck gehen könnte. Danke dir für alles.


 

Kapitel 1

 

 

»Kommst du heute Abend mit?«, fragte eine heitere Stimme aus Richtung seines Türrahmens. Raine sah von seinem Computer auf und erwiderte Jeremys Grinsen – einer seiner jungen und enthusiastischen Manager. Gott, er liebte es, in einem schwulen Büro zu arbeiten. Das große, spießige Unternehmen zu verlassen und diesen Job bei einem Stoffhersteller anzunehmen, war das Beste, was er je getan hatte. Die meisten Mitarbeiter waren schwul; Scheiße, sogar die Eigentümer waren schwul. Dadurch war die Zusammenarbeit entspannt und es gab immer viel aus der Szene zu berichten. »Wir marschieren alle zusammen bei der Parade mit.« Der Kleine hatte so viel Energie, dass Raine sich unwillkürlich fragte, wie er wohl im Bett war. Vielleicht könnte er einen Teil dieser jugendlichen Energie in etwas Gutes umwandeln. »Scotty hat sogar ein Banner gemacht.« Jeremy ließ seine Arme über seinem Kopf durch die Luft sausen. »Da drauf steht: Gay Accountants… Don't be Accrual. Verstanden? Das spielt auf Elvis' Don't be Cruel an.« Jeremys Grinsen wurde noch breiter.

Er wollte dem Kleinen nicht in die Parade fahren – wortwörtlich –, aber der Spruch war schlecht, wirklich schlecht, Raine konnte allerdings sowieso nicht anders, als zu lachen. »Ja, ich geh auch hin.« Raine versuchte, sich auf die letzten notwendigen Eintragungen zu konzentrieren. »Ich muss das hier nur noch schnell fertig machen« – er klickte auf ein paar Buttons, ehe er auf Speichern drückte – »so, und das. Fertig. Gehen wir die Sau rauslassen.« Er schaltete seinen Computer aus, schob den Stuhl zurück, stand auf und ging auf die Tür zu.

»Ich liebe die Gay-Pride-Woche.« Auf dem ganzen Weg zu der Stelle, wo sich die anderen Jungs versammelt hatten, um sich endlich voller Elan in die Party zu stürzen, hüpfte Jeremy praktisch neben ihm her. »Ich kann nicht glauben, dass die Parade direkt vor unserem Gebäude entlangläuft. Das ist so cool!«

Als sie sich der Gruppe näherten, sah er, dass sich bereits einige der Mitarbeiter für die Parade umgezogen hatten. »Als was gehst du?«, fragte Raine, als er auf einen der Jungs zutrat, der in einem Kostüm steckte.

»Ich bin der junge Elvis«, antwortete Dexter, »und Harvey ist der alte Elvis.« Raine entdeckte den anderen Mann, der sich ihnen in einem Fatsuit mit riesigem Gürtel, paillettenbesetzten Hosen, Hemd und sogar mit einem Cape näherte.

»Sie haben auch versucht, für den toten Elvis an einen Sarg zu kommen«, warf Davis schmunzelnd ein, »aber wir haben einstimmig beschlossen, dass das sogar für uns zu geschmacklos ist.« Die Gruppe lachte und steuerte die Fahrstühle an. »Aber wir haben einen der Kerle aus der Buchhaltung dazu gekriegt, als Army Elvis zu gehen.« Himmel, nur ein Haufen schwuler Jungs schaffte es, wirklich alles aus einem Thema – egal welchem – bis zum Erbrechen rauszupressen.

Als sich die Türen des Fahrstuhls öffneten, gesellte sich in der Tat ein Army Elvis zu ihnen – gefolgt von einem hawaiianischen Elvis und sogar einem Teddybär-Elvis, der in einem Ganzkörper-Bärenkostüm steckte – Gott sei Dank ohne Kopf –, komplettiert mit Elvishosen, einem Gürtel und einem Paddle, auf dem stand: Don't be Cruel.

»Frag nicht. Das willst du nicht wissen«, witzelte Jeremy neben ihm, als sie sich allesamt in den Fahrstuhl drängten, um nach unten in die Lobby zu fahren.

Als sie dort ankamen, fielen Raine die Blicke der anderen Büromitarbeiter in ihren Businessanzügen mit Krawatte auf. Sie schüttelten die Köpfe, verbargen den Mund hinter ihren Händen und das eine oder andere laute Lachen begrüßte sie, während sie durch die Lobby auf die Straße strömten. »Geht ihr eure anderen Elvisse suchen und habt Spaß«, rief Raine, während sie den überfüllten Bürgersteig zu der Stelle entlanggingen, an der die Parade starten würde.

»Du marschierst nicht mit?« Jeremy sah zu ihm hoch. Seine Unterlippe schob sich zu einem bezaubernden Schmollen vor. »Ich hatte gehofft, wir könnten gemeinsam marschieren.«

Tja, verdammt, das ging schon einiges über einen Flirt hinaus. Scheiße, das war fast schon eine Einladung mit Siegel, und beinahe hätte er sie angenommen. Verflucht, vor ein paar Monaten noch hätte er sie ohne zu zögern angenommen.

»Nein, geh du ruhig mit den anderen mit, wenn du willst. Ich treffe mich mit ein paar Freunden und wir schauen uns zusammen die Parade an. Allerdings kannst du gerne zu uns stoßen, wenn du willst.« Jeremy sah zu ihm hoch und dann zu den anderen hinüber, während er zu entscheiden versuchte, was er tun wollte. »Schon okay. Geh zu ihnen und vergnügt euch.« Raine lächelte und Jeremy sprang hinter den Elvissen her. Eine Sekunde lang schaute Raine ihm nach, ehe er weiter die Straße hinunterging.

Sein Handy, das Celebration spielte, ließ ihn innehalten. Er zog es aus seiner Tasche und warf einen Blick aufs Display. »Hey, Geoff.«

»Himmel, wo steckst du?«

»Es ist Pride-Wochenende und ich treffe mich mit ein paar Freunden auf der Parade. Du und Eli solltet nächstes Jahr mal vorbeischauen. Das wäre ein Riesenspaß.«

Er konnte Geoff durch die Leitung lachen hören. »Kannst du dir Eli auf einer Gay-Pride-Parade vorstellen?«

Für den Bruchteil einer Sekunde dachte Raine darüber nach, dann fing er zu lachen an. »Nein, schätze nicht, obwohl es in diesem Jahr tatsächlich sogar Pferde gibt.«

»Echte oder nur zwei Männer, die sich einander unter einem Pferdekostüm näherkommen?«

»Eigentlich beides.« Raines Lachen wurde lauter, während er weiterging und seine Freunde ausmachte. Er winkte ihnen zu, um sie wissen zu lassen, dass er sie gesehen hatte. »Aber es gibt auch echte Pferde. Irgendein schwules Poloteam oder so. Aber ernsthaft, ihr zwei solltet mal auf einen Besuch vorbeikommen. Ich würde mich freuen, euch zu sehen.«

»Machen wir«, antwortete Geoff, »und du weißt, dass du jederzeit herkommen kannst, wenn du mal etwas Ruhe und Frieden brauchst oder das Bedürfnis hast, etwas Scheiße zu schaufeln.«

»Und davon habt ihr ja 'ne Menge.« Raine konnte hören, wie eine Band zu spielen begann. »Ich muss los, die Parade fängt an. War schön, mal wieder was von dir zu hören. Ich ruf dich nächste Woche an, dann finden wir einen guten Termin für einen Besuch.«

»Dann bis bald.« Geoff legte auf.

Raine klappte das Handy zu und schob es zurück in seine Tasche, ehe er sich zu seinen Freunden an den Tisch gesellte. Er hob das Bier, das sie für ihn mitbestellt hatten, und sie sprachen einen Toast auf die Freundschaft, Pride und auf all die Männer, von denen sie erwarteten, dass Raine sie innerhalb der nächsten zwei Tage flachlegen würde.

Die anderen waren alle in langfristigen Beziehungen, also lebten sie indirekt durch Raine, da er der einzige Single der Gruppe war. Gott, er liebte dieses Wochenende. Er trank einen Schluck von seinem Bier, um seine Kehle zu befeuchten, und fiel in die Unterhaltung ein, die sie fünf mit Lichtgeschwindigkeit führten.

Als der erste Festzugswagen vorbeifuhr, erstarb das Gespräch und alles drehte sich nur noch um die Perlen. Auch wenn das hier nicht Mardi Gras in New Orleans war, so war es doch definitiv das schwule Pendant dazu. Man stelle zwanzigtausend schwule Männer auf einen begrenzten Platz, werfe funkelnde Perlen auf sie, vermische das Ganze mit Alkohol und man hatte das Rezept für ein einziges Chaos. Die Leute auf den Festwagen warfen eine Handvoll Perlen nach der anderen in die Menge und – natürlich – je weniger man anhatte, desto mehr Perlen bekam man auch.

»Schau mal da rüber«, sagte Don und deutete auf einen Jungen, der aussah wie aus einer Studentenverbindung, mit Poloshirt und Chinohose. Selbstverständlich flog das Shirt davon, entblößte eine gebräunte Brust, und dann wurde die Hose hinuntergeschoben und erlaubte der Welt einen Blick auf nahezu alles, was der liebe Gott ihm gegeben hatte. »Tja, das ist doch mal 'n Anblick.«

Sein Partner, Chuck, schlug ihm auf den Arm. »Pass auf, dass dir nicht die Augen aus dem Kopf fallen.«

»Ich kann doch gucken. Immerhin zeigt er's jedem.« Spöttisch zog Don einen Schmollmund und legte dann einen Arm um die Schultern seines Liebhabers, mit dem er seit mehr als dreißig Jahren zusammen war.

Nachsichtig schüttelte Chuck den Kopf. »Na los, hol dir selbst ein paar Perlen.« Chuck scheuchte seinen Freund vom Tisch. »Aber denk nicht mal dran, dafür deine Hose fallen zu lassen.«

»Hey!«, antwortete Don schnell. »Ich frage mich, ob sie mir Perlen geben, damit ich meine Hose anlasse.«

»So redet ein Gewinner!«, witzelte Chuck, während er sein Glas erhob.

Don packte Raine am Ellbogen und bugsierte sie beide durch die Menge. Der Mann war ein Ass darin, sich die verdammten Perlen zu schnappen. Er suchte sich einen Weg bis ganz nach vorne und fing sie direkt aus der Luft auf. Don mochte zwar an die sechzig sein, war jedoch groß und hatte gute Reflexe. Die kleinen Jungs hatten gegen ihn keine Chance. Die Parade ging weiter, in der Mitte marschierten die Buchhalter-Elvisse vorbei, winkten und warfen einen Perlenhagel in ihre Richtung, als sie an ihnen vorbeikamen. Am Ende der Parade hatten sie beide gefühlt hunderte von Perlenketten um ihre Hälse gelegt.

Lachend und scherzend kehrten sie an ihren Tisch zurück und teilten ihre Beute und eine weitere Runde Getränke mit ihren Freunden.

»Wir sollten langsam los«, meinte Bob, als er und sein Partner Charlie aufstanden. »Jetzt, da die Parade vorbei ist, fangen die Kids ernsthaft an, sich zu betrinken. Wir müssen nicht unbedingt dabei zuschauen.«

Chuck und Don erhoben sich ebenfalls. Bevor sie durch die herumschwirrende Menge zu ihren Autos zurückkehrten, umarmten sie einander noch.

Im Juni reichten die Nächte in Chicago von Backofenhitze bis hin zu Zähneklappern, doch heute Abend war es absolut perfekt. Unsicher, was er tun wollte, wanderte Raine über den Bürgersteig und fing hier und da den Blick eines anderen auf.

Zweimal dachte er ernsthaft darüber nach, das fortzusetzen, entschied sich aber dagegen, wenigstens für den Moment. Ein paar Mal entdeckte er die Männer von der Arbeit, die immer noch in ihren Kostümen steckten und einen Riesenspaß zu haben schienen. Er wusste, dass er sich zu ihnen gesellen könnte, aber danach war ihm nicht.

Nach Mitternacht fand Raine sich auf dem Weg zu seinem Auto wieder, als eine Gruppe halbbetrunkener, halbbekleideter Jungs über den Bürgersteig auf ihn zukam. Sie sangen aus voller Kehle und nahmen auf ihrem Weg alles und jeden mit sich. Um der Masse betrunkener Menschen auszuweichen, rettete Raine sich zwischen zwei Clubs und beschloss, eine schnelle Abkürzung durch die Seitenstraße zu nehmen.

Raine konnte sein Auto bereits sehen, das perfekt eingeparkt auf einem gebührenpflichtigen Parkplatz stand – dankeschön, Parkplatz-Karma –, als ihn jemand an den Perlenketten um seinen Hals zurückriss. Keuchend und hustend stolperte er rückwärts, während er versuchte, auf den Beinen zu bleiben, und gleichzeitig weiter zwischen die geschlossenen Läden gezogen wurde.

»Was zum Teufel –?«

Bevor er noch etwas sagen konnte, landete eine Faust in seiner Seite und schickte Schmerz zu seiner Hüfte hinunter und fast seinen ganzen Arm entlang. Ehe Raine überhaupt denken, geschweige denn sich bewegen konnte, wirbelten ihn raue Hände herum und eine Faust versenkte sich hart in seinem Magen. Er fiel zu Boden, begann zu würgen und übergab sich auf den Bürgersteig, als sich ein Fuß in seine Seite bohrte.

»Scheißschwuchteln, wann werdet ihr's endlich lernen!«

Ein weiterer Tritt fand sein Ziel. Es steckte genug Kraft dahinter, um ihn vom Boden hochzuheben. Mit einem Plumpsen landete Raine wieder auf dem Beton, rollte sich über den Boden und schützte mit Armen und Händen sein Gesicht, während er sein Bestes gab, um sich zu einer Kugel zusammenzurollen. Noch immer würgte er und rang nach Luft.

»Lass ihn!«, rief jemand. Ein weiterer Tritt traf ihn am Arm und Raine hörte, wie etwas knackste, dann türmte sich der Schmerz auf.

Schritte entfernten sich eilig. »Denk dran, Schwuchtel, du hast nur bekommen, was du verdienst!« Raine spürte, wie seine Hand leicht zur Seite geschoben wurde, und sah, wie sein Angreifer vor ihm in die Hocke ging. Wie aus dem Nichts erschien ein Springmesser.

»Da kommt wer!«, rief die andere Stimme wieder und Raine ließ seinen Kopf auf dem Bürgersteig ruhen. Es tat zu sehr weh ihn anzuheben. Er erwartete, jede Sekunde das Messer zu spüren, und wappnete sich dafür. Stattdessen griff eine Hand in seine Tasche und dann hörte er, wie jemand wegrannte. Raine stieß die Luft aus seinen Lungen. Keuchend versuchte er, wieder einzuatmen, während er dalag und die Kälte des Betons in seinen Körper eindringen ließ. Wenigstens betäubte sie etwas von dem Schmerz.

Schatten zogen vor ihm entlang und Raine griff nach ihnen, versuchte, sie zu packen, aber sie glitten ihm durch die Finger. Er bekam kaum Luft in seine Lungen und Sprechen stand völlig außer Frage, also blieb er einfach nur liegen und wartete.

Als er erneut Schritte hörte, verkrampften sich Raines Muskeln und Schmerz schoss vom Kopf bis zu den Füßen durch seinen Körper. In Erwartung eines weiteren Tritts zuckte er zusammen, als ihn eine Hand an der Schulter berührte.

»Ruf einen Krankenwagen!« Noch mehr Schritte und dann sagte eine Stimme nahe seines Gesichts: »Hilfe ist unterwegs.« Etwas Warmes glitt über ihn und etwas von der Kälte verschwand. Schließlich schloss er die Augen und ließ sich von der drohenden Schwärze davontragen.

Die Dinge schienen am Rand seiner Wahrnehmung zu passieren. Leute tauchten auf, sprachen leise miteinander und dann schien der Schmerz zu verblassen und sein Verstand dahinzuschweben. Vielleicht war er tot und auf dem Weg in den Himmel. Raine wusste es nicht und es interessierte ihn nicht. Alles, was er wusste, war, dass er schlafen konnte, weil seine Muskeln ihre Anspannung verloren. Dann schwebte er und glitt durch die Luft, als würde er auf einem fliegenden Teppich liegen.

»Können Sie uns hören?« Die Stimme klang, als wäre sie unter Wasser. Raine versuchte zu antworten, aber sein Kopf rührte sich nicht und er bekam nicht genug Luft, um zu sprechen. Letztendlich bewegte er seine Lippen ein wenig und ließ sich von dem fliegenden Teppich hinfliegen, wohin er wollte.

Die Leute und Stimmen schienen mal stärker da zu sein, mal schwächer und er kam sich vor, als wäre er in einem gigantischen Swimmingpool gelandet. Manchmal erreichte er beinahe die Oberfläche, sodass die Stimmen lauter wurden und er sie fast verstehen konnte, doch dann sank er wieder nach unten und sie verblassten erneut. Immer und immer wieder schwamm er auf die Oberfläche zu, schien sie jedoch nicht ganz erreichen zu können. Als er schon fast so weit war, vor Müdigkeit und Erschöpfung aufzugeben, unternahm er einen letzten Versuch und durchbrach hustend und keuchend die Oberfläche. Seine Lungen schienen immer noch mit Wasser gefüllt.

»Ganz ruhig, mein Lieber, es ist alles gut.« Er spürte eine Hand auf seiner Schulter. »Wir müssen nur den Atemschlauch entfernen.« Er fühlte sich, als würde er sich gleich übergeben müssen. Dann stabilisierten Hände ihn an der Schulter und etwas Langes und Schleimiges glitt aus seinem Mund. Er holte tief Luft und Schmerz explodierte in seiner Brust, als wäre jemand auf seinen Körper gesprungen. »Es ist alles gut, mein Lieber. Entspannen Sie sich einfach und atmen Sie gleichmäßig.« Das war dieselbe Stimme, ruhig und süß, beinahe wie die seiner Mutter.

Als er seine Lider anheben wollte, rieben sie über seine Augen, und er kniff sie wieder zu. Er versuchte es noch mal. Dieses Mal fühlten sie sich weniger wie Sandpapier an und er öffnete sie, weil er neugierig war, wer der Engel mit der süßen Stimme war. Der Raum war verschwommen, genau wie sie, doch nach ein paar Sekunden klärte sich seine Sicht und er konnte eine große, schwarze Frau sehen, die ihn durch den Nebel hindurch anlächelte.

»Wer?«

»Versuchen Sie nicht zu sprechen, mein Lieber«, beruhigte sie ihn und drückte ihm eine Maske aufs Gesicht. »Die hier wird Ihnen dabei helfen, besser Luft zu bekommen, also entspannen Sie sich einfach. Ihr hübscher Freund ist vor ein paar Minuten rausgegangen, aber er kommt gleich zurück.« Sie ging ums Bett herum und er folgte ihr mit Blicken. »Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie stark sind Ihre Schmerzen?«

Das musste die dämlichste Frage sein, die ihm je untergekommen war. Sein ganzer Körper schmerzte und pochte, das Atmen tat weh und – lieber Himmel – jede Menge Scheiß war überall an ihm befestigt… überall.

»Zehn«, hörte er sich murmeln und sie wirbelte noch etwas um ihn herum.

»Haben Sie es warm genug?«

Raine murmelte etwas, von dem er glaubte, dass es wie ein Ja klang, und dann begann der Schmerz zu verblassen und sein Verstand zu fliegen, aber wen interessierte das schon? Raine schloss die Augen und die Frau mit der süßen Stimme verschwand und wurde durch die Leere und Wärme des Schlafs ersetzt.

Als er erneut aufwachte, sein Mund so trocken wie die Sahara, war es im Zimmer und hinter den Fenstern dunkel. Raine schaute sich im Zimmer um und erkannte eine dunkle Gestalt, die auf etwas unter dem Fenster zusammengerollt lag, das so was Ähnliches wie ein Sofa zu sein schien. Das musste der Freund sein, den die Schwester erwähnt hatte, obwohl er keine Ahnung hatte, wer das sein konnte. Wenigstens fiel ihm das Atmen leichter, obwohl sich der Rest von ihm anfühlte, als hätte er drei Runden gegen einen Baseballschläger bestanden. Neben seinem Bett fand er einen Knopf und betätigte ihn, in der Hoffnung, dass er etwas Wasser bekommen könnte. Die Krankenschwester stürmte herein und nahm eine Tasse zur Hand, ehe sie die Maske anhob und den Strohhalm an seine Lippen hielt. »Nicht zu viel«, mahnte sie.

Raine trank etwas, schluckte behutsam, ehe er noch mehr trank. Wieder wurden seine Augen schwer und er schloss sie für einen Moment.

Wenigstens kam es ihm wie ein Moment vor. Jetzt war es im Zimmer hell und die Sonne schien durchs Fenster. Raine drehte leicht den Kopf und erkannte die Gestalt immer noch auf dem Sofa eingerollt. Während er sie beobachtete, regte sie sich, streckte sich und setzte sich dann auf.

»Geoff«, versuchte er zu sagen, aber er war nicht sicher, ob mit der Maske über einem Teil seines Gesichts irgendetwas herauskam.

»Schon okay, Raine. Ich bin hier.« Eine warme Hand glitt in seine.

»Wie bist du hergekommen?« Er sprach langsam, in der Hoffnung, dass er ihn verstand.

»Die Polizei hat mich angerufen. Du hattest keine Papiere zur Identifizierung dabei und meine Nummer war die letzte, die in deinem Handy eingespeichert war.«

»Aber warum?« Er wollte fragen, warum Geoff hier war, doch Sprechen war zu anstrengend, also ließ er es bleiben. Sein Freund war hier und das war alles, was zählte. Geoff würde immer nach ihm sehen, egal, was kam.

»Ich konnte nicht wegbleiben.« Geoffs Finger drückten seine Hand und Raine drückte zurück, während er sich auf dem Kissen zurechtrückte.

»Wie lange?«, murmelte er fast wie zu sich selbst, da er keine Ahnung hatte, wie lange er schon hier oder was heute überhaupt für ein Tag war.

»Heute ist Dienstag«, sagte Geoff leise. Er war Freitagnacht bei der Pride-Parade gewesen. Drei Tage – er hatte komplette drei Tage verloren. Raine rutschte herum, als der Schmerz sich wieder meldete. Geoff musste es ebenfalls bemerkt haben, weil er beruhigend sagte: »Ganz ruhig, ich hole die Schwester.«

Die Hand glitt aus seiner und dann war Geoff verschwunden, nur um gleich darauf mit einer Krankenschwester im Schlepptau zurückzukehren. »Sieht aus, als wären Sie wach.« Ein paar Minuten verbrachte sie damit, die Maschinen und Schläuche zu überprüfen, dann beruhigte sich der Schmerz wieder. »Wie steht's mit Ihrer Atmung?« Sie hob die Maske an und Raine nahm einen regulären Atemzug.

»Ich wechsle die aus, damit Sie besser reden können.« Sie platzierte einen Schlauch unter seiner Nase und schob ihm die Maske über den Kopf. »Wie ist das?«

»Gut«, raunte er.

»Der Arzt wird bald hier sein und wenn er sein Einverständnis gibt, gibt es für Sie Frühstück.«

»Danke.« Wenigstens hatte Raine das sagen wollen.

»Gern geschehen, mein Lieber.« Sie zupfte seine Kissen zurecht und verschwand dann.

Langsam ließ Raine seinen Kopf über das aufgeschlagene Kissen rollen und schaute zu seinem Freund hoch. »Was ist mit mir passiert?«

»Erinnerst du dich nicht?«, antwortete Geoff in besorgtem Tonfall.

»Ich erinner mich daran, verprügelt worden zu sein, aber das ist alles.« Etwas von der Wut, die er fühlte, musste an die Oberfläche gedrungen sein, denn Geoff nahm erneut seine Hand. »Haben sie gesagt, was mit mir los ist?«

»Du wurdest wegen eines Milzrisses operiert. Glücklicherweise war das alles. Eine deiner Nieren hat etwas abbekommen, aber sie glauben, dass das wieder heilen wird. Davon abgesehen hattest du ziemliches Glück. Ein paar deiner Rippen sind gebrochen, genau wie dein linker Arm. Du siehst ziemlich zerschrammt aus, aber irgendwie hast du es geschafft, dein Gesicht vor ihnen zu schützen.«

Tja, das war wenigstens ein Segen. Raine lagen noch mehr Fragen auf der Zunge, als der Doktor den Raum betrat und die Vorhänge um das Bett herum zuzog. »Mr. Baumer, ich bin Dr. Pasch.« Er griff nach der Patientenakte und blätterte durch die Papiere. »Sieht aus, als würde es Ihnen besser gehen. Haben Sie Probleme beim Atmen?«

»Nur, wenn ich tief Luft hole«, antwortete Raine und achtete darauf, es nicht zu demonstrieren.

»Gut.« Der Mann schaute kaum von der Akte auf. »Sieht aus, als hätten Sie noch Schmerzen. Das könnte die nächsten paar Tage anhalten, sollte dann jedoch weniger werden.« Er legte die Akte auf die Ablage neben dem Bett. »Ich würde Sie gerne kurz durchchecken und dann ihre Lungen abhören. Als man Sie hergebracht hat, hatten Sie etwas Flüssigkeit darin.«

Er zog die Decke nach unten und tastete und drückte überall an Raine herum. Währenddessen nutzte Raine die Gelegenheit, um sich selbst in Augenschein zu nehmen, und war geschockt, dass seine Haut überall da, wo er sie sehen konnte, schwarz, blau, gelb, rot und lila schillerte.

»Heilige Scheiße!«, rief er aus, ehe er seinen Kopf zurück ins Kissen sinken ließ.

Die Finger des Arztes hielten inne. »Hat das wehgetan?«

»Sorry, nein. Hab nur gerade gesehen, was für ein einziger blauer Fleck ich bin.« Der Arzt berührte eine seiner Rippen und Raine schrie erneut auf. »Das hat jetzt wehgetan«, erklärte er, während er versuchte, sich davon abzuhalten, zu tief einzuatmen und sein Elend damit noch zu vergrößern. Schließlich zog der Arzt die Decke wieder über ihn.

»Bis jetzt scheint alles gut zu verheilen. Wir werden Sie noch etwa für eine weitere Woche hierbehalten, um sicherzugehen, dass alles seine Richtigkeit hat, und wenn es zu keiner Infektion kommt, sollten Sie nach Hause gehen können, solange es jemanden gibt, der Ihnen helfen kann.« Er stellte die Akte zurück in die Halterung und schob den Vorhang wieder in Position. »Sie können ein bisschen was essen, aber übertreiben Sie es nicht. Und draußen steht ein Polizist, der darauf wartet, mit Ihnen zu sprechen.«

»Oh, okay.« Raine war nicht sicher, dass er für so was schon bereit war.

»Ich bleibe hier.« Erneut nahm Geoff seine Hand. »Wahrscheinlich will er wissen, woran du dich noch erinnern kannst.«

»Ich schicke den Polizisten rein. Wählen Sie einfach die 700 für die Küche, dann wird Ihnen jemand was zu essen bringen.« Der Arzt sagte, dass er später noch mal nach ihm sehen würde, und verließ das Zimmer.

»Er ist ein echter Spaßvogel, was?«, witzelte Raine leichthin.

»Das ist die bissige Queen, die ich kenne. Dir muss es schon besser gehen.« Geoff hob das Telefon ab. »Ich ruf wegen deines Essens an, bevor der Polizist hereinkommt.«

Raine murmelte etwas und ließ seinen Kopf zurück ins Kissen sinken, dankbar, dass der Schmerz im Zaum gehalten wurde – zumindest für eine Weile. Sah aus, als würde er ein paar Tage im Krankenhaus bleiben müssen, und dann musste er jemanden finden, der bei ihm bleiben konnte. Geoff legte auf, setzte sich dann aufs Sofa und nahm ein Buch zur Hand, während Raine seine Augen erneut zufallen ließ.

»Weißt du, ob jemand bei mir auf der Arbeit Bescheid gesagt hat?« Raine unternahm nicht einmal den Versuch, seine Augen zu öffnen. Er hatte es bequem und das war alles, was er im Moment verlangen konnte.

»Das hab ich gemacht. Dein Boss hat vorbeigeschaut, als du noch bewusstlos warst. Er schien aufgebracht zu sein und hat mich gebeten, ihn anzurufen, falls irgendwas passiert. Er scheint ein wirklich netter Kerl zu sein. Eigentlich haben sogar ein paar Leute vorbeigeschaut, aber die Schwestern haben sie nicht zu dir gelassen. Scheint so, als wärst du immer noch ein ziemlich geselliger Mensch.«

»Mr. Abernathy hat mich besucht? Das ist schön.« Die Medizin schien erneut die Oberhand über ihn zu gewinnen und Raine wehrte sich nicht dagegen. Wenigstens tat ihm nichts weh, wenn er schlief. Als er seine Augen wieder öffnete, entdeckte Raine einen anderen Mann, der neben Geoff saß. Sie unterhielten sich leise miteinander.

»Ich bin Officer Clark vom Chicago PD.« Der riesige Mann stand auf und Raine wusste, dass er ihm komplett verfallen gewesen wäre, wenn er sich etwas besser gefühlt hätte. Er war genau sein Typ: groß, dunkel und lecker. »Ich habe nur ein paar Fragen an Sie.«

Langsam nickte Raine. »Ich versuche zu helfen.«

»Gut.« Er schlug seinen Notizblock auf und fing zu schreiben an. »Haben Sie den Mann gesehen, der Sie angegriffen hat?«

»Ja.« Raine schloss die Augen wieder und das Gesicht des Mannes tauchte in seinem Kopf auf. »Ich dachte, er würde mich umbringen.« Raine erschauerte und wurde mit einem schmerzenden Stich in Brust und Seite belohnt. »Er hatte ein Messer und ich dachte, er würde mich jeden Augenblick abstechen. Er hat sich neben mich gekniet, also hab ich ihn gut erkannt. Ich glaube, jemand, der vorbeigekommen ist, hat mir das Leben gerettet.« Seine Gedanken waren nicht gerade sehr zusammenhängend, aber er versuchte es.

»Wir haben am Tatort Fingerabdrücke genommen. Wenn ich Ihnen später ein paar Fotos zeige, meinen Sie, Sie können ihn identifizieren?«

»Ich werd's versuchen.« Raine spürte, wie seine Augen erneut schwer wurden. »Sie haben die ganze Zeit Beleidigungen von sich gegeben. Mich eine Schwuchtel genannt und so.«

»Sir, glauben Sie, dass die Tat von Hass motiviert war?«, fragte der Beamte vorsichtig.

Raine behielt seine Augen geschlossen. Das fühlte sich besser an. »Ja, das war sie definitiv. Und ich werde das auch so aussagen. Sie haben nach einer Schwuchtel gesucht, der sie eine Lektion erteilen konnten.«

»Wie viele waren es?«

»Ich bin nicht sicher, aber es war mehr als einer. So viel ist klar. Sie haben mich beschimpft, während sie mich getreten und geschlagen haben.« Raine spürte, wie ihm Tränen in die Augen traten. »Ich dachte wirklich, ich müsste sterben.«

»Ich weiß, und wir werden unser Bestes geben, diese Kerle zu schnappen.« Officer Clark klappte seinen Notizblock zu. »Ich lasse Sie sich jetzt ausruhen. In ein paar Tagen, wenn Sie sich besser fühlen, komme ich zurück und dann habe ich hoffentlich ein paar Neuigkeiten für Sie.« Er ging auf die Tür zu. »Haben Sie jemanden, der bei Ihnen bleiben kann, wenn Sie aus dem Krankenhaus entlassen werden? Nach so einer Attacke sollten Sie nicht allein sein.«

Raine lag bereits eine Antwort auf der Zunge, als Geoff sagte: »Wenn er entlassen wird, kommt er für eine Weile mit zu mir.« Geoff folgte dem Polizisten aus dem Zimmer und gab ihm allem Anschein nach ein paar zusätzliche Informationen. Raine ließ seine Augen wieder zufallen. Geoff würde auf ihn aufpassen; er würde sich keine Gedanken machen müssen.