Hansen, Konrad Simons Bericht

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Widmung

Meiner Muse

Motto

Schippen un hannein.

Ebbe un Floot.

help di sülbens.

denn helpt di Godt.

 

Hansischer Kaufmannsspruch

Erstes Kapitel

Ein Todgeweihter grüßt dich, Bruder Anselmus. Setz dich zu mir und lass es dir schmecken. Nimm von den Krebsen, nimm vom Kapaun, koste die Feigen und erquicke dich am Wein, es ist reichlich für uns beide da.

Man sagt, du seist von weit her gekommen, um bei Meister Detmar vom Orden der Minderbrüder in die Lehre zu gehen. Er selbst nennt dich seinen besten Schüler. Es heißt, du verstündest dich auf die Kunst, Unglaubliches in glaubhafte Worte zu kleiden. Man rühmt die Geläufigkeit, mit der du die Feder führst, man bewundert deine anmutige Schrift. Ferner sollst du eine Eigenschaft besitzen, die der Erzähllust förderlicher ist als lauter Beifall. Du seist, sagt man, ein so aufmerksamer wie geduldiger Zuhörer. All das gefällt mir, deshalb habe ich dich ausgewählt festzuhalten, was ich zu berichten weiß. Fangen wir also an.

Der erste Satz soll lauten: Dies ist die Lebensgeschichte des Simon Gronewech aus Lübeck, von ihm selbst erzählt im Jahre seines Todes vierzehnhundertzwei. Die weiteren Sätze magst du nach Gutdünken formen, doch diesen will ich so und nicht anders geschrieben sehn, kein Wort mehr und keines weniger.

Merk ihn dir gut, Bruder Anselmus. Und wenn du ihn niederschreibst, setz ihn für sich allein auf das erste Blatt, in großen verzierten Lettern. Und heb den Namen ein wenig hervor, damit er ins Auge springe und die Gedanken sogleich auf jenen Simon Gronewech lenke, der durch die Hand des Henkers ums Leben kam.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir bleibt, meine Geschichte zu erzählen. Gestern ließ mich der Vorsprake vertraulich wissen, die Richteherren seien sich uneins, ob man mich hängen oder köpfen soll. Unter den Befürwortern des Kopfabschlagens, fügte er hinzu, befänden sich nicht minder streitbare Herren als unter jenen, die mich baumeln sehen möchten. Gibt mir dies Hoffnung auf eine hinreichend verlängerte Galgenfrist, so erfüllt mich eine weitere Nachricht mit Besorgnis: Meister Rosenfeld soll sich bereits in der Stadt befinden. Man habe ihn, sagt der Vorsprake, aus Hamburg kommen lassen, damit er den unlängst verblichenen Peter Molne vertrete. Erinnere dich, dass es Rosenfeld war, der Störtebeker und Magister Wigbold auf dem Grasbrook das Haupt abschlug und ein knappes Jahr später Godeke Michels. Sollte es nicht meiner Eitelkeit schmeicheln, dass der Rat mich durch das gleiche Richtschwert in den Tod schicken will?

Einer hat von jeher kommen sehn, dass es mit mir ein böses Ende nehmen würde. Er wäre zutiefst befriedigt, wenn er wüsste, dass seine Voraussagen sich erfüllt haben. Denn nichts verschaffte ihm größere Genugtuung, als recht zu behalten. Ich spreche von meinem Vater, dem Kaufmann und Ratsherrn Hinrich Gronewech.

Obgleich er erst sechsunddreißig Jahre zählte, als ich geboren wurde, hat sich mir das Bild eines alten, starrsinnigen Mannes eingeprägt. Ich sehe ein Gesicht vor mir, dessen ledrige Haut von tiefen Furchen durchzogen ist, schmale Lippen, ein von fusseligem Barthaar umrahmtes Kinn, und ich sehe zwei blassgraue Augen, die voller Abscheu und Verachtung auf mich gerichtet sind. Von Hass zu reden wäre unbillig. Solch leidenschaftlicher Gefühle war Hinrich Gronewech nicht fähig.

Unter den Kaufleuten genoss mein Vater den Ruf, ein Muster an Rechtschaffenheit zu sein. Er schloss kein Geschäft ab, bei dem er sich, seines Vorteils halber, unredlicher Mittel hätte bedienen müssen. Man sollte denken, dass diese Eigenschaft dem Kaufmann so hinderlich sei wie einem Schiffer die Seekrankheit, doch ihm brachte sie Wohlstand. Als er die Sechzig überschritten hatte, besaß er drei Häuser, zwei Speicher am Hafen, vier eigene Schiffe und Anteile an sechs weiteren. Er hätte schon bald nach seinem vierzigsten Jahr im Rat sitzen können, wäre es ihm nicht widersinnig erschienen, für einen Profit, der sich nicht in Mark und Schilling niederschlägt, seine Geschäfte zu vernachlässigen. Als man ihm schließlich das Amt eines Weinherren aufdrängte, nahm er es unter der Bedingung an, dass man ihn während der Zeit, da er im Ratskeller wirkte, auf Rechnung der Stadt beköstige. Du kannst daraus entnehmen, dass er trotz stetig wachsenden Wohlstands eine Krämerseele blieb. Sein größtes Vergnügen war es, abends auf den Pfennig genau auszurechnen, wie viel er am Tage verdient hatte. Dann sah man ihn zuweilen auf eine fast spitzbübische Art lächeln.

Über meine Mutter weiß ich nicht viel mehr zu sagen, als dass sie eine stille, kränkliche Frau war. In jungen Jahren soll sie eine Schönheit gewesen sein, doch in meiner Erinnerung waren ihre Züge von Entbehrung gezeichnet, einer Entbehrung, so will es mir heute scheinen, die nicht vom Mangel an irdischen Gütern herrührte. Nur manchmal und seltsamerweise immer dann, wenn Onkel Bertram unser Haus betrat, gewann ihr Gesicht etwas vom einstigen Liebreiz zurück. Sie hatte vor mir meine Schwestern Mechthild und Margarete zur Welt gebracht, nach mir Katherine. Bei der Geburt ihres fünften Kindes starb sie. Damals war ich neun Jahre alt.

Nach allem, was ich dir bis jetzt von meinem Vater erzählt habe, wird es dich wundern, dass er, kurz nachdem er mich gezeugt hatte, eine unserer Mägde schwängerte. Sie hieß Mette Löding und galt, bis ihr schwellender Bauch dies augenfällig widerlegte, als ein tugendsames Mädchen. Wie es dazu kam, dass mein sittenstrenger Vater der Magd ein Kind machte, ist mir rätselhaft. Mit meinen älteren Schwestern neige ich zu der Ansicht, dass es mehr zufällig, gleichsam im Vorübergehen geschah. Aber wie dem auch sei: Mette gebar einige Monate nach meiner Geburt einen Sohn, den sie Detlef nannte. Von ihm, meinem Halbbruder, wird noch viel zu berichten sein. Rückblickend denke ich, dass mein Leben, hätte es ihn nicht gegeben, anders verlaufen wäre.

Meine Kindheit verbrachte ich in einem alten Haus in der Beckergrube. Mein Vater hatte es für billiges Geld von einem Englandfahrer erworben, der sein Vermögen in Brügge beim Würfelspiel verloren hatte. Das Haus lag nur wenige Schritte vom Hafen entfernt und war von der Diele bis unters Dach mit Waren vollgestopft. Wir lebten zwischen Wollballen, Kornsäcken, Salztonnen, Wein- und Heringsfässern. Als Bett diente mir einen Winter lang ein Haufen Zobelfelle, die einen so abscheulichen Geruch verströmten, dass ich bald selbst wie ein Zobel stank. Kurzum, ich wuchs in einem Speicher auf, umgeben von Gütern aus aller Herren Länder. Ich atmete ihre verschiedenartigen Gerüche, ich kannte die Hausmarke eines jeden Kaufmanns, mit dem mein Vater Handel trieb. Das war meine Welt, Bruder Anselmus. Zu jener Zeit erschien es mir undenkbar, dass ich etwas anderes als ein Kaufmann werden könnte.

Später habe ich oft darüber nachgedacht, wann in meinem Vater die Ahnung aufstieg, dass ich nicht dazu berufen sei, in seine Fußtapfen zu treten. Er muss es schon sehr frühzeitig geahnt haben, lange bevor ich ihm, wenn auch gegen meinen Willen, den Beweis lieferte. Ich mag mich irren, aber ich glaube, es war ein vergleichsweise harmloser Vorfall, der seinen Zweifel weckte: Er ertappte mich dabei, als ich mit einem gleichaltrigen Mädchen aus der Nachbarschaft etwas tat, das wir Kinder Oorswiesen nannten. Wir hatten uns im Abtritt eingeschlossen und unsere Geschlechtsteile entblößt. Beim Oorswiesen geschah nichts weiter, als dass man einander anschaute, mitunter auch an jenen Stellen betastete, durch die sich der eigene Körper vom anderen unterschied. Mein Vater, durch einen Knecht herbeigerufen, riss die Tür mit solcher Gewalt auf, dass sie aus den Angeln sprang. Sein Gesicht war weiß vor Zorn und Empörung. Als er unsere Blöße sah, wandte er sich voll Ekel ab und befahl dem Knecht, mich ins Haus zu schaffen. Dort rief er die Familie zusammen, um mich vor aller Augen zu bestrafen. Er tauchte eine Weidengerte in Wasser und sagte mit mühsam erzwungener Ruhe, es sei die heilige Pflicht des Vaters, den Sohn zu züchtigen, damit dieser das Erlaubte vom Verbotenen zu unterscheiden lerne.

Es war das erste Mal, dass er mich schlug. Er verlangte nicht, dass ich ihm den Rücken zukehrte. Ihm war es gleich, wo mich die Schläge trafen. Die dünne geschmeidige Gerte zerschnitt die Haut meiner Hände, meines Gesichts. Ich spürte, wie Blut über mein Gesicht rann, und leckte es von den Lippen. Ich hörte ihn vor Anstrengung stöhnen, sah, wie er schwitzte, doch zu meiner eigenen Verwunderung empfand ich keinen Schmerz. Mir war, als schlüge er einen anderen. Er nahm es für Trotz, dass ich weder jammerte noch zurückwich, und dies machte ihn rasend. Aber wie so oft in meinem Leben entging ich dem Schlimmsten, weil ein Schutzengel, diesmal in Gestalt meines Onkels Bertram, in das Geschehen eingriff.

Der würdige Domherr drückte meinen Vater auf einen Stuhl nieder und entwand ihm die Gerte.

»Lass es dabei bewenden, lieber Bruder«, sagte Onkel Bertram. »Du läufst Gefahr, dich in einen Zustand sündhafter Erregung zu steigern, wenn du in dieser Weise fortfährst. Halt also ein und erzähl mir, was er verbrochen hat.«

Es dauerte eine Weile, bis mein Vater wieder so weit zu Atem gekommen war, dass er mit allen Anzeichen des Abscheus berichten konnte, was vorgefallen war.

Der Domherr gab mir sein seidenes Schnupftuch und sagte: »Wisch dir das Blut ab, Simon. Du bist im Begriff, den Märtyrer zu spielen.« Und zu meinem Vater gewandt: »Du solltest es von einer höheren Warte aus betrachten, Hinrich. Wie willst du einem Menschen begreiflich machen, was Gut und Böse ist, wenn er den Unterschied zwischen Mann und Frau nicht kennt? Denn kommt nicht ein gerüttelt Maß an Bösem wie auch an Gutem aus jenem Unterschied?«

»Das ist pfäffisches Gerede, Bertram«, sagte mein Vater. »Wenn ich dieses Mal Nachsicht übe, wer sagt mir, dass er es beim nächsten Mal nicht noch ein Stückchen weitertreibt?«

»Er wird es weitertreiben, lieber Bruder«, erwiderte der Domherr munter. »Er wird es um eben jenes Stückchen weitertreiben, das ihn zum Sünder macht. Und wie so viele andere Sünder wird unsere heilige Mutter Kirche auch ihn in ihre Arme schließen, Amen.«

Onkel Bertram war eine anerkannte Autorität in Fragen der Moral. Hatte er das Amen gesprochen, war es nicht ratsam, weiterhin auf einer abweichenden Meinung zu beharren. Mein Vater wusste am besten, wie jäh die Sanftmut des Gottesmannes in Zorn umschlagen konnte. So beschränkte er sich auf die Drohung, dass er alles daransetzen werde, aus mir einen ordentlichen Menschen zu machen. Vermutlich dämmerte ihm jedoch schon damals, dass seinen Bemühungen kein Erfolg beschieden sein würde.

Bei Onkel Bertram hingegen hatte ich stets das Gefühl, dass er an mir einen Narren gefressen habe. Ich wähle diesen Ausdruck, weil es gerade das Unbeständige, Verspielte, Leichtfertige, Vernunftwidrige – kurz, das Narrenhafte war, das ihm an mir zu gefallen schien. Der ehrwürdige Herr Dompropst mag mir verzeihen, wenn ich behaupte, dass wir aus dem gleichen Holz geschnitzt sind – nur mit dem Unterschied, dass ich ein roher Klotz geblieben bin, während er zum Kunstwerk geraten ist. Doch damit vorerst genug von Onkel Bertram. Du wirst ihm noch einige Male begegnen, in meiner Geschichte und wahrscheinlich auch in eigener Person. Er hat mich wissen lassen, dass er mich in meiner Zelle zu besuchen gedenkt.

Um auf meinen Vater zurückzukommen: Er war, ich sagte es bereits, ein Kaufmann, der Rechtschaffenheit in geschäftlichen Erfolg umzumünzen verstand. Aber es war nicht der Handel mit so weit entfernten Orten wie Nowgorod oder Bourgneuf allein, der ihm Gewinn brachte. Hinter unserem Haus, wo früher einmal der Garten gewesen war, standen dicht an dicht die winzigen Buden der armen Leute, wie wir sie nannten. Nach meiner Erinnerung müssen es Hunderte von Menschen jeden Alters und Geschlechts gewesen sein, die dort auf engstem Raum zusammengepfercht waren. Diesen erbärmlichen Bretterverschlägen in den Hinterhöfen seiner Häuser verdankte mein Vater einen Teil seines Wohlstands. Mit unnachsichtiger Härte trieb er den Mietzins ein, wobei er sich für den Fall, dass jemand die Zahlung verweigerte und demzufolge auf die Straße gesetzt werden musste, von dem stiernackigen Hundeschläger Heyno Metz begleiten ließ.

Dieser Mann, ein stadtbekannter Säufer und Raufbold, war der Vater eines Menschen, der mich über weite Strecken meines Lebens begleiten sollte. Nach zwölf mehr oder minder wohlgeratenen Kindern kam Heynos Frau mit einem Wesen nieder, bei dessen Anblick sich Heyno zu der Behauptung verstieg, der Leibhaftige selbst müsse seiner Frau beigewohnt haben. Daniel wurde als Krüppel geboren und wuchs zu einem abstoßenden Monstrum heran. Auf einem kugelförmigen Rumpf saß schief ein riesiger Kopf; seine Arme hingen bis zu den Kniekehlen hinab und endeten in sichelförmigen Krallen; sein rechtes Bein war nach außen gebogen, das linke nach innen. Nur seine Füße wiesen keinerlei Missbildung auf, und du wirst gleich hören, wie gut er sie zu gebrauchen wusste.

Daniel musste schon in jungen Jahren erfahren, dass ein Krüppel, statt Mitleid zu erregen, bei vielen Menschen entgegengesetzte Empfindungen weckt. Eines Tages kam ich dazu, als ihn eine Horde zerlumpter Kinder nach einer Verfolgungsjagd durch Gänge und Hinterhöfe in eine Sackgasse getrieben und ihm die Kleider vom Körper gerissen hatte, damit er sich ihnen in seiner ganzen Hässlichkeit zeige. Daniel hatte sich an eine Hauswand gekauert und bewarf seine Verfolger mit Steinen, wozu er sich mit erstaunlicher Geschicklichkeit seiner Füße bediente. Da ich nicht das Zeug zum Helden habe, vergewisserte ich mich zunächst, dass ich bei dem Unterfangen, Daniel aus seiner misslichen Lage zu befreien, nicht selbst Gefahr lief, Prügel zu beziehen. Doch die Kinder waren allesamt jünger als ich, so dass ich Mut fasste und sie mit drohenden Gebärden verscheuchte. Ich muss gestehen, dass es mich Überwindung kostete, das nackte, keuchende, vor Wut zitternde Menschenbündel am Arm zu packen und auf die Füße zu stellen. So standen wir einander zum ersten Mal gegenüber. Er war einen Kopf kleiner als ich und sah mich daher mit schräg nach oben gewandtem Blick an. Mir war, als läse ich Dankbarkeit in seinen Augen, aber dann sagte er mit barscher Stimme: »Mir ist kalt!«

Ich legte ihm meinen Rock um die Schultern. Er hob den linken Fuß und knöpfte den Rock mit den Zehen zu. Ein Wort des Dankes hörte ich nicht von ihm. Aber seit jenem Tag folgte er mir wie ein Schatten. Anfangs war mir seine hündische Anhänglichkeit lästig. Ich versuchte, ihm begreiflich zu machen, dass mir an seiner Begleitung nichts gelegen war, ich jagte ihn fort, wenn ich ihn in einer dunklen Nische unseres Torwegs schlafend fand. Dann trollte er sich mit grämlicher Miene und stieß halblaute Verwünschungen aus, doch kaum dass ich mich zum Gehen gewandt hatte, hörte ich hinter mir seine schlurfenden Schritte. Bald sah ich ein, dass er sich weder durch Drohungen noch durch Schläge abschütteln ließ, und es dauerte nicht lange, bis ich mich daran gewöhnt hatte, Daniel Metz in meiner Nähe zu wissen. Später bin ich dem Schicksal noch manches Mal dankbar gewesen, dass es mir ihn zum Gefährten gab.

In dem Jahr, als meine Mutter starb, meldete mein Vater mich auf Anraten seines Bruders in der Lateinschule an. Aus dieser Schule war eine Reihe berühmter Gelehrter und Geistlicher hervorgegangen, und auch Onkel Bertram hatte sie besucht. Ich lernte lesen und schreiben, mehr dem Zwang als der Neigung gehorchend. Das Lateinische hingegen eignete ich mir mühelos an; es flog mir nur so zu, wie man zu sagen pflegt. Öfter, als ihnen lieb war, verwickelte ich meine Lehrer in lateinische Dispute. Sie legten mir nahe, meinen Eifer auf andere Dinge zu richten als auf das Studium einer toten und für den Kaufmann gänzlich nutzlosen Sprache. Sie ahnten nicht, dass ebendies mich beflügelte. Ich ahnte es damals übrigens selbst noch nicht. Alles in allem bescheinigten mir meine Lehrer außer mäßigem Fleiß ein unbotmäßiges Betragen. Wenn ich den Berichten meiner Mitschüler glauben darf, war ich imstande, die geistlichen Herren mit teuflischen Grimassen in Angst und Schrecken zu versetzen. Da die Wirkung solcher Kunststücke jedoch bei häufiger Wiederholung verpufft, ging ich dazu über, das Mienenspiel, die Stimmen und Gebärden einiger Lehrer nachzuahmen. Wie trefflich mir dies gelungen ist, magst du daraus ersehen, dass ich anderthalb Jahre später gezwungen war, auf die Stadtschule überzuwechseln. Dort fand ich mich unter den Söhnen der großen Kaufmannsfamilien wieder, der Warendorps, Pleskows, Coesfelds, Attendorns, Kerkrings und wie sie alle heißen.

Wir waren ein wilder Haufen, Bruder Anselmus. Nachts schlichen wir vermummt durch die Straßen, schlugen uns mit der Stadt-wache und den Jungs aus den Gängen, störten mit Gejohle die Sit-zungen des ehrwürdigen Rats, schworen uns unter dem Galgen Treue bis ans Grab. Es galt als ausgemacht, dass jeder von uns, sobald er zum Mann herangereift war, unter der Freibeuterflagge segeln würde. Doch heute lenken sie die Geschicke unserer Stadt und sitzen über mich, den Seeräuber wider Willen, zu Gericht.

Dass man mich nach einem weiteren Jahr auch von der Stadtschule verwies, hing damit zusammen, dass ich, der keinen großen Namen trug, mich durch andere Dinge hervortun zu müssen glaubte. Ich erbot mich also, auf den Turm der Marienkirche zu steigen und von dort am frühen Morgen in alle vier Himmelsrichtungen den Jodute-Ruf ertönen zu lassen. Mit diesem Ruf wird bei uns von alters her den Bürgern verkündet, dass sich Feinde der Stadt nähern. Der Vorschlag fand die einhellige Zustimmung meiner Mitschüler, und zum ersten Mal las ich Respekt in ihren Mienen. Muss ich erwähnen, dass mich schon bald das Gefühl beschlich, den Mund zu voll genommen zu haben? Als ich dann die steilen Treppen emporstieg, erwog ich allen Ernstes, vom Turm zu springen, anstatt Jodute zu rufen. Der Blick aus schwindelnder Höhe hinunter auf die Stadt nahm mir allen Mut. Ich weiß nicht, wie oft ich mich abwechselnd einen Maulhelden und einen Feigling schimpfte, in jener Nacht dort oben auf dem Turm. Um es kurz zu machen: Beim ersten Morgengrauen entschied ich mich, dem Schicksal seinen Lauf zu lassen. Mit einer Stimme, so laut, dass ich selbst erschrak, rief ich viermal »Jodute!«

Es war, als hielte die Stadt den Atem an. Als fragte sie sich, aus tiefem Schlaf gerissen, ob sie den Ruf noch im Traum oder schon wachen Sinnes vernommen habe. Doch wenige Augenblicke später stürzten die ersten aus den Häusern hervor und liefen zum Markt. Kurz darauf begannen die Glocken zu läuten, und bald wimmelten die Straßen und Gassen von Menschen.

 

Dank der Fürsprache meines Onkels kam ich glimpflich davon. Dem Domherren gelang es, die Richteherren milde zu stimmen, indem er darauf verwies, dass ihre eigenen Söhne und die anderer einflussreicher Ratsherren von meinem Vorhaben gewusst und es gebilligt hatten. Daraufhin erinnerten sich die hohen Herren, dass sie selbst einmal jung gewesen waren, und entschieden, es habe sich um einen Dummejungenstreich gehandelt. Man ließ mir vom Büttel zehn Stockhiebe verabreichen und übergab mich meinem Vater mit der Mahnung, künftig besser auf mich achtzugeben. Hinrich Gronewech nahm die Nachricht von meiner Missetat wie auch den obrigkeitlichen Rüffel mit stumpfem Gleichmut hin. Es schien, als sträubte sich sein Verstand, das Unglück, das ihm mit mir widerfahren war, in seinem ganzen Ausmaß zu begreifen. Er sperrte mich für einige Wochen in den hintersten Winkel unseres Kellers, und ich glaube, er tat es weniger in der Absicht, mich zu strafen, als aus dem Wunsch, dass ihm mein Anblick erspart bleibe. Dem Gesinde befahl er, mir Grütze und Wasser vorzusetzen, doch Detlef, mein Halbbruder, brachte mir Brot, Wurst und Käse. Er war es auch, der mich aus dem dunklen feuchten Loch wieder ans Tageslicht holte. Eines Morgens nahm er mich bei der Hand und ging mit mir geradewegs in die Schreibkammer meines Vaters. Dort sagte er vier Worte, die mir später immer wieder in den Sinn kamen, wenn mich Hass auf den Bastard ergriff. Er sagte: »Simon hat genug gebüßt.«

In seinen Büchern blätternd, fragte mein Vater: »Wer nimmt da als erster das Wort, nachdem er schon ohne meine Erlaubnis die Schreibkammer betreten hat?«

»Detlef Löding, Herr.«

Nun traf mich, kalt und leer, der Blick meines Vaters. Er glitt von meinem Gesicht über die schmutzigen Lumpen bis zu den nackten Füßen hinunter. Dann wandte er sich Detlef zu, und mir schien, als kehrte das Leben in seine Augen zurück.

»Er hat dem Namen Gronewech Schande gemacht«, sagte mein Vater. »Wie kannst du ermessen, dass er genug gebüßt hat?«

Detlef erwiderte darauf nichts, aber aus der Art, wie er dem Blick meines Vaters standhielt, war abzulesen, dass er nicht um Haaresbreite von seiner Meinung abzurücken bereit war. Eine Zeit lang fiel kein Wort. Die beiden sahen einander unverwandt an, und ich empfand Bewunderung für den jüngeren Halbbruder, der es wagte, Hinrich Gronewech die Stirn zu bieten. Und das Unerwartete geschah: Mein Vater gab nach. Er, der sonst keinen Widerspruch duldete, senkte als erster den Blick und sagte: »Er soll sich waschen. Deine Mutter soll ihm das Haar schneiden. Ich werde einen Lehrer für ihn suchen, und du wirst am Unterricht teilnehmen.« Dann entließ er uns mit einer unwilligen Geste.

Mit diesem Ereignis trat Detlef in mein Leben. Bislang war er für mich nur der Sohn der Magd Mette Löding gewesen. Ich hatte ihm nicht mehr Beachtung geschenkt als den anderen Menschen, die im Haus und in den Lagerräumen ihre Arbeit versahen. Er half seiner Mutter in der Küche, schleppte Feuerholz herbei, putzte das Gemüse, säuberte Pfannen und Töpfe. Gewiss, mein Vater hatte ihn gezeugt, aber mir wäre nie in den Sinn gekommen, in ihm den Bruder zu sehen. Doch jetzt wurde mir mit einem Mal bewusst, dass wir denselben Vater hatten. Und es waren nicht Detlefs Kühnheit und sein trotziges Beharren allein, die mich zu der Erkenntnis brachten, sondern ebenso sehr die Nachgiebigkeit unseres Vaters. Könnte es sein, dass sich schon damals in meine Bewunderung für Detlefs Mut der Verdacht mischte, er habe nicht ganz selbstlos gehandelt?

 

Als Lehrer holte mein Vater einen Spross der Familie Perceval ins Haus, die einstmals eine der angesehensten in unserer Stadt gewesen war. Er war ein dürrer, schlaksiger Mann unbestimmbaren Alters. Es gab Tage, da man ihn für einen verlebten Jüngling halten konnte, an anderen ähnelte er einem von mancherlei Schicksalsschlägen gebeutelten Greis. Er bestand darauf, dass wir ihn mit Magister Perceval anredeten, obwohl gemunkelt wurde, er habe die Sieben Künste im Wirtshaus studiert.

Magister Perceval hegte eine tiefe Verachtung für die Art, wie in den Schulen Wissen vermittelt wurde. Nichts, verkündete er bereits am ersten Tag, ermüde den menschlichen Geist mehr, als sich eine Stunde lang mit Algebra und eine weitere mit lateinischen Konjugationen zu beschäftigen. So wechselte er vom Kreuz des Südens unvermittelt zu den Tristien des Ovid, streifte nach einer gerafften Wiedergabe griechischer Mythen kurz den Verlauf des Krieges gegen den dänischen König Waldemar und begab sich alsbald in einen Exkurs über die Lebensgewohnheiten heidnischer Nomadenstämme. All dies veranschaulichte Magister Perceval durch kleine, ungemein spannende Geschichten, die er indessen, da sich ihm schon während des Erzählens ein neues Thema aufdrängte, selten zu Ende brachte. Gleichwohl behaupte ich, dass ich ohne seine Geschichten nicht einen Bruchteil dessen begriffen hätte, was er mit der ihm eigenen Sprunghaftigkeit an Wissenswertem vor uns ausbreitete. Selbst mein Vater zeigte sich von Magister Percevals erzählerischem Talent beeindruckt. Doch als Kaufmann war er es gewohnt, den Preis einer Leistung nach ihrem Nutzen zu bemessen. Daher legte er dem Magister nahe, sich fortan praktischeren Themen zuzuwenden und dafür zu sorgen, dass Detlef lesen und schreiben lerne. Dieses Ansinnen bewirkte, dass der Magister zwei Tage in eine Art Wachschlaf verfiel und sich erst am dritten mit unverhohlenem Widerwillen im greisenhaft zerknitterten Gesicht herbeiließ, den Wunsch seines Brotherrn zu erfüllen. Detlef bekam also seinen Lese- und Schreibunterricht. Damit ich mich nicht langweilte, brachte Magister Perceval mir währenddessen das Flötenspiel bei. Ich lernte rasch, dem kaum fingerlangen Instrument Töne zu entlocken, und je geläufiger sie sich zu Melodien zusammenfügten, desto vergnügter wurde mein Lehrer. Ich vermute indes, dass ihn weniger meine raschen Fortschritte im Flötenspiel erfreuten als der Gedanke, mich etwas gelehrt zu haben, dessen Nützlichkeit jeder vernünftige Kaufmann in Zweifel ziehen musste.

Sichtlich verbittert und in strengem Ton stellte mein Vater den Magister zur Rede. Allein die Achtung vor dem Namen Perceval halte ihn davon ab, unserem Lehrer die Tür zu weisen. Doch sei es nicht seine Art, für etwas zu zahlen, das er nicht verlangt habe. Deshalb müsse Magister Perceval sich für eine Weile mit zwei Dritteln des vereinbarten Lohns begnügen, sofern er es nicht vorziehe, sich eine andere Stelle zu suchen. Wir sahen, wie Magister Perceval sich verfärbte, wie eine ungesunde Röte auf seine Wangen trat. Er holte tief Atem und schloss die Augen, als sammle er sich für einen großen Auftritt. Doch nichts dergleichen geschah. Der Magister ließ die angestaute Luft durch die Nase entströmen, öffnete die Augen und sagte, indem er auf seine Fingernägel blickte: »Gebt mir wenigstens Wein zum Essen, Euer Bier schmeckt mir nicht.«

»Den Wein sollt Ihr haben«, entgegnete mein Vater, den es zu erstaunen schien, dass Magister Perceval die Kürzung seines Lohns ohne Widerspruch hinnahm. »Doch nur unter der Bedingung, dass Ihr die Knaben nicht noch weiteren Firlefanz lehrt.«

»Barbarisch sind die Menschen und meines Gesanges nicht wert«, sagte Magister Perceval, als mein Vater gegangen war. »Welcher Krämer könnte je begreifen, dass die ganze Schönheit dieser Welt in einem Tautropfen steckt, dass es sich für einen einzigen gelungenen Satz lohnt, gelebt zu haben. Es ist ein hartes Los, als Sehender unter Blinden zu wandeln.« So sprach der Magister, und du ersiehst schon aus diesen Worten, dass ihm der Kaufmannsgeist seiner Vorfahren vollständig abhanden gekommen war.

Ein Vierteljahr später drohte mein Vater ihm, seinen Lohn abermals um ein Drittel zu kürzen, weil Magister Perceval vor unseren Augen einen Schweinskopf zerlegt und uns die Stelle gezeigt hatte, wo bei einem Menschen die Seele wohnt. Ob es die Gleichsetzung von Mensch und Schwein war, die meinen Vater empörte, oder die Tatsache, dass Magister Percevals wissenschaftlichem Eifer unsere fruchtbarste Sau zum Opfer gefallen war, vermag ich nicht zu sagen. Doch diesmal bot der Magister meinem Vater offen Widerpart. Vom Zorn des zu Unrecht Gerügten ergriffen, schwang er sich zu den Höhen rhetorischer Kunst empor, und ich war so hingerissen von seinen Worten, dass ich ihm um ein Haar Beifall gespendet hätte, als er meinen Vater schließlich einen stumpfsinnigen Pfennigfuchser nannte. So kam es, dass sich zum ersten Mal in der Geschichte unserer Stadt ein Gronewech an einem Perceval vergriff: Mein Vater packte den dürren Magister und beförderte ihn mit einem Fußtritt auf die Straße. Seitdem habe ich Magister Perceval nicht wiedergesehen.

Für Detlef und mich brach eine harte Zeit an. Mein Vater teilte uns den Lehrjungen zu und wies den ältesten seiner Kaufgesellen an, uns in strenge Zucht zu nehmen. Dieser, ein grämlicher Hagestolz namens Johann Hoyer, litt an Schlaflosigkeit, und weil ihm die Wonnen des Schlafes versagt blieben, gönnte er sie auch anderen nicht. Schon vor dem ersten Hahnenschrei jagte er uns aus den Betten und goss uns im Hof einen Eimer kalten Wassers über den Kopf. Kurz darauf sah man uns zur Frühmesse eilen, wo ein gähnender Priester das Kreuz über uns schlug. Nach der Morgensuppe trieb Johann Hoyer uns an die Arbeit. Wir krochen durch dunkle Lagerräume, stapelten Säcke aufeinander, rollten Fässer von einem Platz zum anderen, zählten Tuchballen und Felle. Nachdem wir das Mittagessen eingenommen und uns eine kurze Ruhepause gegönnt hatten, begaben wir uns hinunter zum Lagerhaus am Hafen und taten dort bis zur Abenddämmerung das gleiche. Wir verrichteten die Arbeit von Knechten, ohne wie diese dafür entlohnt zu werden, und Johann Hoyer wurde nicht müde, uns einzubläuen, dass nur der ein guter Kaufmann werde, der das Handwerk von der Pike auf gelernt habe. Vielleicht wären mir seine Worte beherzigenswerter erschienen, hätte er sich nicht selbst als Beispiel angeführt. Wollte ich ein zweiter Johann Hoyer werden? So trug der Kaufgeselle erheblich dazu bei, dass mich die Arbeit anzuwidern begann. Mir schien, eine Lateinstunde in der Domschule sei erlebnisreicher gewesen als ein ganzer Tag im Speicher. Ich sehnte mich nach Magister Percevals unvollendeten Geschichten. Ich fing an, mit offenen Augen zu träumen.

 

Kennst du das Gefühl, das man Fernweh nennt, Bruder Anselmus? Diese ziellose Sehnsucht, die den Menschen mit einer Macht ergreift wie sonst nur die Liebe? Ich erinnere mich noch gut an das erste Mal, als ich den Drang verspürte, hinter die Kimm zu schauen. Ich stand an einer der Luken des Speichers und blickte auf den Hafen hinunter. Ich sah, wie sich ein Holk aus dem Pulk der an den Pfählen vertäuten Schiffe löste, wie sein Bugsteven langsam herumschwenkte und der Wind das eben noch schlaffe Segel bauchig spannte. Die Achterleine klatschte ins Wasser, und während ein Mann am Heck sie mit gleichmäßigen Bewegungen einholte, glitt der Holk zwischen Schuten, Fischerbooten und den plumpen Kähnen der Ballastböter hindurch aus dem Hafen. Von diesem Tag an war ich für die Arbeit im Speicher verloren. Ich ertappte mich bei dem Wunsch, ein schicksalhaftes Ereignis möge dem eintönigen Dasein ein Ende setzen. Eine Zeit lang richtete sich meine Hoffnung darauf, dass mein Vater, nachdem er zwei seiner Schiffe durch einen Sturm verloren hatte, das Geschäft aufgeben und sich zur Ruhe setzen würde. Doch stattdessen heiratete er die reiche Witwe Reymburga Luneborch und ließ von ihrem Geld zwei neue Schiffe von je hundert Last bauen.

Nach dem Abendessen, wenn mein Vater im Haus der Schonenfahrer mit anderen Kaufleuten beim Bier saß und Johann Hoyer in seiner Kammer eine Mütze voll Schlaf zu nehmen versuchte, zog es mich immer wieder zum Hafen hinunter. Während über der Stadt schon abendliche Stille lag, herrschte dort ein lärmendes Treiben. Mir war, als tauchte ich, nur einen Steinwurf vom Haus meines Vaters entfernt, in eine andere Welt ein. Ihre Boten waren die Seeleute, fremdartige Wesen, die unseren vertrauten Wörtern einen seltsamen Klang gaben, deren Gesichter von den Abenteuern und Schrecken ferner Meere zeugten. Ich saß neben ihnen auf der Kaimauer, sie ließen mich von ihrem Bier kosten, und sie lachten, als sie hörten, dass es mein sehnlichster Wunsch sei, mit ihnen auf das Meer hinauszufahren. »Hebbt ji hört«, sagten sie zueinander, »de Söhn vun Hin-rich Gronewech will mit uns to Schippe gahn.« Und wieder lachten sie und hieben mir ihre Pranken auf die Schulter und sagten, sie seien in meinem Alter schon in Ländern gewesen, wo die Weiber ihre Brüste auf dem Rücken trügen.

Ihre Geschichten waren von anderer Art als die des Magisters Perceval. Sie richteten in meinem Kopf Verwirrung an, so dass mir schier Unglaubliches als wahr erschien. Da gab es also Menschen, die auf ihren Händen liefen und ihre ungewöhnlich großen Füße als Sonnenschirme benutzten. Andere aßen mit den Augen und tranken mit den Ohren. In einem Land am Ende der Welt schlüpften die Menschen aus Eiern und besaßen, weil sie diese nicht zur Fortpflanzung benötigten, weder männliche noch weibliche Geschlechtsteile. Ich sehe dich schmunzeln, Bruder Anselmus. Aber wie konnte ein Halbwüchsiger, der von der Welt nicht mehr gesehen hatte als die Straßen und den Hafen seiner Vaterstadt, wie konnte er in Zweifel ziehen, was weit gereiste Männer mit ernsthaften Mienen zu erzählen wussten? Mach dich im Übrigen darauf gefasst, dass ich von Erlebnissen berichten werde, die dir noch unglaubwürdiger vorkommen mögen als die Erzählungen der Seeleute. Doch sei versichert, Bruder Anselmus: Ich habe nicht vor, meine Zeit mit erfundenen Geschichten zu vergeuden.

 

Eines Abends wurde ein Mann an Land gebracht, bei dessen Anblick die Seeleute verstummten. Der Mann war an Händen und Füßen gefesselt, sein Gesicht war blutverschmiert, quer über seine nackte Brust zog sich eine klaffende Wunde. »De Deuker haal mi, wenn dat nich Claas Howfoote is«, sagte der Seemann, der mir am nächsten saß. Von ihm erfuhr ich, dass Claas Howfoote den Schiffen der wendischen Städte aufzulauern pflegte, wenn diese durch den Sund fuhren. Da Claas ein schlauer Bursche sei, habe er seine Beute mit den Dänen geteilt und dafür deren Schutz genossen.

Soweit ich zurückdenken kann, hatte ich von ihnen erzählen hören, von diesen Bestien in Menschengestalt, die der Kaufmann in einem Atemzug mit Stürmen, Untiefen und betrügerischen Schiffern nennt. Jetzt sah ich einen Seeräuber leibhaftig an mir vorübergehen, kettenrasselnd und gesenkten Hauptes. Zu meiner Verwunderung flößte er mir keinerlei Abscheu ein, ich fand, er sah wie ein gewöhnlicher Sterblicher aus, ja ich gebe zu, dass der erste Seeräuber, den ich zu Gesicht bekam, eine Enttäuschung für mich war. Als ich später unter seinesgleichen lebte, habe ich mich gefragt, was ich denn erwartet hatte. Ein Ungeheuer? Glaub mir, Bruder Anselmus, Ungeheuer sind unter Seeräubern nicht zahlreicher vertreten als unter anderen Menschen.

Die Richteherren brauchten nicht lange, das Urteil zu fällen. Schon am nächsten Morgen wurde Claas Howfoote zum Richtplatz geführt. Ich hatte mich während der Frühmesse aus der Kirche geschlichen und dem Menschenstrom angeschlossen, der sich durch das Burgtor ins Freie ergoss. Obwohl es noch früh am Tag war, hatten sich Tausende aufgemacht, der Hinrichtung beizuwohnen. Rings um die Richtstätte war ein Seil gezogen, und innerhalb des Kreises standen Meister Hans, seine Knechte, der Priester, die beiden Richteherren und Claas Howfoote. Man hatte sein Gesicht gewaschen und ihm ein sackartiges Gewand übergestreift, so dass er mehr einem Bettelmönch als einem Seeräuber glich. Einer der Richteherren trat vor und zählte die Schandtaten auf, die Claas zur Last gelegt wurden. Der Freibeuter hörte aufmerksam zu und bestätigte die meisten Anklagepunkte mit einem Kopfnicken. Hin und wieder zog er jedoch die Stirn kraus und biss sich auf die Lippen, als könne er sich dieses Mordes oder jenes Überfalls beim besten Willen nicht erinnern. Doch die Liste war ohnedies lang genug, das Todesurteil zu rechtfertigen, und dies schien auch Claas einzusehen, denn als der Richteherr ihm mitteilte, man werde ihn rädern und anschließend enthaupten, nickte er abermals.

Das Volk begann zu murren. Ein Verbrecher, der die Strafe klaglos auf sich nimmt und sie allem Anschein nach auch noch gutheißt, war nicht nach seinem Geschmack. Claas Howfoote schien den Unwillen der Schaulustigen zu spüren, denn als der Priester sich zu ihm beugte, um ihm die Beichte abzunehmen, legte der Seeräuber ihm seine aneinandergeketteten Hände flach auf die Brust und stieß ihn so heftig von sich, dass der Priester rücklings über den Richtblock fiel. Die Menge dankte es ihm mit Händeklatschen und anfeuernden Rufen, und Claas fasste nun, als habe er ihn zum nächsten Opfer erwählt, einen der Richteherren ins Auge. Doch der Henker gab seinen Knechten ein Zeichen. Sie rissen Claas das Gewand vom Leib, so dass er nur noch mit einem Lendenschurz bekleidet war, legten ihn auf das Rad und fesselten ihn an die Speichen.

»Zuerst kommen die Beine dran«, sagte eine heisere Stimme hinter mir. Ich wandte mich nach dem Sprecher um und erblickte einen Jungen meines Alters. Er hatte wasserhelle, beinahe farblose Augen. Möwenaugen. Seine Kleider waren abgetragen und an vielen Stellen geflickt. Ein Gassenjunge, einer von Hunderten, die sich bettelnd und stehlend durchs Leben schlugen.

Der Henker hob die Axt. Sie hatte auf der einen Seite eine halbkreisförmige Schneide und war auf der anderen wie ein Hammer geformt. Mit dem stumpfen Ende zerschmetterte er Claas Howfootes Schienbeine. Ich sah, wie die Haut aufsprang und ein Brei aus Blut und Knochensplittern hervorquoll. Die Menge wartete mit angehaltenem Atem, dass der Seeräuber zu schreien begann. Doch Claas bewies den Leuten, dass er immer noch für eine Überraschung gut war, er sang. Es war ein seltsames Lied, das sich seiner Brust entrang. Es handelte teils von den Mädchen auf Bornholm, teils von den Königen aus dem Morgenland, von Liebeslust, Weihrauch und Myrrhe. Er sang noch, als Meister Hans ihm beide Beine oberhalb des Knies abhieb, doch als die Axtklinge ihm den rechten Arm von der Schulter trennte, ging sein Gesang in ein Röcheln über.

»Warum singst du nicht weiter, Claas Howfoote?« hörte ich den Jungen hinter mir rufen.

Nachdem der Henker auch Claas’ linken Arm abgeschlagen hatte, trugen die Knechte den Rumpf zum Richtblock. Der Henker legte die Axt beiseite und griff nach dem Schwert. Er ließ seinen Daumen die Schneide entlanggleiten, deutete mit einem leichten Wiegen des Kopfes an, dass sie gern ein wenig schärfer hätte sein dürfen, und wandte sich halb von Claas ab, um dem Schwert aus der Drehung seines Körpers heraus größeren Schwung zu geben. Meister Hans wusste, dass jetzt aller Augen auf ihn gerichtet waren. Er schien es zu genießen, im Mittelpunkt zu stehen, und um diesem Augenblick, einem der wenigen Höhepunkte im Leben eines Scharfrichters, etwas Dauer zu verleihen, führte er die Schwertklinge einige Male probeweise an Claas’ Hinterkopf, trat dann einen halben Schritt zurück, verlagerte sein Gewicht auf das rechte Bein, während er das linke ein wenig anwinkelte, und holte mit gestreckten Armen zum Schlag aus.

»Das wird ein sauberer Hieb«, sagte der Junge mit den Möwenaugen.

Die Klinge fuhr durch Claas’ leicht vorgewölbten Nacken, als ob er aus Wachs sei, und blieb im Richtblock stecken. Der Rumpf, nun des Kopfes ledig, plumpste zu Boden. Der Henker packte das Haupt des Seeräubers bei den Haaren und zeigte es dem Volk. Ein beifälliges Gemurmel war zu hören; einige Leute warfen Münzen über das Seil. Es war etwas von jener Befriedigung zu spüren, die der Anblick einer meisterlich ausgeführten Handwerksarbeit verschafft.

»Muss es nicht eine wahre Lust sein, von Meister Hans geköpft zu werden?« sagte die heisere Stimme hinter mir.

Ich drehte mich um und begegnete diesem seltsam gläsernen Blick des Jungen. Einer seiner Mundwinkel war etwas emporgezogen, als wolle er mich zum Lachen verlocken.

»Wer bist du?« fragte ich.

Statt mir seinen Namen zu nennen, sagte er: »Du bist blass, Simon Gronewech. Ist es das erste Mal, dass du einen Kopf rollen siehst?«

Plötzlich zwängte sich Daniel Metz zwischen uns. »Gib’s ihm zurück, Caspar Went«, fuhr er den Jungen mit schriller Stimme an, »gib’s ihm zurück!« Dieser ließ seine Augen zwischen dem Krüppel und mir hin- und herwandern, dann, während etwas über sein Gesicht huschte, das entfernt einem Lächeln ähnelte, drückte er mir einen Rosenkranz in die Hand. Im nächsten Augenblick war er in der Menge verschwunden.

Es war mein Rosenkranz, Bruder Anselmus. Ich hatte ihn von meiner Mutter bekommen, als sie ihm Sterben lag, und trug ihn seitdem immer bei mir. Wie er es fertiggebracht hatte, mir das kostbare Stück unbemerkt aus der Tasche zu ziehen, war mir ein Rätsel. Später sollte er mich noch oft durch seine Fingerfertigkeit in Erstaunen setzen. Caspar Went war, wenn du mir die beiden Wörter miteinander in Verbindung zu bringen erlaubst, ein begnadeter Taschendieb. Ich müsste wohl besser sagen: Er war unter anderem ein begnadeter Taschendieb. Damit will ich es vorerst genug sein lassen; du wirst ihm in meiner Geschichte noch des Öfteren begegnen.

Als ich um die Mittagszeit nach Haus kam, schlug mir eine gespannte Stille entgegen. Mein Vater, schon vor Stunden durch Johann Hoyer von meinem Verschwinden unterrichtet, starrte auf seinen Teller und überließ es meiner Stiefmutter, mich mit Blicken zu tadeln. Reymburga, die jetzt den Platz meiner Mutter am Tisch einnahm, war eine große hagere Frau. Auf einem langen Hals, den sie zur Hälfte hinter einem Spitzenkragen verbarg, saß ein unglaublich kleiner Kopf. Sie ähnelte einer Statue, bei deren Erschaffung der Künstler in Höhe des Halses die Lust verloren und es daher für den Rest bei einer Andeutung belassen hatte. Ihr Kopf sei, erzählten die Mägde hinter der vorgehaltenen Hand, völlig kahl. Ob das stimmte, weiß ich nicht, da ich sie nie ohne Haube sah. Manchmal versuchte ich, mir vorzustellen, wie mein Vater an ihr sein fleischliches Verlangen stillte. Es wollte mir nicht gelingen. Reymburga behandelte ihn mit der gleichen Teilnahmslosigkeit wie jeden anderen im Hause. Nur Mette Löding war ihr ein Dorn im Auge. Sie drängte meinen Vater, Mette vor die Tür zu setzen, und er fügte sich ihrem Willen, indem er der Magd bei seinem Bruder, dem Domherren, eine Stellung als Haushälterin verschaffte.

Es blieb an jenem Tage bei Reymburgas strengem Blick. Eine milde Strafe, magst du denken. Doch das Schweigen meines Vaters, die Art, wie er mich übersah, verletzten mich tiefer, als es Schläge vermocht hätten. Wenn er in den Speicher kam, schien er mich nicht wahrzunehmen. Um so ausführlicher beschäftigte er sich mit Detlef. Anfangs dachte ich, er habe Detlef gegenüber ein schlechtes Gewissen, weil er seine Mutter fortgeschickt hatte, aber bald wurde mir klar, dass er mich damit kränken wollte. Ich sah, wie sich mein Vater, Gebrechlichkeit vorschützend, auf Detlefs Schulter stützte, wenn sie die Treppen emporstiegen. Ich hörte, wie er ihm von seinem Plan erzählte, gemeinsam mit den Brüdern Rapesulver in Bordeaux eine Niederlassung zu gründen. Ich spürte, wie sich Hass in mir zu regen begann, und da du in die Abgründe der Seele zu blicken gewohnt bist, Bruder Anselmus, wirst du verstehen, dass sich der Hass nicht auf meinen Vater, sondern auf den Halbbruder richtete. Dabei gab mir Detlef keinen Grund; statt sich über die Zuneigung meines Vaters zu freuen, schien es ihn zu bedrücken, dass sie nur ihm allein zuteil wurde. Er wurde nicht müde, die Aufmerksamkeit unseres Erzeugers auf mich zu lenken, ja er wagte, ihm vorzuhalten, dass mein Vergehen es nicht rechtfertige, mich mit Missachtung zu strafen. Doch mit dem Hass verhält es sich ähnlich wie mit der Liebe, Bruder Anselmus. Wie diese durch Zurückweisung oftmals stärker wird, so schürt jenen nichts so sehr wie der Edelmut des Gehassten. Damals begann ich, ihn insgeheim den Bastard zu nennen. Bastarde, wusste ich aus Magister Percevals Geschichten, sind geborene Bösewichter. Weshalb sollte Detlef eine Ausnahme sein?

 

Während des Lebensabschnitts, über den ich bisher berichtet habe, geschah draußen in der Welt so manches, von dem ich nur gerüchtweise und auf Umwegen erfuhr. Die wendischen Städte waren ein zweites Mal gegen den dänischen König Waldemar in den Krieg gezogen und hatten ihn in einer Seeschlacht vernichtend geschlagen. Die Handelswege nach Osten und Norden waren damit wieder frei, doch nach Ansicht meines Vaters war auch ein gewonnener Krieg ein schlechtes Geschäft. Dasselbe Ergebnis, meinte er, hätte durch zähe Verhandlungen erreicht werden können, und es empörte ihn, dass ihm der gleiche Anteil an den Kriegskosten aufgebürdet wurde wie den großen Fernhändlern. Er ging so weit, den Ratsherren zu unterstellen, sie wollten auf diese Weise den nicht im Rat vertretenen Kaufleuten das Wasser abgraben. Jemand muss dies dem Rat hinterbracht haben, denn einer der vier Bürgermeister bestellte meinen Vater zu sich. Nach diesem Gespräch äußerte er sich zurückhaltender, gab jedoch zu verstehen, dass er, falls man ihn in den Rat wählen sollte, das Amt um keinen Preis annehmen werde. Wie du gehört hast, ließ er sich später umstimmen. Ich vermute, dass es nicht zuletzt Frau Reymburga war, die den Sinneswandel bewirkte.

Jutteke

»Du musst große Gönner haben, Simon Gronewech«, sagt der Kerkermeister. »So was wie die hat die Zelle noch nicht gesehn.«

»Verschwinde!« sagt sie. Der Kerkermeister zieht grinsend die schwere Tür hinter sich zu.

Sie ist jung, sechzehn oder siebzehn, keinesfalls älter. Ein hübsches Luder mit gepudertem Gesicht und bläulich umschatteten Augen. Keine von denen, die es in dunklen Gängen treiben.

»Die Prötteltasch schickt mich«, sagt sie. »Sie lässt dir ausrichten, du kriegst es umsonst.«

»Wie heißt du?«

»Jutteke.« Sie deutet auf Bruder Anselmus: »Soll er dabei sein?«

»Wir wollen Bruder Anselmus nicht auf sündhafte Gedanken bringen.«

»Dann schmeiß den Pfaffen raus.« Sie knöpft ihr Mieder auf. Unter dem Leinenhemd quellen zwei pralle Brüste hervor. Begehrlich heftet sich ihr Blick auf die Speisen. »Du lebst nicht schlecht.«

»Hast du Hunger, Jutteke? Möchtest du etwas essen?«

»Hinterher«, antwortet sie und streift das Kleid über ihre Hüften. Der Mönch schaut angestrengt auf einen Flecken an der Wand.

»Mir ist nicht nach Liebe, Jutteke. Mein Johannes, furchte ich, würde mir den Dienst versagen.«

»Lass mich nur machen«, sagt die Dirne. »Ich wär mein Geld nicht wert, wenn ich nicht wüsste, was da zu tun ist.«

»Setz dich stattdessen an den Tisch, iss und trink und erzähl mir von der Prötteltasch.«

»Wirst du ihr sagen, dass es nicht an mir gelegen hat? Dass ich wollte, aber du nicht?«

»Ich glaube nicht, dass wir uns in diesem Leben noch einmal begegnen werden.«

»Doch, sie will dich besuchen«, entgegnet Jutteke, während sie sich schon über den Kapaun hermacht. »Die Prötteltasch mag dich, du hast bei ihr einen Stein im Brett.« Sie beißt so herzhaft in den Schenkel, dass ihr das Fett auf den Busen trieft.

»Sie muss schon sehr alt sein. Ich hätte nicht gedacht, dass sie noch lebt.«

»Die Prötteltasch ist nicht totzukriegen, die lebt ewig«, sagt Jutteke, füllt ein Glas mit tiefrotem Burgunder und trinkt es in einem Zug leer. »Sie hat schon meine Mutter auf die Straße geschickt, und wenn es das Unglück will, verdient sie auch noch an meiner Tochter. Aber wie kommt es, dass das alte Aas dich so gut leiden kann?«

»Sagt sie das?«

»Sie sagt, du bist der einzige, dem sie eine Träne nachweint. Das will schon was heißen bei der Prötteltasch. Ich kenne keinen, der sie jemals weinen sah. Ihre Augen, sagt man, sind so trocken wie ihre Fud.« Sie schleckt die fettigen Finger ab und stopft sich eine Feige in den Mund. »Warst du ihr Geliebter?«

»Die Prötteltasch hat nie einen Geliebten gehabt, Jutteke. Sie nahm sich einen Mann, wenn sie einen brauchte, und nachdem es getan war, jagte sie ihn fort.«

Jutteke greift sich mit beiden Händen an den Bauch und rülpst. Bruder Anselmus’ Gesicht ist starr wie eine Maske. Durch seine schmalen Finger gleitet der Rosenkranz, seine Lippen formen unhörbare Worte.

»Ist es wahr, dass du mit einer Prinzessin verheiratet warst?« fragt die junge Hure. »Dass du reicher warst als alle Kaufleute dieser Stadt? Dass du in goldfarbene Seide gekleidet warst und Edelsteine an den Schuhen getragen hast? Sag mir, ob es wahr ist.«

»Es ist so wahr, wie Märchen wahr sind, Jutteke.«

»Ich hab nie mehr Geld gehabt als sechs Pfennige, und von denen musste ich fünf der Prötteltasch geben. Einmal sagte ich ihr, ich hätte nur drei bekommen, aber sie merkte, dass ich log, und wurde sehr böse. Sieh her!« Sie hebt das Kinn. Auf der weißen Haut ihres Halses zeichnet sich ein dünner roter Strich ab. »Um ein Haar hätte sie mir die Kehle durchgeschnitten, aber da fiel ihr gerade noch rechtzeitig ein, dass sie an einer toten Hure nichts verdienen kann. Sie sollten die Prötteltasch neben dir aufhängen oder, besser noch, in einem Kessel sieden, das gab ’ne fette Brühe.«

»Bist du satt?«

»So satt war ich schon lange nicht mehr«, antwortet sie. »Willst du’s nicht doch mit mir machen?«

»Ich habe nicht mehr viel Zeit, Jutteke. Geh und sag der Prötteltasch, ihr Besuch käme mir ungelegen.«

»So blöd bin ich nicht und verderb’s mir deinetwegen mit der Alten«, sagt Jutteke. »Außerdem lässt die sich nicht abwimmeln. Die Prötteltasch würde dich sogar in der Hölle besuchen.«

Sie klopft gegen die Tür. Der Kerkermeister grinst lüstern durch den Türspalt. »Hat sie’s dir gut besorgt?«

»Für sechs Pfennige zeig ich’s dir, dass du die Engel singen hörst« sagt Jutteke.

Zweites Kapitel