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Über dieses Buch

Über die Autorin

 

 

 

Ulrike Dietmann

 

 

Das Medizinpferd

 

Band 1: Einweihung

 

 

 

 

 

 

 

spiritbooks

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

 

 

 

© 2012 spiritbooks, 73230 Kirchheim/Teck

Verlag: spiritbooks, www.spiritbooks.de

Autor: Ulrike Dietmann

Coverbild: Kim McElroy, www.spiritofhorse.com

Covergestaltung: Ulrike Linnenbrink, www.design.ulinne.de

 

Druck und Verlagsdienstleister: www.tredition.de

Printed in Germany

 

eBook-ISBN: 978-3-944587-88-2

 

 

 

 

 

Handlungen und Personen dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Handlungen oder Personen sind rein zufällig.

 

 

 

 

 

 

 

Für meine Sternschuppen: Martin, Joel, Lea

Für Tinnia, das flüsternde Pferd

Für Gitanes, das Mysterium

 

 

Vignette Medizinpferd

1

“Lesen Sie das“, sagte Frau Barzi.

Die kleine, rothaarige Frau mit dem Namen, der Valerie an Warzen und Hexen erinnerte, hatte das Buch einfach aus ihrer Handtasche gezogen und wie einen kalten Fisch in Valeries Hand gleiten lassen. Valeries Widerstand war zu schwach, um Nein zu sagen. Sie war Frau Barzi schon ein paar mal auf der Straße begegnet, oder, wie jetzt, beim Bäcker und die Warze hatte sie jedes Mal begrüßt, als würden sie sich kennen, aber das war nicht der Fall. Frau Barzi röchelte ein wenig beim Atmen und sah überhaupt sehr zerbrechlich aus, weswegen Valerie es sowieso nicht fertig gebracht hätte, ein Geschenk von ihr zurückzuweisen.

Valerie hätte gern gewusst, was für ein Buch es war, aber es war in einen dicken blauen Schutzumschlag gehüllt als wäre es zu gefährlich, die Identität des Buches in Schlattstall, diesem Kaff am Ende der Welt, zu lüften. Frau Barzi lächelte verschwörerisch.

"Sieht interessant aus", sagte Valerie und lächelte zurück. Die Bäckersfrau blickte neugierig und wissend über ihre Mohnschnecken hinweg. Es entstand ein Gefühl, als wären sie alle Teil einer geheimen Mission, deren Epizentrum ausgerechnet Schlattstall war, dieser hingeworfene Häuserhaufen, umgeben von drei finsteren Steilhängen, die alles, was hier geschah, streng vor den Augen der Welt verbargen. Vielleicht, dachte Valerie, konnten echte Verschwörungen nur an einem Ort wie diesem gedeihen oder vielleicht ging auch nur ihr armer, in tausend Teile zersplitterter Verstand wieder einmal mit ihr durch.

Frau Barzi atmete rasselnd und Valerie kniff die Augen zusammen. Ihre Augen waren entzündet, seit dem Tag, an dem jemand Valerie aus ihrem Körper herausgerissen und nicht ordnungsgemäß wieder zurückgebracht hatte. Seit drei Monaten ungefähr, der irdischen Zeitrechnung zufolge, aber wer hielt sich schon daran?

"Auf Wiedersehen", sagte Valerie.

Zuhause schlug sie das Buch unwillkürlich auf irgendeiner Seite auf. Das Leiden am Auge, dem Tor der Seele, deutet darauf hin, dass Sie etwas Wichtiges nicht sehen wollen, stand da.

Das trifft es, dachte Valerie, haha, und ihre Augen fingen wieder an wie verrückt zu jucken. Das Licht fiel gleißend zum Südfenster herein, sie schloss die Jalousie bis nur noch dünne Bündel durch die Beulen in den Lamellen drangen, und öffnete die Terrassentür für Miou. Die Graue strich um Valeries Knöchel und schlang den Schweif um ihre Waden. Der Schmerz in ihren Augen stach wie tausend Nadeln.

Das Telefon klingelte. Valerie verharrte. Etwas, das spürte sie genau, lauerte in der linken Ecke des Zimmers, dann sprang es zum Telefon und schrie: Heb ab. Valerie war entschlossen, dem Gespenst, das sich, ohne von ihr eingeladen worden zu sein, in ihrem Haus breit gemacht hatte, auf keinen Fall nachzugeben. Sie zündete eine Kerze auf der Kommode an und sah, wie eine Schnake auf das Kerzenlicht zuflog. Valeries Herz zog sich zusammen.

Ich darf auf keinen Fall das Tor meiner Seele öffnen, um etwas Wichtiges zu sehen, dachte Valerie, denn wenn ich es tue, werde ich verbrennen wie dieses arme Insekt.

Valerie starrte auf die Überreste der verkohlten Schnake und Mitleid brach über sie herein, sie wollte sich hinlegen und mit dem wehrlosen Wesen sterben.

Wo war die Seele des armen Tiers jetzt? Da, wo auch Miriams Seele war? Sie schloss die Augen und eine Flut von Bildern rollte heran. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so viel Fantasie gehabt zu haben wie seit dem 23. September. Blutige Gefechte spielten sich da ab, sie sah Pferde, die in Panik flohen, eine Versammlung von heiligen Männern und eine weite Steppenlandschaft. Ein Pferd schälte sich aus der rasenden Bilderflut heraus und nannte ihr seinen Namen. Sie überlegte, ob sie den Namen des Pferdes aufschreiben sollte, und suchte mit zitternden Fingern nach einem Kuli in der obersten Schublade der Kommode. Zu müde, um sich auf einen Stuhl zu setzen, ließ sie sich auf den Boden fallen, lehnte sich mit dem Rücken am Sofa an und zog ein Stück Zeitung zu sich her, um den Namen des Pferdes auf den freien Rand zu kritzeln.

Blutbad in Arizona, las sie die Titelzeile eines Artikels und es kam ihr vor, als bestünde eine merkwürdige Verbindung zwischen ihren Bilderfluten und dem Artikel. Das trifft es, dachte sie, und umzirkelte die Titelzeile.

Sie wollte endlich den Namen des Pferdes aufschreiben, da schwappte eine Welle süßer Glückseligkeit über sie herein und sie hatte das Gefühl, aus ihrem Körper herauszutreten, genau wie an jenem Tag, als ... Schreiben, schreiben, befahl sie ihrer Hand. Aber es war so schön, da draußen in dieser Glückseligkeit herumzuschwimmen und sie wollte es noch ein wenig auskosten. Sie war so müde, so müde … der Schlaf übermannte sie.

Als sie wieder aufwachte, war es draußen dunkel und die Kerze fast heruntergebrannt. Sie griff nach der Zeitung und sah, zu ihrer Verwunderung, dass am Rand tatsächlich etwas geschrieben stand:

 

Ein Pferd namens Gitanes

Schwarz-weiß gescheckt

Berber

Sein Kopf erinnert an einen Indianer


Vignette Medizinpferd

2

“Ja?“ Valerie hielt den Hörer von sich weg, als erwarte sie instinktiv etwas Unangenehmes.

“Der Spind Ihrer Tochter …“

Valerie konnte nicht antworten.

“Kommen Sie vorbei? … Oder sollen wir die Sachen wegwerfen?“

Das Etwas in der linken Ecke hüpfte wie ein Kobold auf und ab. Du musst sterben, keifte es schadenfroh.

“Ich komme.“

Bevor Valerie sich auf den Weg machte, entfernte sie den Schutzumschlag des Buches, das Frau Barzi ihr gegeben hatte und las den Titel: Gespräche mit Verstorbenen.

 

Der Geruch von Pferdemist zog Valerie in die Nase und der Juckreiz in ihren Augen wurde unerträglich. Sie hatte Pferde nie gemocht, früher nicht und jetzt noch weniger, sie hätte nichts lieber getan, als umzukehren und wegzulaufen. Ein hübsches Mädchen mit großen schwarzen Augen und langen kastanienbraunen Haaren führte ein schwarzes Pferd über den Hof. Das Mädchen drehte sich um, Valerie hatte das Gefühl, dass das Mädchen, das vielleicht dreizehn war, ihre Gedanken las. Vielleicht war sie eine Freundin von Miriam gewesen.

Es kostete Valerie enorme Kraft, das hölzerne Scheunentor zur Seite zu schieben, aber die Anstrengung brachte sie in die Gegenwart zurück. Ein Hund sprang ihr entgegen, sie erschrak und stieß das nach feuchten Haaren riechende Tier von sich.

Miriam hatte ihr einmal den Spind gezeigt, ganz am Anfang, als sie das riesige Pflegepferd übernommen hatte. Ich habe zu wenig Zeit mit Miriam im Stall verbracht, praktisch gar keine, dachte Valerie, weil ich Pferde verabscheue. Ich habe Miriams Liebe zu den Pferden nie ernst genommen. Aber wie konnte ich auch? Sie sind gefährlich, lebensgefährlich. Es ist unvorstellbar, sich länger in ihrer Nähe aufzuhalten. Ich war eine schlechte Mutter.

Auf dem Türflügel des Spinds war ein Foto vom Riesen, einem der hässlichsten Pferde, das Valerie je gesehen hatte. Korbas, hieß er. Ein hässliches Pferd mit einem noch hässlicheren Namen. Es war alles so unvorstellbar.

Die Tür des Spinds gab ein blechernes Geräusch von sich, als Valerie sie mit einem Ruck öffnete. Miriams Reithelm fiel ihr entgegen und rollte über den Boden. Sie hob ihn auf und strich zärtlich darüber, als könne sie damit etwas wiedergutmachen. In den Fächern fand sie ein paar Reithandschuhe aus braunem Leder, ein paar Cowboystiefel, Größe 35, eine Tüte Pferdefutter, eine Dose Huffett, einen Pinsel, einen Hufkratzer, eine große und eine kleine Pferdebürste. Die Gegenstände anzufassen, dachte Valerie erschrocken, fühlte sich an, als würde sie Miriam berühren oder das, was Miriam jetzt war.

Valerie umschloss den Hufkratzer mit den Fingern und sie zogen sich unwillkürlich zusammen, bis ihre Knöchel weiß wurden. Dieser orangefarbene Hufkratzer aus Plastik mit den struppigen, verbogenen Borsten war die einzige Verbindung zu Miriam, die sie jetzt noch hatte.

Die Tür zur Sattelkammer wurde mit einem brutalen Ruck aufgestoßen, weil das Türblatt klemmte, und eine zierliche Frau mit einem Schlapphut und dünnen, hellbraunen Haaren trat ein. Über ihrer geblümten Bluse trug sie eine gehäkelte Jacke, die ihr etwas Schrulliges verlieh, als wäre sie einem Kinderbuch entsprungen.

“Sie sind Miriams Mutter?“, sagte die Fremde und wieder hatte Valerie das unangenehme Gefühl, dass jemand ihre Gedanken las. Valerie verstaute den Hufkratzer in einer Stofftasche, als wäre sie bei etwas Verbotenem ertappt worden.

“Ich kann mir vorstellen, was Ihnen jetzt durch den Kopf geht“, sagte die Figur aus dem Kinderbuch. Wer hatte sie gebeten, etwas zu sagen?

Kannst du nicht, dachte Valerie und starrte auf den Boden. Ihr Blick fiel auf ein Paar Cowboystiefel aus türkisgrünem Krokodilleder, vorn spitz zulaufend, mit Steppnähten.

“Miriam hat auf Sie gewartet“, sagte die Mischung aus Cowgirl und Mary Poppins.

“Wie meinen Sie das?“

“So wie ich es gesagt habe.“

“Das verstehe ich nicht.“

“Tun sie.“

Valerie fand die Antwort unverschämt und eindeutig zu privat. “Bitte lassen Sie mich jetzt allein. Das hier ist sehr schwer für mich.“

“Wenn Sie mit jemandem sprechen wollen. Hier ist meine Karte.“

Wut schoss in Valerie hoch. Die Fremde war auf Kundenfang, ausgerechnet jetzt. Deshalb war sie gekommen, sie wollte sich an Valeries Verfassung bereichern. Valerie ignorierte die ausgestreckte Hand mit der Karte und wandte sich wieder dem Spind zu. Hinter ihrem Rücken hörte sie, wie die

Frau den Raum verließ. Sie ließ eine merkwürdige Stimmung zurück, wie eine klebrige Wolke. Valerie hatte das Gefühl, an einem Pendel zu hängen und zwischen zwei Welten hin und her zu schwingen, eine unwirklicher als die andere.

Einen Moment lang fragte sich Valerie sogar, ob diese Frau tatsächlich hier in der Sattelkammer gewesen war oder ob sie sich das Ganze nur eingebildet hatte. Seit Miriams Unfall spielten sich in ihrem Verstand alle möglichen Phänomene ab, die die Grenzen der Wirklichkeit bis ins Unkenntliche verzerrten. Valeries Blick schnellte zu der Futterkiste, wo die violette Visitenkarte lag, als Beweis, dass die Lady tatsächlich dagewesen war. Valerie kam nicht dazu, die Karte zu lesen, weil im selben Moment das Mädchen, dem sie auf dem Hof begegnet war, in Begleitung einer Freundin, in der Tür erschien. Valerie ließ die Visitenkarte schnell in der Gesäßtasche ihrer Jeans verschwinden.

Aus dem hintersten Winkel des Spinds zog sie eine Postkarte vor und blies den Staub von der Oberfläche. Das Foto zeigte ein schwarz-weiß geschecktes Pferd. Die Worte, die sie notiert hatte, fielen ihr wieder ein. Sie drehte die Postkarte um, dort stand in Miriams kindlicher Handschrift: Ein Pferd namens Gitanes. Valerie wurde schwindelig. Am Rand der Karte stand in kleinen Druckbuchstaben als Rassenbezeichnung des Pferdes: Berber-Paint-Mix. Sie sah sich das Pferd an und dachte an die vierte Zeile, die sie notiert hatte: Sein Kopf erinnert an einen Indianer. Sie studierte den Kopf des Pferdes und fand, dass er tatsächlich etwas von einem Indianer hatte.

Sie räumte den Spind vollends leer, nahm auch den Sattel, das Zaumzeug und den halb leeren Futtersack mit und verstaute alles im Kofferraum. Sie brachte es nicht fertig, die Sachen ins Haus zu bringen. Irgendwie schien der Kofferraum ein passenderer Ort für Miriams Hinterlassenschaften zu sein, eine bewegliche Zwischenwelt.

Zuhause kramte Valerie in einer Schachtel mit Pferdepostkarten, die in einem Regal in Miriams Zimmer stand. Sie wollte um jeden Preis eine Erklärung für die seltsame Überschneidung ihrer Notizen und der Postkarte in Miriams Spind finden. Sicher hatte sie die Karte mit dem schwarz-weiß gescheckten Pferd schon einmal gesehen, bevor Miriam sie in den Stall mitgenommen hatte und deshalb war sie ihr zufällig in den Sinn gekommen. Vielleicht hatte Miriam ihr die Karte auch gezeigt und ihr gesagt, dass sie sie mitnehmen würde, obwohl Valerie sich nicht daran erinnern konnte. Sie entdeckte eine Serie von Karten, auf denen diverse Pferderassen dargestellt waren, zu denen auch die Karte mit dem Berber gehörte. Wenn sie die Karte tatsächlich schon einmal herumliegen gesehen hatte, vielleicht aufgeräumt und dabei in die Hand genommen, dann war die Präzision des menschlichen Erinnerungsvermögens erstaunlich. Woher hätte sie sonst ein schwarz-weiß geschecktes Pferd von der Rasse Berber kennen können, wo sie noch nicht einmal wusste, dass es eine Pferderasse namens Berber gab.

Wie jedoch war der Name des Pferdes Gitanes erklärbar? Wahrscheinlich hatte sie den Namen ebenfalls beim Aufräumen gelesen, ihr Unbewusstes hatte Gefallen gefunden an Gitanes, auf deutsch Zigeuner, weil sie schon als Kind immer mit den Zigeunern hatte herumreisen wollen – und so war es ins große Archiv des Unbewussten auf die vorderste Regalreihe gewandert. Solche Dinge waren für Psychologen, Therapeuten und Hellseher wahrscheinlich normal. Sie legte die Karte zu den anderen Karten in die Schachtel zurück. Die Erklärung mit dem Unbewussten gefiel ihr, je länger sie darüber nachdachte.

Um den irritierenden Geruch nach Stallmief, der aus ihrer Jeans und ihrem Pulli aufstieg, loszuwerden, ging sie ins Schlafzimmer und zog sich um. Als sie die Jeans über ihre Hüften schob, fiel die Visitenkarte der Frau mit dem Schlapphut aus ihrer Gesäßtasche und blieb mit der Rückseite nach oben auf dem Teppich liegen. Etwas war mit Handschrift darauf notiert. Valerie bückte sich. Gitanes, stand dort in krakeliger Handschrift. Valeries Gedanken standen still.


Vignette Medizinpferd

3

Die Vernunft sagte ihr, dass sie mit jemandem reden sollte, mit einem Menschen, der Verständnis für ihre Situation hatte, aber die Kraft, jemanden anzurufen, konnte sie nicht aufbringen. Ihr Verstand sagte ihr auch, dass dieser jemand auf keinen Fall Cowboystiefel aus türkisenem Krokodilleder trug.

Der Wind tanzte mit dem Windspiel, das im Apfelbaum hing und ließ ein engelsgleiches Geräusch erklingen. Valerie biss in das Fleisch einer Orange, leckte sich die Finger ab und hatte das Gefühl, die Orange wäre türkis.

Nun, da Miriam nicht mehr da war, fiel ihr erst auf, dass sie ihre Freundschaften seit Jahren hatte verkommen lassen und dass es so gut wie keinen vertrauten Menschen in ihrem Leben gab. Niemand rief sie an, um sie zu fragen, wie es ihr ging. Fünf Kondolenzkarten hatte sie erhalten, eine von Miriams Schulklasse, drei von entfernten Freundinnen und eine vom neuen Pfarrer der Gemeinde, den sie noch nie gesehen hatte.

Miou sprang auf ihren Schoß, rückte ihre Gliedmaßen einer unsichtbaren Geometrie folgend zurecht, und ließ alle Anspannung fallen. “Du bist die Einzige, die ich noch habe“, sagte Valerie und strich über das graue Fell. Am Nachmittag gab sie dem Klingeln des Telefons erneut nach. “Wir haben seit Wochen nichts von dir gehört.“ Es war ihre Schwester Tamara mit der Reibeisenstimme.

“Ich von dir auch nicht“, erwiderte Valerie schwach.

“Bist du okay?“, fragte Tamara.

“In jeder Hinsicht“, erwiderte Valerie.

“Kannst du einen Kuchen mitbringen? Besser zwei. Einen mit Buttercreme und Alkohol und etwas Trockenes für die Kinder, das sie in die Hand nehmen können." Valeries Blick fiel auf den Kalender. Welcher Tag war heute?

“Du kommst doch?“

Wenn ich bis dahin nicht auf einem Hexenbesen davongeflogen bin, dachte Valerie. Der Gedanke an den Geburtstag ihrer Mutter im Familienkreis kam ihr so fremdartig vor wie die Landung eines Raumschiffes auf einem Kuchenteller.

“Wie geht es dir? Du weißt, ich will die Wahrheit hören. Ich weiß sowieso, was los ist.“

Einen Augenblick lang überlegte Valerie, ob sie Tammy von der multiplen Erscheinung des Namens Gitanes und dem Hufkratzer erzählen sollte, der eine Verbindung ins Totenreich darstellte.

“Es geht mir wie immer, ganz gut“, sagte sie dann.

“Lüge.“

“Lass mich in Ruhe, Tammy. Ich bin okay.“

“Es wird dir gut tun, unter Menschen zu kommen.“

Sicher, dachte Valerie.

“Um halb eins gibt es Mittagessen … Trägst du schwarz?“

“Nein.“

“Arbeitest du?“

“Alles ist in bester Ordnung, Tammy.“ Mit einem Knall legte sie den Hörer auf.

Sie dachte daran, dass sie Miriam immer mit Reitstunden hatte erpressen müssen, damit sie mit zu den Familienfesten kam. Zehn Reitstunden für den Geburtstag von Tante Leonie letztes Jahr. Valerie schämte sich bei dem Gedanken daran. Niemand sieht mich dort und niemand hört mich, hatte Miriam sich beklagt. Sie behandeln mich, als wäre ich unsichtbar.

Valerie verbrachte den Rest des Tages damit, Zutaten für einen Zitronenkuchen und eine Schwarzwälder Kirschtorte zu besorgen. Während sie Mehl, Backpulver und Zucker auf dem Backbrett ausbreitete, hörte sie Miriams Stimme, als stünde Miriam neben ihr auf einem Hocker, würde Zucker und Mehl abwiegen und Eier aufschlagen. “Das Mehl ist der Drache, der die Eier legt. Er füttert die Eier mit Backpulver, damit sie groß und stark werden.“ Sorgfältig legte Valerie die Dotter in die Kuhle. “Dann pustet er Zucker auf die Eier, damit sie auch ein bisschen was zu naschen haben.“

Valerie bereute zutiefst, dass sie zugesagt hatte. Sie wusste, dass ihre Familie Miriams Tod nicht aushalten konnte, und alles tun würde, um einen Schuldigen – und eine Erklärung – zu suchen. Sie würden irgendetwas Hässliches sagen. Valerie zerschnitt mit dem Messer die Butter wie der Drache, der gegen ein Feuer speiendes Ungeheuer kämpft.

Während sie das Backbrett attackierte, fiel ihr die verrückte Frau mit den Krokodillederstiefeln wieder ein. Valerie lief ins Schlafzimmer. Die Visitenkarte lag auf dem kleinen afrikanischen Tisch neben ihrem Bett, immer noch mit der Rückseite nach oben. Valerie drehte die Karte um. Evi Schäfer, Schamanische Lebensbegleitung, stand dort, zusammen mit einer Telefonnummer. Daneben war ein Pferd in den Farben des Regenbogens abgebildet. Schamanische Lebensbegleitung, dachte Valerie, und hatte keine Ahnung, was damit gemeint war.

 

Nachdem sie den Tortenboden aus dem Ofen gezogen hatte, beträufelte sie ihn mit Alkohol und belegte ihn mit Kirschen. Sie setzte die Schichten der Schwarzwälder Torte zusammen und dachte an das Zitat aus dem Buch von Frau Barzi über die Augen, und das, was die Augen nicht sehen wollten. Sie bestrich den ganzen Kuchen mit Sahne, bis er blickdicht war und streute Schokoplättchen darüber.

 

“Hallo, Tom.“ Valerie umarmte ihren Vater flüchtig. Sie und Tamara sprachen die Eltern schon lange mit Vornamen an. Es war Tamaras Idee gewesen, die unbedingt erwachsen sein wollte, und Valerie hatte mitgemacht, weil die Anrede Mama und Papa ihr wie Dienstbezeichnungen vorgekommen waren.

“Wie geht es dir?“, erwiderte ihr Vater und nahm ihr den Mantel ab. Ohne eine Antwort abzuwarten, schob Tom sie den Flur entlang ins Wohnzimmer.

Valeries Mutter war wie immer ein wenig übertrieben geschminkt und trug eine karierte Bluse und eine Röhrenhose, mit einer breiten Gürtelschnalle. Ihre Mutter hatte es sich in den Kopf gesetzt, das Mädchen vom Lande, in der amerikanischen Variante, zu mimen, auch wenn sie in Berlin aufgewachsen war und den größten Teil ihres Lebens in Groß-städten verbracht hatte. Die Idee hatte sie von einem Urlaub im amerikanischen Westen mitgebracht. Vor ein paar Jahren hatte sie Tom überzeugt, ein Haus auf dem Dorf zu kaufen und einen Hund. Inzwischen waren es drei – Doggen.

Schlecht erzogen stürmten sie auf Valerie zu. Valeries Mutter kommandierte die Hunde herum, auf eine Art, die nicht die geringste Wirkung auf die Doggen hatte. Bei Menschen hatte sie mit ihrer Methode mehr Erfolg. Auch eine interessante Frage, der es sich nachzugehen lohnen würde.

Tamara streckte einen Arm nach Valerie zur Umarmung aus, in der anderen Hand hielt sie den Löffel mit Vanillemousse, den sie sich gleich darauf in den Mund schob.

“Du weißt nicht, wie froh ich bin, dich zu sehen. Ich hätte mich viel früher um dich kümmern sollen. Du siehst schrecklich aus.“

Zum Glück hatte Tamara sich nicht früher um sie gekümmert. Von Tamara bekümmert zu werden, war wie an einem Fleischhaken aufgehängt im Kreis gedreht zu werden.

“Ich mache es wieder gut“, fügte ihre Schwester hinzu. “Schau mich nicht so entsetzt an. Du weißt, ich besitze den Scannerblick.“ Tamara hatte eine große Karriere in der Personalabteilung eines Technologieunternehmens gemacht und behauptete von sich, dass sie einen Menschen nur einmal sehen müsse, um zu wissen, ob er dem Unternehmen Profit bringen oder Kosten verursachen würde. Ihr Scanner sei unbestechlich, pflegte sie zu sagen. Jetzt war sie damit beschäftigt, Valerie zu scannen.

“Du musst Beifußtee trinken“, sagte sie nach einer beängstigend langen Pause. Sie wanderte in die Küche und durchsuchte die Vorratsschränke ihrer Mutter. “Ich hab noch was Besseres.“ Sie klopfte Valerie auf die Schulter und überreichte ihr ein angebrochenes Päckchen mit getrockneten Datteln. Valerie schaute auf das Ablaufdatum, es lag zwei Jahre zurück. “Seit wann betätigst du dich auch als Ernährungsberaterin?“, fragte Valerie.

Tamara ließ den Löffel mit der Vanillecreme langsam und genüsslich über ihre Unterlippe gleiten. “Ich habe einen Kurs besucht“, sagte sie dann triumphierend.

Valerie ließ die Datteln unauffällig im Müll verschwinden. Tamara hatte das Interesse am Thema schon wieder verloren. Von Menschen hatte sie keine Ahnung. Jedenfalls nicht von mir, dachte Valerie. Gut, dass ich der Versuchung widerstanden habe, ihr das mit der Pferdepostkarte zu erzählen. Auch wenn ich nichts dringender brauche als jemanden, der mir irgendeine Erklärung gibt, mit der ich leben kann.

Während des Essens fühlte sich Valerie, als ob jeden Augenblick ein Hufkratzer von oben herabfallen und in der Suppenschüssel landen würde. Am ausgezogenen Esstisch saßen ihre Eltern, Tamara und deren zu Gewalttätigkeit neigender Mann Mark, ihr Bruder Leif und seine Frau Selma, sowie deren drei Kinder. Valerie wusste nicht, wovor sie sich mehr fürchten sollte, vor dem Gespräch am Tisch oder dem Hufkratzer.

“Ich hoffe, sie haben das Pferd noch am selben Tag erschossen“, sagte Mark in die Stille, die nach der Suppe eingetreten war. Mark war nicht nur latent gewalttätig, sondern auch ein unangenehmer Bescheidwisser, der zu viel Goldschmuck trug. “Wie hieß der Klepper noch?“

“Korbas“, sagte Mathilde, Selmas zehnjährige Tochter, die auch Pferde liebte.

“Sie haben ihn doch erschossen“, beharrte Mark.

“Nein“, sagte Valerie.

“Diese Tötungsmaschine ist noch am Leben? Sag mir, wo er ist, damit ich ihm das Gehirn wegblasen kann. Erschießt man Pferde nicht zwischen den Ohren?“

Die Vorstellung schien Mark Spaß zu bereiten. Valerie hielt es nicht länger auf ihrem Stuhl aus und erhob sich. Unwillkürlich wurde sie von Schuldgefühlen wegen Miriams Tod befallen, andererseits wie konnte sie sich in einer Familie zu Hause fühlen, in der ein Typ wie Mark einen Nistplatz gefunden hatte?

“Wohin willst du denn?“, fragte ihre Mutter, die seismografisch auf Stimmungsschwankungen reagierte.

“Auf die Toilette.“

Als Valerie zurückkehrte, hörte sie auf dem Flur, wie die Familie sich unterhielt.

“Wenn du mich fragst, ist sie reif für die Klapse. Noch ein Monat allein in diesem Haus und wir können sie abholen lassen. Wir müssen echt was unternehmen und zwar … “

“Valerie ist zu intelligent, um sich von irgendjemandem etwas sagen zu lassen.“

“Ich werde dafür sorgen, dass das Pferd erschossen wird“, sagte Mark.

Valeries Magen zog sich zusammen wie ein hart gewordenes Stück Brot. Ich sollte gehen, dachte sie und hatte das Gefühl, dass ihr Verstand endlich zurückgekehrt war. Einen Takt später sagte ihr Verstand ihr, dass sie mit einem plötzlichen Abgang so viel Aufruhr heraufbeschwören würde, dass sie womöglich wirklich abgeholt werden würde.

Valerie setzte sich zurück an ihren Platz und legte die Serviette auf ihre Knie. Da sagte Tamara: “Ich will euch sagen, was mir durch den Kopf geht, seit … ich weiß nicht wann, egal, nehmt es mir nicht übel, aber es muss einmal gesagt werden … mich hat es nicht gewundert, dass Miriam starb.“ Ihre Stimme nahm einen verschwörerischen Klang an.