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Deutsche Erstausgabe (ePub) November 2019

 

Für die Originalausgabe:

© 2016 by Andrew Grey

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Turning the Page«

 

Originalverlag:

Published by Arrangement with Dreamspinner Press LLC, 5032 Capital Circle SW, Ste 2, PMB# 279, Tallahassee, FL 32305-7886 USA

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2019 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

 

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

Druckerei: CPI Deutschland

Lektorat: Susanne Scholze

 

ISBN-13: 978-3-95823-787-2

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de

 


 

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Aus dem Englischen von Tasha N. Brooks

 


 

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

vielen Dank, dass Sie dieses eBook gekauft haben! Damit unterstützen Sie vor allem den Autor des Buches und zeigen Ihre Wertschätzung gegenüber seiner Arbeit. Außerdem schaffen Sie dadurch die Grundlage für viele weitere Romane des Autors und aus unserem Verlag, mit denen wir Sie auch in Zukunft erfreuen möchten.

 

Vielen Dank!

Ihr Cursed Team

 

 

 

 

Klappentext:

 

Nach dem Verlust seines langjährigen Partners flüchtet sich Malcolm in die Arbeit für seine Anwaltskanzlei und zieht sich vor allem zurück, was mit Gefühlen zu tun haben könnte. Als sich Schriftsteller Hans eines Tages als neuer Klient bei ihm vorstellt, wird dieser Vorsatz allerdings heftig ins Wanken gebracht. Zunächst ist Malcolm skeptisch, schließlich ist Hans ein paar Jahre jünger als er und bestimmt nicht auf der Suche nach etwas Festem. Hans muss sich ziemlich ins Zeug legen, um Malcolm zu beweisen, dass er nicht nur ein Mann für eine Nacht, sondern für ein ganz neues Kapitel in Malcolms Leben sein will.


 

 

Kapitel 1

 

 

Routine. Wenn es ein Wort gab, das Malcolm Webber am besten beschrieb, dann war es dieses – Routine. Sein Leben war in so vielen Bereichen in einen Trott verfallen, dass er es nicht einmal mehr bemerkte. An einem Montagmorgen stand er auf und schlurfte in sein Badezimmer. Er öffnete nicht einmal seine Augen, während er seine Zähne putzte, sich Hände und Gesicht wusch und das Haar kämmte. Es war nicht nötig. Er wusste genau, wo alles war, weil er Morgen für Morgen dieselben Bewegungen durchführte.

Malcolm kam es so vor, als würde seine Zombie-Routine ihm eine halbe Stunde mehr Schlaf verschaffen. Er hatte seine Klamotten bereits am Vorabend herausgesucht, also zog er sie ohne nachzudenken an und verließ das Schlafzimmer.

Der Duft von Kaffee brachte ihn halbwegs zu Bewusstsein. Er lächelte nicht, aber der Duft war wie Sirenengesang mit dem Versprechen, ihn aufzuwecken und ihm die Energie zu geben, die er brauchte, um seinen Tag zu beginnen. Er ging die Treppen herunter und folgte dem Kaffeeduft wie ein Spürhund seiner Fährte.

In der Küche goss Malcolm etwas Kaffee in eine der Tassen, die neben der programmierbaren Maschine standen, und trank den ersten Schluck des Tages. Der Kaffee war stark und bitter, so wie er es mochte. Er schaltete den Fernseher nicht ein und verursachte keine unnötigen Geräusche. Seine Routine war ihm dafür zu sehr in Fleisch und Blut übergegangen. Für sein Frühstücks nahm er sich ein paar Cracker und holte etwas Käse aus dem Kühlschrank.

Vor zwanzig Jahren hatten er und David nach ihrer Bindungszeremonie ihre Flitterwochen in Europa verbracht und er hatte sich an ein europäischeres Frühstück gewöhnt. Seitdem hatte er jeden Morgen als erstes ein paar Scheiben Cracker mit Käse gegessen. Das erinnerte ihn an den kleinen Gasthof, in dem David und er nach stundenlanger Reise an ihrem ersten Morgen in Freiburg aufgewacht waren. Sie hatten sich geliebt und waren anschließend nach unten gestolpert, wo sie ein Frühstück erwartet hatte, das so ganz anders gewesen war, als sie es gewohnt waren. Malcolm hatte Käse auf einer Art knusprigem Brot gefrühstückt und das für den Rest ihrer Reise beibehalten. Am Ende hatte er die Gewohnheit mit nach Hause gebracht.

Malcolm trank mehr von seinem Kaffee, das Koffein begann in seinem Kreislauf zu arbeiten, und er wurde sich seiner Umgebung bewusster. Er trug seine Tasse durchs Haus, während er seinen Geldbeutel und seinen Schlüssel von ihrem üblichen Platz nahm und seinen Mantel holte.

Es war eisig kalt draußen – Winter in Milwaukee. Aber dieser war wirklich kalt. Er spürte es tief in seinem Inneren, selbst im Haus. Die Luft um ihn herum war so trocken, dass sie knisterte. So fühlte sie sich nur an, wenn es draußen Minusgrade hatte. Nicht, dass Malcolm wirklich darüber nachdachte. Er kannte das Gefühl und seine Instinkte sagten ihm, dass er Handschuhe und eine Mütze von ihrem angestammten Platz holen sollte.

Er legte alles auf einen Stuhl in der Küche, um seinen Kaffee auszutrinken. Inzwischen waren seine Augen offen, aber er war noch immer nicht vollständig bei Bewusstsein. Sein Kaffee zeigte noch keine durchschlagende Wirkung, aber es würde nur noch wenige Minuten dauern, bis es soweit war. Das heiße Wasser, das durch die Heizungsrohre floss, ließ diese ab und an knacken, wenn es eine kalte Stelle erreichte und die Rohre sich ein wenig ausdehnten. Abgesehen davon war es still im Haus.

Malcolm trank seinen Kaffee aus, spülte die Tasse und stellte sie ins Waschbecken. Dann ging er durchs Haus und die Treppe hinauf. Er kehrte zum Schlafzimmer zurück, stieß die Tür auf und ging durch das noch immer dunkle Zimmer zum Bett.

Er beugte sich darüber und realisierte, dass es leer war. Innerhalb weniger Sekunden endete seine Morgenroutine abrupt. David war weg und er kam nicht mehr zurück.

Malcolm drehte sich um und setzte sich auf die Bettkante. Er war tatsächlich bis an diesen Punkt gekommen, und hatte im Glauben, dass David noch in ihrem Bett lag und schlief, das Haus verlassen wollen. Dass er noch am Leben und bei ihm war. Malcolm seufzte, als ihm zum millionsten Mal Tränen in die Augen stiegen.

Für zehn oder fünfzehn kostbare Minuten, zumindest soweit es Malcolm betraf, war sein David noch einmal bei ihm gewesen und er hatte den Verlust nicht gespürt, der in den letzten dreizehn Monaten sein ständiger Begleiter gewesen war. Er war in gewisser Weise frei und glücklich gewesen, für ganze fünfzehn Minuten.

Malcolm ging zur anderen Seite des Bettes, seiner Seite, und strich die Decke glatt. Nach mehr als einem Jahr schlief er noch immer an derselben Stelle wie während der letzten zwanzig Jahre. Die andere Seite war Davids und er brachte es nicht über sich, sie zu benutzen. »Wieso musstest du gehen?«, fragte er das leere Bett, in dem David geschlafen hatte, aber natürlich kam keine Antwort.

Malcolm wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und verließ das aufgeräumte Zimmer, ging wieder nach unten und zog sich Jacke, Handschuhe und Mütze an, um nach draußen zu gehen. Er griff sich seine Tasche, die neben der Hintertür stand und trat hinaus in Luft, die so eiskalt war, dass sie ihn wie ein Vorschlaghammer traf. Er zog die Tür zu und schloss sie ab, bevor er den schneebedeckten Weg zur Garage entlangstapfte.

Im ebenso kalten Gebäude stieg Malcolm in den blauen BMW, den David vor ein paar Jahren gekauft hatte und startete den Motor. Er betätigte den Knopf, um das Garagentor zu öffnen und wartete darauf, dass es sich hob, während er darum betete, dass warme Luft aus dem Gebläse kam.

Er drückte auf den Knopf für die Sitzheizung und fröstelte ein paar Sekunden, bis das Tor offen war. Dann fuhr er langsam aus der Garage auf die Gasse hinter dem Haus, schloss das Garagentor und setzte den Wagen vorsichtig in Bewegung; die Reifen knirschten so laut im Schnee, dass er es im Auto hören konnte, als er sich auf den fünfzehnminütigen Weg zur Arbeit machte.

Die Strecke zu seinem Büro war vertraut und Malcolm fuhr den Weg üblicherweise wie auf Autopilot. Aber an diesem Morgen waren die Straßen schneebedeckt und da es so kalt war, konnten überall Eisflächen sein, also ließ er sich mehr Zeit.

 

»Morgen, Malcolm«, sagte Jane, als er an ihrem Schreibtisch vorbei in sein Büro ging. »Ich habe dir Kaffee auf den Schreibtisch gestellt, sowie deinen vorläufigen Plan für den Tag. Es ist Montag und du weißt ja, dass Gary dazu neigt, alles umzuwerfen.«

»Morgen«, sagte er und versuchte, zumindest gut gelaunt zu klingen. »Danke für den Kaffee. Ich werde ihn brauchen.« Er wandte sich der Tür zu. »Ich wünschte, Gary würde sich mal entscheiden, was er tun will. Es wäre nett, wenn wir wüssten, was auf uns zukommt.«

»Du hast jetzt schon einen Plan voller Termine mit Mandanten, du wirst also heute wenig Zeit haben«, sagte Jane.

Das war die erste gute Sache, die ihm heute passierte. Gary Hanlan konnte so viele Meetings einberufen wie er wollte, um über seine neuste fixe Idee zu sprechen, aber Mandantentermine hatten immer Priorität. So würde sein Tag immerhin einigermaßen vorhersehbar ablaufen.

»Du hast eine halbe Stunde, um dich vorzubereiten.«

Malcolm ging in sein Büro, fuhr seinen Computer hoch und machte sich daran, seine E-Mails abzuarbeiten und die Unterlagen für seine Mandantentermine durchzusehen.

Alles war in seinen Akten und bereit. Dafür hatte er gesorgt, so wie er es immer tat. Schließlich war er nicht zu einem der besten Steueranwälte des Bundesstaates geworden, indem er unorganisiert und nachlässig gewesen war. Zugegeben, Steuerwesen war kein besonders glamouröser Bereich des Gesetzes.

Er war kein Prozessanwalt und hatte im Gegensatz zu seinen Kollegen nur selten mit öffentlichkeitswirksamen Fällen zu tun. Er machte seine Arbeit und reichte regelmäßig ebenso viele oder mehr abrechenbare Stunden ein wie alle anderen in der Kanzlei. Seine Zeit war begehrt und er war gut in dem, was er tat. Es war nicht besonders aufregend, aber in seinem Alter war er auch nicht interessiert an Aufregung oder Glamour. Die Tage und Wochen zu überstehen war alles, was er im Moment zu Stande brachte und das war vollkommen in Ordnung für ihn.

Malcolm beantwortete gerade seine letzte E-Mail, als es an der Tür klopfte. Jane öffnete sie und kündigte seinen ersten Mandanten des Tages an.

 

Gary hatte mit seiner Gewohnheit gebrochen und keine kurzfristigen Meetings einberufen und Malcolm lag zur Mittagszeit noch immer im Zeitplan.

Jane hatte ihm sein übliches Mittagessen gebracht – ein Eiersalat-Sandwich auf Weizentoast und einen kleinen Salat – und er aß an seinem Schreibtisch, während er sich um neue E-Mails und Anfragen kümmerte.

»Ich habe einen Anruf eines potentiellen Mandanten bekommen. Er sagte, er braucht dringend Hilfe und fragte, ob du heute eventuell einen Termin frei hast«, sagte Jane, während sie sich in einem Stuhl in der Ecke niederließ und ihre Schuhe von den Füßen kickte. »Ich hasse diese Dinger.«

»Dann zieh sie nicht an. Du weißt, dass es mir egal ist, wenn du bequeme Schuhe im Büro trägst. Gary hatte diese alberne Idee mit dem Dresscode und ich habe dagegen gestimmt. Ja, wir müssen professionell aussehen, aber die Fünfziger sind vorbei und das ist eine Anwaltskanzlei, kein Modehaus.«

»Aber...«

Malcolm aß einen Bissen seines Sandwiches. »Zieh an, was zur Hölle du willst, und wenn er dir Schwierigkeiten macht, sag ihm, dass er mit mir reden soll.« Er hatte langsam genug von Garys Powertrip und es war Zeit, dass er seine Meinung sagte.

»Danke, Malcolm«, sagte sie.

Er sah von seinem Bildschirm auf und lächelte sie an. »Du arbeitest für mich, nicht für ihn, und ich will, dass du dich wohl fühlst.« Er beugte sich über seinen Schreibtisch. »Ich hasse es, eine Krawatte zu tragen. Ich weiß, dass ich es tun muss, weil die Mandanten es erwarten, aber ich hasse es. Mein Hals schwitzt den ganzen Sommer über und wenn irgendwann der Kopierer beschließt, meine Krawatte einzuziehen, wird mich das verdammte Ding erwürgen.«

Jane verdrehte die Augen und aß anmutig einen weiteren Bissen ihres Salats. »Oh bitte, du machst nie Kopien.« Sie grinste und Malcolm schüttelte den Kopf. »Wenn die Kaffeemaschine entscheiden würde, dass sie es auf deine Krawatte abgesehen hat, hättest du aber ein Problem.«

»Ja. Kannst du dir nicht auch vorstellen, wie Gary eines Morgens reinkommt und mich tot vor der Kaffeemaschine findet, weil meine Krawatte in der Maschine festhängt?«

»Ja. Er hätte vermutlich einen Anfall, weil Kaffee auf dem Boden ist, und würde den Hausmeister feuern«, sagte Jane.

Malcolm lachte. Es fühlte sich einige Sekunden lang gut an, dann wandte er sich wieder seinem Computer zu. »Du kannst deinen Anrufer am Ende des Tages einschieben.« Es war nicht so, als hätte er etwas, für das er nach Hause gehen musste und er konnte die fünfzehn Minuten länger bleiben, um einen Beratungstermin anzubieten.

»Okay«, stimmte sie zu und lehnte sich zurück. »Gott, ich liebe diese Stühle. Der, den ich vorne habe, ist schrecklich.«

Malcolm unterbrach das Schreiben seiner E-Mail und rollte von seinem Schreibtisch weg. »Besorg dir welchen Stuhl auch immer du willst. Betrachte ihn als Geburtstagsgeschenk. Ich versuche schon länger, die Partner von neuen Büromöbeln zu überzeugen, aber sie haben kein Interesse.«

»Ich weiß. Von außen sieht alles okay aus, aber sie fangen an, ihren Rückhalt zu verlieren.« Sie aß ihren Salat auf und nahm die Überbleibsel seines Mittagessens mit, als sie das Büro verließ. Einige Minuten später kehrte sie mit einer weiteren Tasse Kaffee und einer Flasche Wasser zurück. Malcolm wusste, dass das Wasser ihre Art war, ihm mitzuteilen, dass er zu viel Kaffee trank, und vermutlich hatte sie recht. Also öffnete er das Wasser und trank das meiste davon, bevor er an seinem Kaffee nippte.

Der Nachmittag verging mit einem stetigen Strom von Mandanten und am Ende des Tages hatte er mehr Arbeit als am Anfang. Aber er hatte sich für den nächsten Tag mehrere Stunden freigehalten, in denen er erledigen konnte, was nötig war, also würde er klarkommen. Manchmal vergaß er es, wenn er in jeder wachen Stunde des Tages arbeitete. Er musste mittlerweile nicht mehr so viel tun, aber es gab ihm etwas, um die leeren Stunden zu füllen, die er allein verbrachte.

»Dein letzter Mandant ist hier«, sagte Jane, als sie den Kopf in sein Büro streckte.

»Danke«, sagte Malcolm, während er sich Notizen zu seinem vorherigen Termin machte und sie in die Akte des Mandanten einordnete. »Bitte schick ihn rein und geh nach Hause. Wir sehen uns morgen.«

Sie sah zur Uhr. »Bist du sicher?«

»Natürlich.« Er hörte auf zu tippen und sah zu ihr auf. »Wieso? So wie ich dich kenne, hast du deine Arbeit für heute bereits erledigt und meinen Terminplan für morgen fertig.« Er warf einen Blick auf die Uhr seines Computers. »Geh ruhig und hab einen schönen Abend.« Er würde nicht auf eine halbe Stunde bestehen. Jane machte oft genug Überstunden und er gab ihr gern mehr Zeit mit ihren Kindern.

»Danke.« Sie eilte davon und ein Mann nahm ihren Platz im Türrahmen ein.

»Mr. Webber.«

Malcolm hob einen Finger und tippte weiter. Er musste diese Notizen beenden oder er würde ein paar der Details vergessen. »Bitte setzen Sie sich. Ich brauche nur einen Moment.« Er tippte schneller, endete mit einer letzten Anmerkung und speicherte die Datei dann, bevor er sie schloss. »Wie kann ich Ihnen helfen?« Er sah von seinem Bildschirm auf und in beeindruckende blaue Augen, die ihn musterten.

Es schienen Davids Augen zu sein und einen Moment lang war er verwirrt. Hoffnung schoss durch seinen Körper, gefolgt von einer Welle unerwarteter Trauer. Im Büro hatte er es immer geschafft zu funktionieren, aber nicht in diesem Moment. Malcolm griff blindlings in seine Schublade und nahm ein Taschentuch heraus.

Er wandte sich ab und legte es sich über die Augen. Scheiße, das durfte jetzt nicht passieren. Die blauen Augen waren nicht Davids Augen, weil sie zu einem anderen Mann gehörten, aber eine Sekunde lang hatte sein Herz voller Hoffnung einen Satz gemacht, die – natürlich – vergeblich war.

»Sind Sie okay?«, fragte der Mann mit einer tiefen, vollen Stimme, die Malcolm half, sich aus seinen Gedanken zu lösen. Immerhin hatte sie keine Ähnlichkeit mit Davids sanftem Tenor.

»Ja. Tut mir leid. Eine Allergie«, krächzte Malcolm und wischte sich über die Augen. Er beruhigte seine zitternden Hände und wandte sich wieder seinem Mandanten zu. Er nahm das Desinfektionsmittel aus seinem Schreibtisch und desinfizierte sich die Hände, bevor er aufstand und dem Mann seine Hand anbot, wie er es hätte tun sollen, als er hereingekommen war. »Malcolm Webber. Es tut mir leid, dass ich Sie habe warten lassen. Ich musste noch schnell ein paar Dinge notieren.«

»Hans Erickson«, sagte der Mann und schüttelte fest seine Hand. »Ich weiß es zu schätzen, dass Sie sich so kurzfristig Zeit für mich nehmen.«

Malcolm deutete auf den Stuhl und Hans setzte sich wieder.

»Womit kann ich Ihnen helfen?«

»Ich habe einen Brief von der Steuerbehörde bekommen, in dem sie schreiben, dass ich ihnen einen immensen Geldbetrag schulde und ich verstehe es nicht. Ich habe seit Jahren alle Steuern bezahlt und mein Einkommen offengelegt.« Er holte eine dicke Akte hervor. »Ich war mir nicht sicher, was Sie brauchen, also habe ich den Brief und alle zugehörigen Dokumente dabei.« Er hatte einen schwachen skandinavischen Akzent, nicht sehr stark, aber ausgeprägt genug, dass Malcolm sich fragte, ob er eingewandert war.

»Lassen Sie mich einen Blick darauf werfen«, sagte Malcolm. Er nahm den Brief entgegen und las ihn, aber er brauchte länger als er sollte, weil er Hans immer wieder ansah. Mehr als einmal gerieten die Wörter auf dem Papier durcheinander und verschwammen, weil seine Gedanken zu David wanderten und dann kehrte seine Aufmerksamkeit zu Hans zurück und zu der Art, wie sein Hemd offenstand, was Malcolm einen Blick auf das blonde Haar ermöglichte, das in seinem V-Ausschnitt sichtbar war.

»Nun, es sieht so aus, als ob die Steuerbehörde sagt, dass Sie 2010 und 2011 zu wenig Sozialversicherungssteuern bezahlt haben.« Malcolm begann im Kopf mögliche Gründe durchzugehen. »Haben Sie Ihre Steuerformulare dabei?«

»Ich habe alles mitgebracht, was ich habe.« Er gab Malcolm einen dicken Ordner mit zusammengehefteten Seiten.

Malcolm blätterte die Dokumente durch, bis er die betreffenden Jahre fand. »Sie sind Autor«, sagte Malcolm. Er hatte gedacht, dass er den Namen irgendwo schon einmal gehört hatte. »Ich habe letztes Jahr eines Ihrer Bücher gelesen. Ich mochte die Handlung.« Er fühlte sich sofort zurückversetzt in den Winterurlaub auf St. Maarten, den er und David gemeinsam dort verbracht hatten. David war im Wasser, schoss durch die Wellen und Malcolm hatte mit einem Buch unter einem Schirm gesessen, um Schutz vor der Sonne zu suchen. Hans' Buch. »Es war wirklich gut.«

»Danke«, sagte Hans mit einem strahlenden Lächeln.

»Haben Sie Ihre Steuererklärung selbst gemacht?«, fragte Malcolm und war erleichtert, als Hans seinen Kopf schüttelte.

»Ich habe Sie von einem Steuerberater machen lassen. Ich kenne mich damit nicht aus.«

»Schauen Sie hier. Er hat Ihre Tantiemen in die Zeile für Nutzungsgebühren eingetragen. Aber die ist nicht für Ihre Einkommensart gedacht, sondern für Zahlungen bezüglich Schürfrechten, Abbaurechten und solchen Dingen. Buchtantiemen sollten als reguläres Einkommen gehandhabt werden. Weil er das getan hat, haben Sie für dieses Geld keine Sozialversicherungsabgaben bezahlt.« Malcolm überprüfte schnell den Rest der Unterlagen und stellte fest, dass die Steuererklärung ab 2011 korrekt gemacht worden war.

»Was tun wir jetzt?«, fragte Hans, biss sich auf die volle Unterlippe, und Malcolm schluckte hart, als sich in Hans' Augen ein flehender und sogar erleichterter Ausdruck zeigte. Er hatte diese Emotionen so oft in Davids Augen gesehen. Oft im Schlafzimmer, wenn Malcolm ihn bis kurz vor den Orgasmus gebracht hatte und er nur ein bisschen mehr brauchte...

Malcolm wandte seine Gedanken wieder der Gegenwart zu und stellte einige kurze Berechnungen an. »Sie scheinen in diesen Jahren nicht viel verdient zu haben.«

»Nein. Ich stand gerade erst am Anfang meiner Karriere und war dabei, meine ersten Bücher zu veröffentlichen. Es hat eine Weile gedauert, die Dinge aufzubauen«, sagte Hans. »Aber es waren gute Jahre. Die Begeisterung am Schreiben und dann die ersten Verträge. Es war wirklich berauschend.«

»Darauf wette ich«, sagte Malcolm und versuchte so zu klingen, als verstünde er es, aber es fiel ihm schwer, sich ohne David an dieses Gefühl zu erinnern. Das Gesamteinkommen lag nur bei Dreißigtausend und Malcolm überprüfte die Angaben. »Nur etwa zwölftausend müssen versteuert werden. Also schulden Sie dem Staat etwa tausendfünfhundert bis tausendachthundert Dollar.« Er nahm den Bescheid und verdrehte die Augen.

Natürlich hatten sie Strafzahlungen und Zinsen auf Zinsen und noch mehr Strafzahlungen aufgeschlagen, sodass es insgesamt über dreißigtausend Dollar waren. »Wir werden den Fehler korrigieren und die abgeänderte Steuererklärung erneut einreichen und dann werde ich die Behörde kontaktieren und sehen, ob sie auf das Bußgeld und die Zinsen verzichten. Auf diese Weise zahlen Sie die fehlenden Steuern nach und das sollte es dann gewesen sein.«

»Meinen Sie wirklich, dass sie das tun werden?«, fragte Hans. »Ich habe ganze Arbeitstage verloren, weil ich mit ihnen telefoniert habe und bin nicht weitergekommen. Sie haben mich von Pontius zu Pilatus geschickt und mir im Prinzip gesagt, dass ich einen Scheck schreiben soll und dann alles erledigt wäre. Ich habe schlicht nicht so viel Geld, dass ich ihnen einfach einen Scheck ausstellen kann, wegen eines Fehlers, den mein Steuerberater gemacht hat.«

Er klang ein wenig verzweifelt. Malcolm konnte es verstehen. Die Bürokratie der Steuerbehörde neigte dazu, Menschen in die Verzweiflung zu treiben.

»Ich verstehe. Haben Sie mit Ihrem Steuerberater gesprochen?«

»Er macht jetzt etwas anderes. Ich habe letztes Jahr einen Buchhalter mit meiner Steuererklärung beauftragt und werde ihn sie auch in Zukunft erledigen lassen.«

»Also gut. Lassen Sie mich eine Aufstellung machen, damit Sie wissen, wie viel meiner Zeit das beanspruchen wird, damit ich Ihnen einen Kostenvoranschlag erstellen kann und dann können Sie entscheiden, was Sie tun wollen.« Malcolm faltete seine Hände auf dem Schreibtisch. »Ich möchte, dass meine Mandanten immer wissen, worauf sie sich einlassen.«

»Das weiß ich zu schätzen«, sagte Hans. »Soll ich das alles bei Ihnen lassen?«

»Das können Sie tun.« Malcolm zog einen leeren Aktenordner aus seiner Schreibtischschublade und legte alles hinein, von dem er glaubte, dass er es brauchen würde. Er glaubte wirklich nicht, dass es besonders lang dauern würde und es hing alles davon ab, wie schnell er mit einem seiner Kontaktleute bei der Steuerbehörde sprechen konnte. »Ich werde Ihnen morgen den Kostenvoranschlag schicken und sobald Sie ihn annehmen, fangen wir an.«

Er musste sich abwenden und sich Zeit lassen, die Akte zusammenzustellen, um das Rauschen in seinen Ohren unter Kontrolle zu bekommen. Hans war gut aussehend, aber diese Augen... Malcolm sah immer wieder in diese Augen und Gedanken, die er nicht haben sollte, nisteten sich in seinem Kopf ein.

Hans war ein Mandant und Malcolm würde sich keine... nun, geradezu schmutzigen Gedanken über das machen, was sich unter Hans' Hemd verbarg. Nein, diese Gedanken und Bilder hatten nichts im Büro verloren. Verdammt, sie hatten nichts in seinem Leben verloren. David war tot und dieser Teil seines Lebens war vorbei. Das hatte er vor Monaten akzeptiert.

Malcolm stand auf und streckte seine Hand aus und Hans tat es ihm gleich. Als sie sich dieses Mal berührten, schoss ein elektrischer Schlag durch Malcolms Arm und seine Wirbelsäule hinab, und er musste seine gesamte Selbstkontrolle aufwenden, um nicht zu schaudern. Hans' Hand war warm, fest und stark und seine Finger hatten kaum merkliche Schwielen, vermutlich vom vielen Tippen. Für den Bruchteil einer Sekunde fragte Malcolm sich, wie sich diese Hände auf seiner Haut anfühlen würden, und schob den Gedanken dann weg.

»Ich bringe Sie nach draußen«, brachte er hervor, als er Hans' Hand losließ und die Bürotür öffnete. Malcolm führte Hans durch das ruhige Büro ins Foyer und sagte ihm, dass er sich melden würde.

Hans lächelte und wandte sich ab. Malcolm hatte die feste Absicht, sich umzudrehen und sofort zurück in sein Büro zu gehen. Aber seine Willenskraft versagte und er drehte sich gerade rechtzeitig um, um einen Blick auf Hans' Hintern in Designer-Jeans zu werfen. Die Aufzugtüren glitten auf und Hans trat hinein. Malcolm wandte sich ab, bevor er bemerkt werden konnte, und kehrte in sein Büro zurück.

Er machte sich an die Arbeit und richtete seine Aufmerksamkeit auf verschiedene Tätigkeiten für seine Mandanten. Er machte sich Notizen, welche Anrufe erledigt werden mussten und welche Formulare Jane für ihn ausfüllen sollte. Nach dem heutigen Tag hatte er eine Menge zu tun und er musste sich organisieren, um alles zu erledigen.

»Ich sehe, du machst Überstunden«, sagte Gary, nachdem er an seine Tür geklopft hatte.

»Langer Tag ohne Pause.« Malcolm setzte seine Notizen fort, da er befürchtete, den Faden zu verlieren. »Ich muss das wirklich fertigmachen.« Ein Teil des Grundes, dass er so lange arbeitete, war, dass er die Dinge so tatsächlich beenden konnte, bevor er nach Hause ging. Er tat es definitiv nicht, um zu plaudern und Zeit zu verschwenden. »Gibt es etwas Wichtiges?«

»Ich weiß nicht«, sagte Gary und zog die Worte in die Länge, was immer bedeutete, dass er ein Hühnchen zu rupfen hatte. »Hast du etwas gegen den Dresscode im Büro?«

»Ja. Du übertreibst es und ich werde ihn nicht durchsetzen.« Malcolm lehnte sich zurück, als er fertig wurde.

»Ich werde es tun.«

»Nicht mit meinen Angestellten«, sagte Malcolm ruhig. Er würde darüber nicht streiten. »Jane kann die Schuhe tragen, die sie will. Das hier ist kein Ausbeuterbetrieb. Es ist ein Geschäftssitz und ich möchte, dass unsere Mitarbeiter und unsere Mandanten sich willkommen und wohl fühlen, nicht als wären sie wieder in den Fünfzigern gelandet. Jane sieht immer tadellos aus und dieser Dresscode ist lächerlich, also ändere ihn und lass alle wieder so weitermachen wie vorher.«

»Wir müssen ein angemessenes Bild abgeben.«

Malcolm stand auf. »Du wurdest zum Seniorpartner ernannt, um diese Kanzlei zu führen. Aber du wirst das nicht erfolgreich tun, wenn du losziehst und Probleme löst, die es nicht gibt. Ich schlage vor, du arbeitest daran, mehr Mandanten zu gewinnen und mehr Umsatz zu generieren. Schau dir an, wer wie viel einbringt und hilf denjenigen, die damit Schwierigkeiten haben. Das solltest du tun, statt dir über Dresscodes und oberflächliche Dinge Gedanken zu machen. Hilf mit, hochkarätige Mandanten in die Kanzlei zu bringen. Das ist deine Aufgabe.« Malcolm begann seine Sachen für den Abend zusammenzupacken. Er mochte es, wenn sein Schreibtisch für den nächsten Tag aufgeräumt und geordnet war.

»Ich brauche keine Strafpredigt«, sagte Gary lauter als nötig.

Malcolm ging zur Tür und schloss sie. »Du wirst eine bekommen, wenn du mit diesem Mist weitermachst. Hanlan war ein Meister darin, neue Mandanten für uns alle an Land zu ziehen. Dafür wirst du bezahlt. Du hast die Kontakte, also geh raus und nutze sie, finde raus, was gerade ansteht und lass diese Versuche, das Büro zu kontrollieren. Diese Kanzlei steht und fällt mit der Qualität unserer Leute und jeder Einzelne da draußen ist der Beste auf seinem Gebiet. Bereite dir nicht selbst Probleme. Mehr sage ich gar nicht.« Er ließ seine Stimme weicher werden. »Ich hätte nicht für dich gestimmt, wenn ich nicht denken würde, dass du für den Job geeignet bist.«

»Vermutlich...«

Malcolm lächelte. »Wir machen alle Fehler. Lass das hinter dir und kümmere dich um das, was wirklich wichtig ist.« Er nahm seine Tasche und öffnete die Bürotür. »Wir sehen uns morgen.«

Gary folgte ihm hinaus und ging schweigend in sein Eckbüro. Malcolm hasste es, so mit ihm zu sprechen, aber er hatte zuvor schon einen anderen Ansatz versucht, der nicht funktioniert hatte. Er machte sich eine gedankliche Notiz am nächsten Tag mit Gary zu sprechen und sicherzustellen, dass alles wieder so war, wie es sein sollte.

Er sah sich im Büro um, bemerkte diejenigen, die noch arbeiteten, begegnete ein paar Blicken und dann wandte er sich ab und ging.

Malcolm fuhr mit dem Aufzug zu seinem Auto hinunter und machte auf dem Heimweg Halt bei einem seiner liebsten Lokale, um sich ein Abendessen abzuholen. Der Mann an der Theke gab seine übliche Bestellung auf, sobald er ihn sah und das Essen war nach ein paar Minuten fertig. Malcolm nahm sein Gyros und den Salat mit nach Hause und aß vor dem Fernseher, warf anschließend den Müll weg und legte die Füße hoch.

Am Ende döste er eine Weile, las ein wenig und um zehn Uhr schaltete er den Fernseher aus, richtete sich Kleidung für den nächsten Tag, duschte, putzte sich die Zähne und legte sich ins Bett, um auf seiner Seite des Bettes zu schlafen, wie er es immer tat.

Erst nachdem er sich ins Bett legte, wich er von seiner Routine ab. Normalerweise dachte er an David und ihr gemeinsames Leben; es sorgte dafür, dass er sich weniger einsam fühlte. Aber an diesem Abend tauchten immer wieder blaue Augen in seinen Gedanken auf, die Davids sehr ähnlich, aber Teil eines völlig anderen Gesichts waren.

Malcolm drehte sich nach einer halben Stunde auf die Seite und boxte in sein Kissen. Er musste mit diesen Gedanken aufhören. Er wechselte dazwischen hin und her, sich selbst zu maßregeln, weil er so über einen Mandanten dachte, und sich schuldig zu fühlen, weil er diese Gedanken überhaupt hatte, und damit David gegenüber irgendwie untreu war.

Er wusste, dass ihm einfach nur sein Gehirn einen Streich spielte, weil er seit langer Zeit mit niemandem mehr intim gewesen war und sich einsam fühlte. Das war ihm klar. David war immer der extrovertierte von ihnen gewesen. Er freundete sich schnell mit anderen Menschen an und er hatte ihr Leben und ihr Zuhause mit Partys und Wärme gefüllt.

Malcolm hatte versucht, den Kontakt zu ihren Freunden zu halten, aber es gehörte nicht zu seinen Stärken und mit den vergehenden Monaten neigten sie dazu, sich abzuwenden, sobald der Schmerz über den Verlust bei den meisten nachgelassen hatte, und Malcolm konnte es ihnen nicht verdenken. Die wenigen Male, die er versucht hatte, sich mit jemandem zu verabreden, hatte er am Ende entweder über David gesprochen oder neben den anderen gestanden und nichts gesagt, weil er nicht sicher war, worüber er sprechen sollte.

Am Ende gab er es auf, seine Gefühle kontrollieren zu wollen und ließ sie einfach zu. Es half nichts, zu versuchen, seine Gedanken zu lenken und schließlich schlief er ein, während er sich an schöne blaue Augen erinnerte.