Die Rechnung

Die Rechnung

Die Tony Cassella–Trilogie — Teil Eins

Larry Beinhart

Deutsch von Werner Waldhoff

Für Mitchell Wood & Valerie Kooyker

Jetzt, da ich wieder auf meinen beiden Füßen stehen kann und lebe, klingt es weit hergeholt und melodramatisch, dass ich mich dafür bedanke, noch am Leben zu sein, und dass ich es ohne Euch nicht geschafft hätte. Aber genau das scheint es gewesen zu sein, also danke ich euch für alles und ebenso für dieses Buch.

1 Attica

Für die Verteidigung: Paul Dean Whitney, Harvard 1940, Nummer Drei in seiner Klasse, Law Review, Assistent von Paul C. Chillgren III, Harvard ’49, Nummer Fünf, Law Review, und Andrew Lande Depue, Yale ’73, Nummer Sieben, Law Review. Eine stärkere und hochkarätigere Verteidigung konnte man sich nicht wünschen.

Das Team der Staatsanwaltschaft Manhattan, der prestigeträchtigste Platz für öffentliche Ankläger, wurde angeführt von Franco DeMattresse (Columbia, ’69, Nummer Vierzehn) und unterstützt von Leonard Ginsberg (NYU, ’79, Nummer Vier, Law Review) sowie Roosevelt Long (NYU, ’82, Nummer Siebenundzwanzig). Was ihnen an Klasse und Beziehungen fehlte, machten sie durch Aggressivität wett.

Auf der Richterbank: Seine Ehren Paul Stewart McCarthy, Brooklyn Law School. Abendstudium.

Der Angeklagte war eindeutig schuldig. Doch die Gerichtswelt reflektiert die reale Welt durch zwei Linsen, die mit gleicher Intensität verschärfen und verzerren. Regeln der Gesellschaft, fehlerhafte Verknüpfungen des Schicksalsfadens, zufällige Ereignisse, Können und Inkompetenz und Unterlassungssünden, all das kollidiert mit beängstigender Irrationalität und erzeugt etwas, das mit den Gesetzen der Logik nichts zu tun hat. Es gab deshalb keinen Grund, mit einem Schuldspruch zu rechnen.

Nichtsdestoweniger lautete der Spruch: »Schuldig.«

Seine Ehren P. S. McCarthy verkündete das Urteil: »Drei bis fünf Jahre. Attica.«

Das gesamte Verteidigerteam verfiel in einen Schockzustand, der noch tiefer zu gehen schien als damals, 1957, als der erste Jude in die Kanzlei Whitney, Whitney, Stanley und White aufgenommen worden war. Man hätte einen Nadelstreifen fallen hören können.

Die Staatsanwälte mit ihrer Überheblichkeit und ihrem hässlichem Großstadtslang, von dem Sieg bereits beschwingt, waren geschockt. Selbst die Gerichtssaalbesucher, begeisterte Anhänger von Verirrungen und Fehlurteilen, waren geschockt.

Doch am tiefsten saß der Schock bei dem Angeklagten. Attica. Ein Alptraum. Attica. Warum nicht gleich die Hölle? Warum nicht Auschwitz? Er war sechzig. War das nicht alt genug, um seinen blassen weißen Arsch vor Vergewaltigung zu beschützen? Große, schwarze, in Straßenkämpfen gestählte Leiber würden seinen schreibtischbleichen, schreibtischweichen nackten Leib unter der Dusche gegen die gekachelten Wände knallen. Große fette Fäuste. Schwere Füße. Bösartiges, gehässiges Gelächter, während sie ihn vornüberbeugten und schändeten. Kichern und Gelächter aus Freude an der Zerstörung (fünfte Folge von Joy of Sex, sechzehn Wochen auf der Bestseller-Liste der New York Times). Attica. Alptraum. Messer aus Bettfedern in den Händen von Punkern. »Her mit deinen Zigaretten, her mit deinem Geld. Ich quetsch dir die Augen raus, Pop.«

Hier handelte es sich um Wirtschaftskriminalität. Erste Straftat. Er war Anwalt. Anwälte der gehobenen Mittelklasse in mittleren Jahren kommen nicht nach Attica. Kam John Mitchell nach Attica? Dean? Haldeman? Erlichman? Attica war etwas für Tiere. Der Richter musste verrückt sein, dass er einen Vogel in den Katzenkäfig sperrte. Die Dschungelbestien würden ihn bei lebendigem Leib fressen. Ihn zerreißen. Ihm das Blut aussaugen. Und dann bloß so zum Vergnügen die Federn ausreißen.

At-ti-ca! At-ti-ca! At-ti-ca!

»Niemals! Nie! Da geh ich nicht hin!«, kreischte der Angeklagte. Er schaute zu seinen ehemaligen Partnern hinüber, den Anstiftern dieser Barbarei. »Dafür krieg ich euch dran. Ich reiß euch mit rein und diesen Schwanzlutscher Charlie ebenfalls!«

Seine Ehren P. S. McCarthy schlug mit seinem Hämmerchen auf die Tischplatte. Die Verteidigung versuchte den Angeklagten zu beruhigen. Als es wieder ruhiger im Gerichtssaal geworden war, begründete der Richter — was sein Recht und seine Pflicht war -, wie er zu diesem Urteil gelangt war. Seine Logik war klar und präzise. Seine Argumentation war zwingend und verständlich. Auch das war ungewöhnlich.

Seine Ehren sagten: »Ich schicke Kerle dorthin, die ein Radio für fünfzehn Dollar gestohlen haben. Dieser Kerl hier hat acht Millionen Dollar gestohlen. Er kommt nach Attica.«

Im Kopf des Angeklagten tobten Wut und Angst.

Der Angeklagte Edgar Wood (eine Ellis Island-Variante von Woiczkowsky) war Anwalt für Over & East, Inc., gewesen, dem gigantischen Konglomerat in den Wall Street mit dem Spitznamen Take Over & Eat.

Der Vorsitzende des Aufsichtsrates hieß Charles Goreman. Das führte zu weiteren Spitznamen, denn Schuljungen lieben Spitznamen, und jeder Wall Streeter ist im Grunde ein Schuljunge. Also: »Gore & Glory: Die Übernahmespur von Over & East«1, »Takeover & Eat, immer noch der gleiche alte Gierschlund«2, »Charles ,Blood & Gore‘; Goreman-König der Spekulatoren«3, »Fusionen & Manipulationen — Die ganze Gory Story«4, »Captain Gore — der letzte Pirat«5, »Gore unter Blaublütern: Eine soziale Machtübernahme im Osten.«6

Die Welt hatte Wood nach unten gerissen, und die Hand, die ihn hätte retten können, die Hand von Charles Goreman, rührte sich nicht. Sie waren schon zusammen gewesen, noch bevor es richtig angefangen hatte. Wood war Goremans persönlicher Anwalt sowie juristischer Berater von Over & East. Er saß im Vorstand. Er saß im Aufsichtsrat mehrerer Tochtergesellschaften. Zusammen hatten sie ein Empire aufgebaut. Zusammen, so wie Don Quichotte und Sancho Pansa, wie Roy Rogers und Trigger, wie Sergeant Preston und sein Hund King, wie der Lone Ranger und Tonto. Jetzt war der weiße Mann hinter Tonto her, und der Lone Ranger sagte: »Jeder Indianer kämpft allein. Kapiert, Tonto?«

In einer Vision sah Wood die Straße der Rettung vor sich. Die Pflastersteine der Straße setzten sich aus Rachegedanken zusammen, was die Sache nur noch süßer machte.

»Ruf die SEC an«, sagte Wood zu Whitney. »Die Börsenaufsicht.«

»Was?«

»Die SEC«, wiederholte Wood. »Sag ihnen, ich bin bereit zu einem Handel. Sag ihnen, wenn sie mir Attica ersparen, erzähl ich ihnen alles, was wir, ich und ,Gory‘ Charlie Goreman, getan haben, um Over & East in Takeover & Eat zu verwandeln.«

»Edgar, wir haben unsere legalen Möglichkeiten noch lange nicht erschöpft.« Whitney gab sich etwas väterlich; das gehörte zu den Merkmalen eines Anwalt-Mandanten-Verhältnisses. »Wir können sowohl gegen den Schuldspruch als auch gegen das Urteil Berufung einlegen.«

»Hör mir zu, Whitney.« Wood sprach wie ein Mann, dessen Eier mit einem stumpfen Messer rasiert wurden. »Mach’s auf meine Weise. Wir haben die SEC seit Jahren am Arsch.«

»Hör mal«, sagte Whitney väterlich und geduldig, »dies ist der New York State Criminal Court. Die Betonung liegt dabei auf strafrechtlich und staatlich. Die Börsenaufsicht ist kein Organ der Rechtspflege; sie ist eine ganz normale Behörde der Bundesregierung.«

»Nein. Du hörst mir zu. Wir machen’s auf meine Art.«

»Ich weiß, du bist aufgeregt und wütend; der Schuldspruch und noch mehr dieses obszöne, beispiellose Urteil haben dir einen Schock versetzt. Du bist ein ausgezeichneter Rechtsanwalt, Edgar, aber du bist kein Spezialist für Strafsachen. Wir schon. Deswegen hast du uns ja engagiert. Wir werden mit rauchenden Colts in die Berufung gehen und der ganzen Sache ein Ende machen. Wart nur ab.«

Die Galle schoss in ihm hoch wie das Öl aus einem geplatzten Rohr; sein Blut hämmerte im Neon-Broadway-Rhythmus: At-ti-ca! Ra-che! At-ti-ca! Ra-che! At-ti-ca!

»Whitney, lutsch deinen eigenen blaublütigen Schwanz.«

»Was?«, sagte Whitney. Nur farbige Angeklagte und ehemalige Groton-Kommilitonen haben je in diesem Ton mit ihm gesprochen. Und auch nur dann, wenn sie in der gleichen Abschlussklasse gewesen waren; ganz abgesehen davon, dass sie es mit einem Lächeln gesagt hatten.

»Genau das wirst du tun. Du wirst die SEC anrufen. Du wirst der SEC sagen, dass ich jeden schmutzigen Handel, jeden Hinterhofdeal bezeugen werde. Ich werde ihnen zeigen, wo die Leichen vergraben sind und welche Schränke sie öffnen müssen, um die Skelette zu finden. Die werden sich vor Freude nicht mehr einkriegen. 1963 hat die SEC die ersten Nachforschungen über Over & East angestellt. Ich habe sie gestoppt. Seitdem hatten wir sie fast jedes verdammte Jahr wieder am Hals, und jedes gottverdammte Mal habe ich sie gestoppt. Glaub mir, Whitney, die Jungs werden Männchen machen und betteln.«

»Du bist erregt, Edgar. In Wirklichkeit meinst du das gar nicht so.«

»Außerdem kannst du ihnen sagen, dass ich ihnen als Zugabe noch Charlie ,Gory‘ Goreman auf einem großem Silbertablett servieren werde. Mit einem Apfel im Mund und Gerichtsvorladungen im Arsch.«

»Edgar, denk noch mal ein paar Tage darüber nach. Uns bieten sich eine Menge Alternativen. Glaub mir, ich krieg dich aus dieser Sache raus. Zumindest Attica kann ich dir ersparen.«

»Ja, vielleicht kannst du das...« Woods Stimme klang jetzt fast träumerisch; sein Geist hatte einen Orgasmus erlebt; nun trieben seine Worte sanft auf Whitney zu, ».. .ja, womöglich kannst du das. Aber es wird Charlie nicht gleichzeitig wehtun … das ist ja das Schöne an meiner Methode. Erkennst du die Schönheit nicht, die darin liegt?«

»Das alles hat doch keine Eile. Ich bin sicher, der Richter lässt dich gegen die Kaution auf freiem Fuß, während wir in die Berufung gehen...« Whitney musterte Wood kritisch, während er sprach. Sein Mandant sah ruhig aus, fast zufrieden. Whitney fragte sich, ob er nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte, und wie lange es dauern würde, bis Ersatztassen da wären.

»Nicht nötig«, sagte Wood beschwingt. »Ruf sie nach dem Lunch an, dann sitzen sie in der Zwei-Uhr-dreißig-Maschine. Massenhaft Zeit, bevor das Gericht schließt. Sie werden sagen: ,Bitte, bitte, Euer Ehren, dieser Mann ist so furchtbar, furchtbar wichtig für uns. Bitte lassen sie ihn die Hauptstadt der Nation besuchen, statt diesen fürchterlichen Ort da oben im Staat. Wir möchten gern, dass er kommt und mit uns ein Jährchen oder zwei oder drei plaudert.‘«

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Whitney wie ein Kardinal, der sanft eine kleine Ketzerei tadelt, »ob die SEC vor einem New Yorker Strafgericht viel ausrichten kann.«

»Paul, mein Junge...« Als er seinen Vornamen hörte, wusste Whitney, dass die Sache gelaufen war. Wenn ein Patient seinen Arzt oder ein Angeklagter seinen Verteidiger beim Vornamen nennt, dann heißt das, dass der Abhängige sein Schicksal aus den Händen dieser Götter in seine eigenen genommen hat. »… tu, was ich dir sage. Es ist einfacher, als dich rauszuschmeißen und einen anderen Anwalt zu suchen, bloß wegen eines einzigen Anrufs.«

Paul Dean Whitney war sauer. Er hasste es, wenn ein Mandant Entscheidungen traf. Das hasste er noch mehr, als mit der U-Bahn zu fahren. Er war dermaßen außer sich, dass er seine Taschen nach Kleingeld abzusuchen begann, bevor er merkte, dass er Washington mit der Kreditkarte anrufen konnte.

2 Squash

Charles Chip Forte Riggins, ein Yalie von den kotelettenlosen Wangen bis zu den Pumas mit maßgefertigten Einlegesohlen und zurück zu seinem kantigen Kinn, war dazu geboren, zu segeln, Squash zu spielen und für eine Wall Street-Anwaltskanzlei zu arbeiten. Natürlich machte er all das. Er war ein junger Mitarbeiter bei Choate, Winkler, Higgiston, Hahn & Moore; all diese Namen waren mit einem Kreuzchen versehen. Echte Klasse hat man nur noch vor sich, wenn hinter jedem Namen im Kanzlei-Titel ein Toter steckt. Das heißt, dass die Kanzlei derart angesehen ist, dass die Erwähnung eines lebenden Anwalts sie lediglich herabsetzen würde.

Niemand hat je schlüssig herausfinden können, wozu ich geboren war. Ich begann Squash zu spielen, weil es umsonst war. Ein Freund an der NYU brachte es mir bei und versorgte mich mit einem falschen Ausweis. Als er aus Gründen, die er nie zusammenhängend und verständlich erklärte, von der Uni flog, war ich dem Spiel verfallen.

Ich genoss es stets besonders, Chip zu schlagen, was ihn völlig verwirrte.

Ich schlug ihn; er ließ einen mürrischen Kleiderhaufen im Umkleideraum zurück und ging, nur mit einem beleidigten Gesichtsausdruck bekleidet, in die Sauna.

»Was für Fälle bearbeitest du eigentlich?«, fragte er mich. Er sprach, ohne mich anzublicken, damit sein Blick nicht zufällig meine Genitalien streifte.

»Alle, die sich lohnen.« Ich dachte einen Moment nach; dann fiel mir ein, dass er ausschließlich für Verstorbene arbeitete, und verdreifachte mein Honorar. »Siebenhundertfünfzig Dollar pro Tag für meine Zeit plus Spesen, was auch zusätzliche Leute, die ich anheuere, einschließen kann. Keine Überstunden, aber für jeden Tag, der länger als vierzehn Stunden dauert, berechne ich zwei Tage.«

»Dein Honorar ist nicht das Problem«, sagte er sehr ernsthaft. »Ich will wissen, was für eine Art Arbeit du machst.«

Er wollte »Sag das Zauberwort, und du hast einen Dollar gewonnen« spielen. Er wollte eine Antwort auf eine Frage, die ich nicht kannte, und als Belohnung würde es einen Job geben, den ich dringend brauchte. Ich hasse dieses Spiel.

»Wir sind Squash-Kumpels«, sagte ich. »Niemand kann treuer und standhafter sein als ein Squash-Kumpel. Wenn du verheiratet wärest, dann würde ich sagen, du willst, dass ich beweise, dass deine Frau schreckliche Sachen mit kleinen Tieren anstellt, damit du keine Alimente zahlen musst. Aber du bist nicht verheiratet. Ich glaub nicht, dass du in Schwierigkeiten steckst, weil du gar nicht weißt, wie man da reinkommt. Also, Schluss mit dem Scheiß. Sag mir, was das Problem ist, und ich sag dir, ob ich dir helfen kann.«

»Es geht nicht um mich. Es ist für … sagen wir, für einen Klienten. Aber ich möchte deine Zeit nicht verschwenden, wenn es nicht auf deiner Linie liegt.«

»Natürlich ist es für einen Klienten. Du bist Anwalt, Chip, schon vergessen?«

»Yeah. Schau … uh, äh … Ich weiß nicht, wie ich’s sagen soll. Du bist nicht gerade der sanfteste Bursche der Welt. Ich meine, mich stört’s nicht. Für mich spielt das keine Rolle. Und wenn du der richtige Typ bist, dann spielt es auch keine Rolle … für sie. Ich will also bloß jedermann Zeit und Unannehmlichkeiten ersparen.«

»Zum Teufel damit. Ich brauche deine Beleidigungen nicht. Ich brauche deinen Job nicht. Du hast Glück, wenn du mich kriegst.«

»Wie kommt’s dann«, sagte er, »dass ich die letzten beiden Wochen den Platz bezahlen musste?«

Man kann einen Squash-Kumpel nicht hinters Licht führen. Selbst wenn dein Schlag perfekt ist, er merkt, wenn du pleite bist. Und der Hundesohn wollte immer noch »Sag das geheime Wort« spielen.

»Also gut, wenn du’s unbedingt wissen willst. Querbeet durch alle möglichen rauen Jobs, so könnte man meine Arbeit charakterisieren. Ich jage Kautionsflüchtige. Ich schürfe nach dem nötigen Dreck für Scheidungen. Ich spüre die Wirtschaftsganoven großer Firmen auf...«

Ich sah, wie seine linke Augenbraue zuckte. Das war praktisch ein Hinweis. Ich war dem geheimen Wort sehr, sehr nahe.

»...in ein paar meiner besten Fälle ging es darum, Leute zu schnappen, die große Unterschlagungen begangen hatten, bevor sie sich nach Brasilien absetzen konnten. Ich hab ein paar äußerst diskrete Sachen für Politiker erledigt. Ich biete Diskretion, Loyalität, überlegene Intelligenz und einen halben juristischen Grad.«

»Einen halben juristischen Grad?«

»Yeah«, sagte ich. »Hab vorzeitig mit Jura Schluss gemacht. Ist genauso nützlich, als wäre ich von einer Kosmetikschule abgegangen, bloß dass ich mir immer noch nicht selber die Nägel maniküren kann.«

»Wo« — ich wusste, dass er das fragen würde — »bist du gewesen?«

Meine Antwort, das wusste ich ebenfalls, würde die Sache klar machen. Ich hatte nicht den richtigen Namen, nicht den richtigen Stil oder das richtige Aussehen. Aber einmal im Leben war ich am richtigen Platz gewesen.

»Yale«, sagte ich.

Er lehnte sich zurück und tat so, als würde er überlegen.

Am nächsten Abend stieg ich um sieben Uhr an der Wall Street aus der U-Bahn.

Ich trug einen Anzug und eine Mietkrawatte. Um sechs hatte ich mich noch mal rasiert und meine Koteletten gestutzt. Die Frau, mit der ich zusammenlebte, hatte mein sauberstes Hemd gebügelt. Man würde mir um den Hals fallen.

Der Mann an der Rezeption saß unter einem großen, amorphen, modernen Gemälde, das, so schien es mir, die Farbe Grau symbolisieren sollte. Ich fragte nach Mr. Riggins. Als ich nicht warten musste, weil er sich gerade in einer Konferenz befand oder Überseegespräche führte, wurde mir klar, dass er wirklich in der Klemme steckte.

Er musterte mich prüfend und fand mich angemessen. Nicht gut genug für ein Lob. Nicht übel genug, um zu jammern. Also führte er mich durch die Kaninchengehege auf das Mitarbeiter-Territorium. Eine saubere, gesichtslose Fabrik des Geistes, in der die Mitanwälte immer noch emsig mit unbezahlten, aber den Klienten hoch in Rechnung gestellten Überstunden beschäftigt waren, um ihre Hingabe an den heiligen und hoch bezahlten Gral der Partnerschaft unter Beweis zu stellen.

Über eine Innentreppe stiegen wir nach oben zu den heiligen Gemächern der Partner. Die Anwaltskanzlei versorgt Mitarbeiter mit Büromöbeln; Partner kaufen sich ihre Einrichtungen selbst. Es ist eine der feinsten Methoden der westlichen Welt, Klassenunterschiede zu demonstrieren. Partner können sogar handgearbeitete Türen einsetzen lassen. Wie ein Trapper, der ins Indianergebiet vordringt, so sensibilisierte jedes Zeichen, jede Markierung Chips Ahnung einer potentiellen Gefahr..

»He« — ich legte ihm eine Hand auf seine Schulter —, »ich werde dich nicht in Verlegenheit bringen. Ich werde meiner Rasse Ehre machen.« Sein Blick besagte deutlich, dass Scherze unangebracht waren, wenn man von derart launischen feindlichen Mächten umgeben war. »Wirklich«, machte ich einen Rückzieher, »ich werde nicht mal ein Scherzchen machen. Ich werde mich benehmen, als wäre all dies Ernst, was ich übrigens keineswegs bezweifle. Ich werde mich rechtschaffen und korrekt benehmen.«

»Gut.«

Wir rückten unsere Krawatten zurecht, und er führte mich in das Eckbüro. Ein Eckbüro ist selbstverständlich allererste Klasse. Man stelle sich vor! Zwei Aussichten! Lediglich vier Räume pro Stockwerk besitzen zwei Aussichten! Und die Einrichtung. Ein persischer Teppich, ungefähr einen Morgen groß. Mittendrin ein antiker Schreibtisch. Eine reich verzierte Platte, keine Schubladen darunter, ein Schreibtisch, der laut und deutlich verkündet: funktionslos. Ein purer, unverfälschter Status-Schreibtisch. Es gab keine juristischen Bücher. Keine Bücherregale. All das brachte eines zum Ausdruck: Wenn du diesen Mann triffst, dann zahlst du nicht für Bücher, für staubige Recherchen oder für Aktenstudium. Wenn du diesen Mann triffst, dann zahlst du einzig und allein für das Privileg, ihn treffen zu dürfen.

Es gab nur zwei Stühle. Einer davon stand hinter dem Schreibtisch. Niemand musste erklären, dass Chip zu dieser Party nicht eingeladen war. Er bot mich dem juristischen Hohepriester dar, warf mir einen letzten bittenden Blick zu und verschwand.

Lawrence Choate Haven war ungefähr fünfundsechzig. Für seinen Anzug hätte ich zwei meiner Monatsmieten hinlegen müssen. Seine Nägel waren manikürt, sein Haar war präzise geschnitten, seine Bräune gepflegt, aber nicht übertrieben. Seine Haltung machte seiner Klasse alle Ehre; vielleicht trug er auch ein Korsett. Sein mittlerer Name stand für den Namen Choate im Firmen-Titel.

Er erklärte, dass er meine Referenzen überprüft hätte. Ich schaute bescheiden drein. Er hatte sie adäquat gefunden. Ich schaute erfreut.

»Wenn wir in der Vergangenheit gezwungen waren, Nachforschungen anstellen zu lassen, dann haben wir dafür eine der großen, etablierten Firmen engagiert. Die Verpflichtung zur Rechenschaftsablegung ist in den meisten Fällen eine wichtige Qualifikation. Wie alle positiven Qualifikationen hat sie jedoch auch ihre Kehrseite. Es bedeutet, dass ein ganzes System zum Einsatz kommt, und ein System bedeutet, dass eine beträchtliche Anzahl unbedeutender Leute aus Management, Buchhaltung usw. in die Sache involviert sind.

In diesem Fall haben wir eine Situation, in der Diskretion wichtiger ist als alles andere. Würde ich Sie für Choate, Winkler engagieren, dann könnte ich mir diese Entscheidungsfreiheit nicht zugestehen. Dies jedoch ist eine persönliche Angelegenheit, und so kann ich tatsächlich von dieser Freiheit Gebrauch machen.«

Der Mann sprach nicht nur in vollständigen Sätzen, sondern in vollständigen Abschnitten. Ein aussterbender Stil. Ich war beeindruckt.

Die Teilhaber von Choate, Winkler hatten Mr. Wood nicht wegen seiner überragenden juristischen Qualifikationen rekrutiert. Es war mehr ein Zufall gewesen.

Leisure Time Industries hatte als Schallplattenfirma angefangen, später waren noch Spielsachen, Spiele, Konzerte und Touristik hinzugekommen. Alles, was man unter Muße und Freizeit zusammenfassen konnte, und dazu noch einige Sachen, auf die das nicht zutraf. Eine ihrer Tochtergesellschaften stellte Squashschläger her. Doch auch sie hatten ihren Moment der Schwäche gehabt, und Charles Goreman, der Schwäche witterte wie ein Rüde eine läufige Hündin, hatte zugeschlagen. LTI war zwar tatsächlich größer als O&E, aber es zeigte sich schon bald, dass O&E gewinnen würde. Anstatt sich auf eine lange, blutige Schlacht einzulassen, änderte LTI den Kurs und steuerte eine freundliche Fusion an. Choate, Winkler führten die Verhandlungen, und alle verdienten sich eine goldene Nase.

Vor allem Choate, Winkler. Der ausgehandelte Vertrag schloss ein, dass sie die Anwälte von Over & East wurden. Sie hatten die Verliererseite vertreten und standen zum Schluss mit einem Klienten da, der doppelt so groß war.

Der Handel beinhaltete außerdem, dass Wood Teilhaber bei Choate, Winkler, Higgiston, Hahn & Moore wurde. Und so waren alle Beteiligte zufrieden. Over & East spielte weiterhin Takeover & Eat, die Honorare rollten bei Choate, Winkler nur so an, und Woods Anteil begann bei ca. 750.000 Dollar und stieg unaufhaltsam.

An einem Abend dann vor achtzehn Monaten hatte ein Junior- Buchhalter die Bücher von Choate, Winkler durchgesehen. Junior entdeckte etwas, das allen anderen Buchhaltern und Rechnungsprüfern acht Jahre lang entgangen war. Er arbeitete die ganze Nacht durch, prüfte, überprüfte und machte die Gegenprobe. Ungeduldig wartete er die Morgendämmerung ab und arbeitete den ganzen folgenden Tag hindurch, um das zu überprüfen, was während der Bürozeit überprüft werden musste.

Als sich Junior sicher war, arbeitete er sich bis ins Büro von Lawrence Choate Haven vor und legte die Bombe auf diesen makellosen, erstklassigen Status-Schreibtisch. Edgar Wood war ein Dieb. Schlimmer noch, er benützte die Anwaltskanzlei als Umschlagstelle.

Bis jetzt hatte Junior 4.873.927,64 Dollar aufgespürt, die von Over & East abgezogen und durch Choate, Winkler, Higgiston, Hahn & Moore an existierende, aber stillgelegte Tochtergesellschaften von Over & East weitergeleitet worden waren. Von dort aus war das Geld an die Lieferanten weitergeflossen, bei denen es sich stets um Edgar Wood handelte. Die anschließenden Nachforschungen erbrachten eine Gesamtsumme von über acht Millionen Dollar.

»Vielleicht«, sagte Haven, »handelte ich überstürzt. Nur zu häufig wird ein Mantel des Schweigens, wird ein Schleier über das Gesicht der Wahrheit gezogen. Die Partner sorgen sich mehr um ihr Image in der Öffentlichkeit als um die Bestrafung des Täters. Doch ich war damals der Meinung — und ich bin es auch heute noch — dass dies das falsche Vorgehen ist. Der Schuldige wird buchstäblich belohnt, und die Wiedergutmachung wird Sache der Aktionäre oder in unserem Fall der Teilhaber. Man krümmt sich vor Angst, dass die Öffentlichkeit wegen eines Übeltäters glauben, die gesamte Firma wäre irgendwelcher Vergehen fähig.

Das ist eine Form der Feigheit und ein Missbrauch des Vertrauens der Öffentlichkeit.

Choate, Winkler, Higgiston, Hahn & Moore existiert seit über hundertfünfzig Jahren. In all diesen Jahren hat sich nie etwas Vergleichbares ereignet. Nichts hat unseren Namen je beschmutzt. Ich war der Meinung, dass uns eine harte Reaktion nur stärken würde. Die anderen Senior-Partner stimmten mir zu, wenn schon aus keinem anderen Grund außer, dass irgendjemand schließlich Maßstäbe setzen muss.

Wir beschlossen, vollumfänglich Anklage zu erheben.«

Das taten sie auch. Sie schalteten sofort Robert Morganthau, Staatsanwalt in Manhattan, ein. Noch am gleichen Tag. Noch bevor sie Mr. Goreman informierten. Noch bevor sie Over & East informierten. Noch bevor sie Mr. Wood mit den Tatsachen konfrontierten.

Auf diese Weise konnten sie sich keinen Rückzug mehr erlauben. Und es gab auch keinen.

»Ich setzte eine Kette von Ereignissen in Gang, die nicht vorhersehbar waren. Obwohl Edgar Wood Gelder veruntreut hatte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass er Außenstehende in diese Sache hineinziehen und, schlimmer noch, das Vertrauensverhältnis zwischen Anwalt und Mandant in den Schmutz ziehen würde.«

Edgar Wood, Anwalt von Over & East, persönlicher Anwalt von Charles Goreman, hatte Zugang zu allem und jedem gehabt. Doch dieses Wissen war geheim. Er durfte nichts davon weitergeben. Das Verhältnis Anwalt und Klient basiert auf Vertrauen. Es ist das Fundament. Der Anwalt darf nie etwas über die Angelegenheiten seines Klienten verlauten lassen.

Jedermann rechnete nun mit einer neuen Attacke der SEC gegen Over & East, und die Kanzlei, die angeheuert wurde, um diesen Angriff zurückzuschlagen, war Douglas, Cohen, Bartholomew, Neffsky und McDonald. Laut Choate Haven war der Grund dafür, dass Choate, Winkler teilweise verantwortlich zeichnete für das Vorgehen der SEC und eine Anzahl von Klagen, in die Wood und Over & East verstrickt waren.

Ich hatte von Douglas, Cohen gehört. Revolverhelden im 3000- Dollar- Anzug. Die Choate, Winklers und Co der legalen Welt führten die tagtäglichen Geschäfte zwischen Firmen, Staaten und sogar Nationen. Aber wenn die Kacke am Dampfen war, wenn das FBI die noch rauchende Waffe entdeckt hatte, wenn der Vizepräsident wegen eines Drogendelikts angeklagt war, dann wurde Douglas, Cohen gerufen.

Sie waren so gut, dass die Namen im Briefkopf tatsächlich die noch nicht verstorbener Anwälte waren.

Doch selbst sie hatten Probleme. Sie wollten wissen, was Wood für Aussagen machte. Die SEC, die Wood irgendwo versteckt hatte und seine Zeugenaussage im geheimen aufnahm, argumentierte bis jetzt mit Erfolg, dass sie als Aufsichtsbehörde nicht Teil des Gerichtssystems waren und keine Akteneinsicht gewähren mussten. Die SEC ließ der Beleidigung auch noch den Schmerz folgen und gab ausgewählte Informationen an Wall Street Journal und Times weiter.

»Sie sind die mit der Sache befassten Anwälte. Doch ich trage als Privatperson eine gewisse Verantwortung, da mein Verhalten, wie korrekt und angemessen auch immer, gewissen betroffenen Personenkreisen, deren Wohlergehen mir anvertraut war, Schaden zufügen kann.«

»Yeah, ich kann den Burschen aufspüren«, sagte ich. »Ich kann ihn aufspüren. Vielleicht können Mr. Wood und ich ein kleines Gespräch führen. Obwohl ich nicht glaube, dass er für mich seine Aussage zusammenfassen wird. Ich habe Kontakte zur Times, aber ich möchte wetten, sie wissen auch nicht mehr als das, was sie veröffentlichen. Ich kann mich an eine Sekretärin oder Stenotypistin unten in D.C. ranmachen … aber ich glaube nicht, dass damit Ihre Fragen beantwortet werden, jedenfalls nicht auf lange Sicht, und diese Sache zieht sich hin. Also müssen wir es anders versuchen.«

»Wenn Sie damit andeuten wollen, dass Sie womöglich die vom Gesetz gezogenen Grenzen überschreiten wollen, so muss ich mich auf alle Fälle gegen eine derartige Handlungsweise aussprechen.«

Ich sah ihn an und zuckte die Achseln.

»Können Sie die Sache regeln oder nicht? Sie scheinen Zweifel zu haben.«

Ich erhob mich. »Ich erledige den Job. Ich bringe Ihnen Ergebnisse. Wenn das Honorar stimmt.« Ich ging hinüber zum Fenster. Der Wind pfiff von Turm zu Turm und peitschte kleine Wolkenfetzen gegen die Fensterscheibe. »Die Spesen könnten ganz schön in die Höhe gehen. Raus aus der Stadt und so «, sagte ich über meine Schulter hinweg.

»Hier sind fünfunddreißigtausend Dollar«, sagte er. Die Zahl ließ mich herumwirbeln. Statt eines Schecks stand plötzlich ein Aktenkoffer aus festem Karton für 5 Dollar 98 auf dem polierten Holz des Status-Schreibtisches. Das konnte nur Bargeld bedeuten. Ich ging zum Schreibtisch und riss den Koffer gierig auf. Es war Bargeld.

Zusätzlich enthielt der Koffer allerlei Kleinkram wie Fotos und ein Dossier über den Mann, das die meisten Privatdetektive als hilfreich angesehen hätten. Hübsch, aber meine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die grünen Scheinchen.

»Sie erhalten die gleiche Summe noch einmal, wenn Sie mir eine genaue Zusammenfassung oder die Durchschrift von Mr. Woods Zeugenaussage liefern.«

»Geht in Ordnung«, sagte ich.

3 Pendelverkehr

Ich hob Wayne hoch. Er kicherte und strahlte. Ich ebenfalls.

»Ich werde eine Weile weg sein«, erklärte ich ihm.

»Gehst du auf eine Mission?«

»Ja«, sagte ich feierlich.

»Wow«, erwiderte er. »Besorg’s ihnen, bevor sie’s dir besorgen.«

»Das werd ich«, versprach ich und setzte ihn ab. Er schnappte sich seine Schulsachen und stürmte zur Tür. »Bis später«, schrie er, kurz bevor sich die Tür hinter ihm schloss.

»Wirst du brav sein, wenn du in Washington bist?«, fragte Glenda, als ich zu meinem Kaffee zurückkehrte.

»Wie meinst du das?«

»Es gibt da bei Männern so einen Gedankengang, hab ich gehört, dass es außerhalb der Stadt nicht zählt.«

»Der Spruch heißt richtig: Unter fünf Minuten und außerhalb der Stadt zählt nicht.«

»Ich will keinen Spruch, ich will eine Antwort. Wirst du brav sein?« Sie sagte es mit einem Lächeln, aber die Anspannung war unverkennbar.

Sie liebte mich. Sie sorgte gut für mich. Sie half die Einzelteile aufzusammeln, wenn sie bis zur Hölle und Avenue C verstreut waren. Oder zumindest stand sie neben mir, sanft und geduldig, während ich das Sammeln besorgte. Ich könnte brav sein, das wäre eine durchaus ernst zu nehmende Möglichkeit.

»Aber sicher«, sagte ich, schaute ihr in die Augen und lächelte.

Ich fand meinen Anwalt, Gerry Yaskowitz, dort, wo ich ihn immer finde: auf dem Flur des New Yorker Gerichts. Er hatte gerade für einen mittelprächtigen Heroindealer einen Deal abgeschlossen und stritt sich nun mit dem koreanischen Manager des Far Out-Far East-Big Apple-Massagesalons herum. Der Massagesalon bot »das Höchste an Entspannung, besänftigende exotische Atmosphäre, wunderschöne orientalische Hostessen, die einen nach bester orientalischer Manier verwöhnten, umfassende Befriedigung garantiert«. Der Koreaner kicherte und bot an, in Naturalien zu bezahlen.

»Du billiger Hundesohn«, sagte Gerry. »Schau ich aus wie ein Typ, der sowas nötig hat?« Der Koreaner kicherte heftiger. »Okay, du billiger Hundesohn, ich will mein Honorar, in bar, vorab, und die Naturalien kannst du von mir aus noch drauflegen.«

An diesem Punkt mischte ich mich ein.

»Sag mal, Gerry, was für Ärger kann ich bekommen, wenn ich ein paar Wanzen pflanze und ein bisschen abhöre?«

»Kommt drauf an. Wen und wo?«

»Wahrscheinlich die SEC«, erklärte ich.

»Wirst du schon wieder irre? Bist du wieder auf Droge? Wenn du meinen Rat willst, meinen fachmännischen juristischen Rat, hinter dem viele schmierige Jahre in einem schmierigen Gewerbe stecken: Tu’s nicht. Tu es nicht. Und ich werde dir eine Rechnung für diesen Ratschlag schicken, weil es ein sehr ernst gemeinter Rat ist, der sein Geld wert ist.«

»Yeah, nun, ich hab gerade einen ganzen Haufen Kies angenommen, und um ihn mir zu verdienen, muss ich vielleicht, nur vielleicht, was in der Art tun.«

Er schaute sich im Flur um, zog mich dicht heran und sagte, »Zuerst mal, sei vorsichtig. Und zweitens...« er kritzelte einen Namen und eine Nummer auf ein Stück Papier ».. .hier, ein Anwalt für Strafsachen in D.C. mit guten Beziehungen. Denk dran, ich hab dich zu keinem Verbrechen angestiftet.«

Gerald hatte recht. Es handelte sich um nichts weiter als Geld, das weder meine Lizenz wert war, von der ich lebe, noch das Gefängnis, gegen das ich eine aufrichtige Abneigung hege. Ich bezweifelte stark, dass es irgendeine vollkommen legale Möglichkeit gab, an das zu kommen, was Choate Haven wollte. Es war nicht mal so, dass ich bereit gewesen wäre, für Geld alles zu tun, aber mich reizte das Risiko. Dämlich.

Während ich eine Werkzeugtasche mit einer Anzahl von Mikrofonen, Kameras und Dietrichen zusammenstellte, informierte ich meinen Partner, Joey D’, über meine Pläne.

»Yeah, gut«, sagte er. »Stell bloß nichts Blödes an, während du da unten bist. Du weißt, das mit Glenda, das ist eine wirklich gute Sache. Sie ist eine echte Lady. Und mit dem Jungen, das läuft auch gut. Versau das nicht.« Dabei wusste er noch nicht mal von meinem Anruf bei Sandy; ich hatte ihr gesagt, dass ich bald in D.C. sein würde.

»Was ist los mit dir?«, sagte ich.

»Ahh, du machst in letzter Zeit so einen rastlosen Eindruck, und die meisten Typen, wenn sie erst mal aus der Stadt raus sind … Handel dir bloß keinen Ärger ein.«

Ich wünschte, ich hätte einen Trenchcoat gehabt, den ich mir über die Schulter hätte werfen können, als ich ging, mich in der Tür noch mal umdrehte und sagte: »Ärger ist mein Geschäft.«

Ich erwischte den letzten Pendelflug zur Hauptstadt der Nation.

Sandra Klein holte mich am National Airport ab.

Wir schauten einander an. Vergangenheit und Gegenwart verschmolzen, und die Jahre wirbelten um uns herum wie Konfetti. Sie war einfach schön, ernst, intelligent, einer der wenigen Momente, in denen ich damals in jenen Sturm- und Drangzeiten ein bisschen gesunden Menschenverstand gezeigt hatte. Wir waren Zauberer einer Fern-Romanze, in der es nichts als Liebe und Lachen gegeben hatte, jedes Mal, wenn einer von uns aus einem Flieger gestiegen war. Sandy war Autorin und Therapeutin. Anders als die meisten Leute, die in diesen Branchen tätig waren, verfügte sie über Sensibilität und Klugheit. Angesichts meiner Verhältnisse und der Verfassung, in der ich mich befand, war keine gemeinsame Zukunft möglich, das wusste sie. Vielleicht lag es auch an meiner Person. Also tat sie das einzig Vernünftige. Sie verließ mich.

Zeit, Bilanz zu ziehen. Die Gedanken des anderen zu lesen. Von unserem allerersten Blick an hatten wir nie Worte gebraucht, um Bescheid zu wissen.

Sie schaute erleichtert drein. Damals hatte ich sie beunruhigt. Das scheint vielen Leuten so mit mir zu gehen. Aber ich sah jetzt gesünder, glücklicher, jünger aus als damals, jedenfalls besser, als sie erwartet hatte. Und ruhiger. Doch die gleichen Jahre hatten ihr weh getan; sie sah wesentlich älter aus, so als hätte sie genau vor fünf Jahren in voller Blüte gestanden. Und sie hatte Probleme. Und ich wollte, dass sie die glücklichste Frau der Welt war.

Dafür, dass ich diesen letzten Gedanken gedacht hatte, lächelte sie mir zu und berührte meine Wange. Dann wandten wir uns beide ab, um mit dem Gedankenlesen Schluss zu machen. Sie ließ den Wagen an, und keiner sprach, bis wir den schmutzig grauen Potomac überquert hatten. Sie fragte mich, ob ich mit ihr zu Abend essen würde, und ich sagte, aber sicher doch.

Ich besaß wirklich einen legitimen Grund, sie zu sehen. Choate Haven hatte eine Liste von Woods Gewohnheiten und Vorlieben zusammengestellt und gesagt: »So wie ich Edgar kenne, wird er niemals auf sein Auto oder auf die Nouvelle cuisine verzichten.« Als Sandys erstes Buch erschienen war, hatte man sie durch den ganzen Zirkus geschleust: Talk-Shows, Cocktailparties und Empfänge. Ich vermutete, dass sie die Fresstempel kannte, die gerade in waren. Ich erklärte ihr die Sache, und sie sagte, sie würde mir helfen.

Als wir zusammen waren, hatte sie von der Suche nach einem »Lebenspartner« gesprochen, mit der gleichen Klarheit und der Vernunft, mit der sich andere für eine Karriere entscheiden. Sie war intuitiv, liebevoll, sexy, und wenn es angebracht war, eine echte Erwachsene. Ich war mir damals sicher gewesen, dass sie eine gute Wahl treffen würde. Sie stand nicht nur auf meiner persönlichen Top Ten-Bestenliste aller Zeiten, ich hatte ihr auch zugetraut, dass sie inzwischen eine gute Ehe führen würde. Als sie die Tür zu ihrem Apartment öffnete, war ich mir sicher, dass wir allein sein würden.

Wir waren allein.

Ich fragte nicht, wo ihr Mann war. Vermutlich nicht in der Stadt. Ich fragte auch nicht, wann er zurückkommen würde. Vermutlich nicht an diesem Abend.

»Willst du was trinken?«, fragte sie. »Oder lieber nicht?«

»Oh, hin und wieder gönn ich mir schon ein Glas. Es wird nur zum Problem, wenn ich diese andere Sache noch dazu … und den Scheiß mach ich nicht mehr.«

»Das freut mich«, sagte sie und sah auch so aus. »Ich hab mir Sorgen um dich gemacht … Und jetzt … du siehst gut aus.«

Ich streckte die Hand aus und berührte ihr Gesicht, so wie sie vorhin meines berührt hatte. Mit beiden Händen presste sie meine Hand erst an ihre Wange, dann an ihre Lippen. Dann lag sie in meinen Armen, die Augen feucht, das Gesicht gegen meine Brust gedrückt, und klammerte sich an mich.

Ein Teil in mir reagierte väterlich. Der andere Teil erinnerte sich nur zu gut daran, wie sie ihren Orgasmus bekam. Dieses ansteigende, rhythmische Stöhnen. Und verschiedene Teile meines Körpers erinnerten sich, jeder für sich, an die unterschiedlichen Methoden, die uns dorthin gebracht hatten...

Ich löste mich von ihr und blickte ihr in die Augen.

»Ich lebe seit vier Jahren mit einer Frau zusammen, für mich praktisch ein Rekord … Und nicht nur das, ich bin seit drei Jahren treu, was ganz sicher ein Rekord ist.«

Ich hielt sie in den Armen, ihr Haar weich an meiner Wange, ihre Tränen feucht an meiner Brust; nie hatte ich sie mehr geliebt. Und war wahnsinnig erleichtert, dass ich nicht derjenige war, den sie erwählt hatte, dass ich nicht für diese Tränen verantwortlich war.

Das Watergate Hotel lag recht günstig in einer Biegung des Potomac zwischen Georgetown und dem Marmor des Regierungsviertels. Hier ruhen, wie für die meisten Amerikaner, einige meiner schönsten Erinnerungen, , und hier verbrachte ich die Nacht allein.

Als ich am nächsten Morgen zu Hause anrief, waren Glendas erste Worte. »Wie geht’s Sandy, und erzähl mir nicht, du hättest sie nicht gesehen.«

»Bestens. Und glücklich verheiratet«, sagte ich voller Ehrfurcht vor der Reichweite ihres Radars. Dann entriss ihr Wayne den Hörer und rettete mich vor zu umfassenden Protesten. Er wollte nicht in die Schule. Er wollte raus in den Regen und spielen. »Ich mag Pfützen«, sagte er. Außerdem wollte er in einen Squash-Club eintreten, genau wie ich.

Ich rief meinen Kongressabgeordneten an, John Straightman. Er war bereit, mich sofort zu empfangen. Ein erhebendes Gefühl.

Vor allem deshalb, weil ich nicht mal in seinem Bezirk wählte. Vor vier Jahren war sein Lieferant mit drei Rationen Koks geschnappt worden. Durchsuchung, Verhaftung und Haftbefehl waren in Ordnung, und New Yorks bester Stoff stand an diesem Tag nicht zum Verkauf. Der Dealer rechnete sich eine Strafminderung auf ein simples Vergehen aus, wenn er den Abgeordneten ans Messer lieferte.

Der Staatsanwalt betrachtete die Sache mit gemischten Gefühlen. Auf der einen Seite all die lockende Presse. Andererseits hatte der Abgeordnete eine Menge Freunde. Hätte der Dealer dem Staatsanwalt einen wasserdicht verschnürten, feuerfesten Fall präsentiert, hätte es vielleicht kein Zögern und keine Unentschlossenheit gegeben. So aber war es lediglich ein Hinweis. Um damit was anfangen zu können, hätte die Staatsanwaltschaft einen Verkauf arrangieren müssen, mit Zeugen, Abhörvorrichtungen und allem, was dazugehörte.

Einer der Staatsanwälte war ein Klassenkamerad von William Contact gewesen, dem Chefassistenten des Abgeordneten. Der Staatsanwalt hatte gegen eine Kontaktaufnahme über diesen Draht nichts einzuwenden.

Willie nahm mit mir Verbindung auf. Der Dealer war auf Kaution draußen. Ich stellte für ihn die richtigen Verbindungen her und lockte ihn mit dem Versprechen eines Vier-Kilo-Kaufs runter nach Atlanta. Er flog in Georgia auf und musste feststellen, dass sich die Cops in Atlanta einen Dreck um irgendeine Story über die üblen Methoden eines Yankee-Abgeordneten kümmerten. Der New Yorker Fall kam in die Ablage für schwebende Verfahren, und der Dealer durfte einen größeren Teil seines Lebens in einem Straflager in Georgia verbringen.

Kaum war ich angekommen, wurde ich auch schon zu dem Mann gebracht. Er sagte der Empfangsdame, sie solle keine Anrufe durchstellen, und begrüßte mich ausgiebig. Vollmundiges Lächeln, voller, fester Händedruck, als Zugabe ein Griff nach meinem Ellenbogen. Ich merkte, dass er Angst vor mir hatte.

»Entspannen Sie sich«, sagte ich. »Sie haben mich für einen Job bezahlt. Der Job ist getan. Nun vergessen Sie’s.«

»Ist das Ihr Ehrenkodex?«, sagte er bemüht scherzhaft.

»Ja«, sagte ich ausdruckslos. »Aber Sie können mir einen Gefallen tun.«

»Was kann ich für Sie tun? Sagen Sie es, und es ist schon erfüllt.«

»Ich brauch ein paar Informationen«, sagte ich. Straightman lebte in Sphären, wo man Sachen läuten hörte wie die meisten von uns Kirchenglocken. Er begriff, dass seine rechte Hand nicht wissen musste, was seine linke tat.

»Willie soll sich um die Angelegenheit kümmern«, sagte er, nahm mich beim Ellenbogen und führte mich nach links zu einem angrenzenden Büro. »Ich sag ihm, dass er Ihnen volle Unterstützung zukommen lassen soll. Wenn er Sie nicht zufrieden stellt, wenden Sie sich wieder an mich.«

Wir lächelten, stolz darauf, dass wir so viele delikate Angelegenheiten so schnell und diskret und mit so wenigen Worten erledigt hatten. Er reichte mich an Willie weiter, das mit der vollen Kooperation und so wiederholend.

Willie begrüßte mich aufrichtig begeistert. In gewisser Weise arbeiteten wir auf der gleichen Ebene. Unsere Aufträge entstanden aus den Bedürfnissen anderer, vor allem, wenn es um die Grauzone und Dinge jenseits der Grauzone ging. Der einzig wirkliche Unterschied zwischen uns war vielleicht der, dass er fest angestellt und ich freiberuflich tätig war.

Für Willie war ein Ort, an dem man reden konnte, gleichbedeutend mit einem Ort, an dem man nicht belauscht werden konnte. Wir stiegen in seinen Wagen, aber selbst das hielt er nicht für geeignet. Ich fand es anmaßend, dass er sich für wichtig genug hielt, dass andere Leute seinen Wagen mit Wanzen bepflasterten. Das Watergate war natürlich nicht der richtige Ort für jemanden, der eine leichte Paranoia bezüglich Abhörvorrichtungen entwickelt hatte, also landeten wir schließlich am Jefferson Memorial, wo wir unter den Bäumen am Flutbecken spazieren gingen.

In New York hatte es bei meinem Abflug geregnet. In D.C. war der Himmel schiefergrau; das Wetter wechselte zwischen trübem Dunst und Nieseln.

»Die SEC«, erklärte ich ihm, »vernimmt einen Burschen namens Wood. Edgar Wood. Was ich wissen will, ist ganz simpel. Wo ist er? Was sagt er?«

»Ich habe einen Freund drüben bei der Justiz.«

Watergate

»Ich erledige das, so schnell es geht«, versprach er und schüttelte meine Hand, als bedeutete das eine ganze Menge. Ich drehte mich um und ging davon. Er rief mir nach, »He, soll ich dich nicht mitnehmen?« Ich marschierte weiter.

»Pass auf dich auf«, rief er.

Ich winkte über die Schulter zurück, ohne mich umzudrehen, und ging hinunter zum Fluss. Der Himmel war schlammfarben, und der graue Fluss war mit dreckigem Schaum bedeckt. Der Job war vielleicht eine reine Routineangelegenheit. Kein großer Unterschied zu der gepflanzten Wanze, die beweist, dass der ungeliebte und nicht liebende Gatte ein paar kleine Bumsspielchen mit anonymen Fremden spielte und so die Alimente entweder wesentlich höher oder wesentlich geringer ausfielen. Oder zu der Entdeckung, dass es sich bei dem Dieb um den Schwiegersohn handelte. Oder man trieb jemanden auf, der durchgebrannt war, nur um festzustellen, dass er oder sie schon längst von diesem sogenannten Zuhause hätte durchbrennen sollen.

Aber die Sache konnte auch dichter an die Grenze des Erlaubten führen, und ich hasste Gefängnisse. Ich verstand Edgar Woods Panik. Ich hatte Verständnis für jeden Ganoven dieser Welt, der seine Freunde verkauft, um auf freiem Fuß zu bleiben. Etwas in mir drängte mich, es auf die raue Tour zu versuchen und die Grenze zu überschreiten, deren andere Seite vergittert war. Der gleiche Drang hatte in mir gewühlt, als mir Willie das kühle, weiße Kokain angeboten hatte. Es lauerte in meinen Hoden und Eingeweiden. Ein Gefühl, als stünde der Teufel hinter mir. Als ich mich umdrehte, war nichts da, nicht mal mein eigener Schatten.