Manfred Spitzer

Dopamin & Käsekuchen

Hirnforschung à la carte



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Schattauer
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Printausgabe: ISBN 978-3-608-42813-1
E-Book: ISBN 978-3-608-16834-1
PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-26643-6
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

herausgegeben von Wulf Bertram

Vorwort

Dopamin und Käsekuchen – ein solcher Titel bedarf der Rechtfertigung, klingt er doch zunächst schlimmer als Sauerkraut und Vanillesoße. Auch dies passt nicht gut zusammen, auf dem Teller. Als Begriffspaar jedoch haben diese Dinge wenigstens noch die Gemeinsamkeit des Essbaren. Aber ein Neurotransmitter und eine süße Backware?

Vielleicht ist der Titel Ausdruck meiner Weltsicht, denn für mich ist die Welt nicht in abgeschlossene Bereiche eingeteilt, die nichts miteinander zu tun haben. Schließlich bin ja mindestens ich selber immer der gleiche – egal ob ich am Esstisch oder am Schreibtisch sitze. Meine Lebenswelt, wie das der Philosoph nennt, durchzieht also die unterschiedlichsten Seinsbereiche und verbindet auf diese Weise auch das vermeintlich Inkommensurable. So hatten schon frühere Sammlungen meiner Beiträge aus der Nervenheilkunde Titel wie Schokolade im Gehirn (2002) oder Ketchup und das kollektive Unbewusste (2001).

Es denkt sich sehr einfach in Kästchen. Wenn man ausblendet, dass jährlich 10 Millionen Babys unnötig an Durchfall sterben oder dass eine Milliarde Menschen nicht ausreichend mit Trinkwasser versorgt sind oder dass hunderttausende Kinder hierzulande zu dick sind, kann man sich mit allem Möglichen beschäftigen: dem Wassergehalt der oberhessischen Blutwurst, den Schwächen der neuen Wagner-Inszenierung oder der Kragenweite von Oberhemden. Wenn aber alles mit allem zusammenhängt, und wenn man Kinder hat, dann muss man sich die Frage gefallen lassen, warum man mit seinem Leben macht, was man macht. Ich könnte auch in einer Werbeagentur arbeiten und für Zigarettenwerbung zuständig sein. Dann wären die Früchte meines Tagwerks – Tote! Ich könnte das ausblenden, rationalisieren oder gar zu rechtfertigen versuchen (wenn nicht ich, dann machen das andere; der Markt verlangt das etc.), aber Tote bleiben dennoch Tote. Und selbst dann, wenn mein Tagwerk keine Toten produzierte, sondern einfach nur sinnlos wäre, müsste ich mir die Frage gefallen lassen, warum ich nicht etwas Sinnvolleres tue. Spätestens jetzt ist klar, warum ein früheres Büchlein Vom Sinn des Lebens (2007) hieß.

Nun wurde ich glücklicherweise Arzt – nicht aus all den gerade genannten Überlegungen, und daher eben glücklicherweise –, denn so kann ich mich mit Geist, Gehirn und Nervenheilkunde (Titel des ersten Büchleins von 2000) ebenso beschäftigen wie mit Patienten, die mit Verdacht auf Psyche (2003) oder allerlei anderen Geistesblitzen und Gehirngespinsten (2004) in die Klinik kommen. Beim Verlassen der Klinik geht es ihnen in aller Regel sehr viel besser, denn in der Psychiatrie hat man – und das ist nicht in allen Fächern der Medizin so – sehr viele und sehr effektive Therapiemöglichkeiten.

Man kann sich jedoch als Mensch, Wissenschaftler, Bürger und vor allem Vater nicht allein mit seiner Arbeit zufrieden geben. „Papa, warum hast Du nichts geändert, wo Du das doch alles wusstest?“ – Das habe ich wie damals sehr viele junge Menschen meinen Vater früher gelegentlich gefragt. Er war bei Kriegsausbruch 14, und wenn ich heute zurückdenke, war die Frage dumm. Wie hätte er – Kanonenfutter mit Hauptschulabschluss – etwas ändern sollen?

Bei mir ist das anders: Professoren werden ja dafür bezahlt, dass sie unabhängig und eigenständig nachdenken. Ich muss mir also auch schwierige Fragen (wie diejenige, die ich meinem Vater gelegentlich stellte) gefallen lassen oder selber stellen: Tust du das Richtige? Gibst du dir genug Mühe dabei? Büchlein wie Gott-Gen und Großmutterneuron (2006) oder Das Wahre, Schöne, Gute (2009) und auch das vorangegangene, Aufklärung 2.0 (2010), mögen bezeugen, dass ich mich in der Tat mit diesen Fragen beschäftige und mir Mühe gebe.

Er hat sich bemüht – im Führungszeugnis entspricht das einer 5! Es reicht nicht, sich nur zu bemühen; im wirklichen Leben zählen vielmehr die Resultate. Daher werden meine Bücher immer emotionaler: Ich kann nicht mehr zusehen, wie der Karren in den Dreck fährt, sondern möchte das verhindern (auf vielen Ebenen). Man wird erstens älter und sich zweitens dessen immer stärker bewusst: Viel Zeit ist nicht mehr, um etwas Gutes zu tun. Also lieber jetzt als nie … So sagt mein Frontalhirn an Mandelkern (2005) zwar schon länger, aber nicht nur Liebesbriefe und Einkaufszentren (2008) hielten mich davon ab. Vor allem die Routinen des Alltags wirken toxisch, wenn es darum geht, sich zu wirklich wichtigen Dingen aufzuraffen.

Dass sich dies ändern soll, habe ich mir wieder einmal fest vorgenommen: Ich möchte die Kenntnisse aus der Neurowissenschaft zu den Auswirkungen dessen, was wir körperlich und geistig zu uns nehmen, nicht im Elfenbeinturm belassen, sondern sie in die Gesellschaft tragen, wo sie Früchte tragen sollen. Kinder haben gutes Essen und gesunde geistige Nahrung verdient. Beides bekommen sie derzeit nicht, oder nur gelegentlich per Zufall. Das möchte ich ändern. Und vielleicht helfen Sie, liebe Leserin bzw. lieber Leser, dabei mit!

Jeden Herbst erschrecke ich darüber, wie schnell das neue Jahr vergangen ist. Und so ist nun mit diesem Buch auch schon der zwölfte Sammelband mit Beiträgen aus der Nervenheilkunde fertig geworden. Seit 12 Jahren wundere ich mich über mich selber, dass mir noch immer etwas einfällt, und freue mich über die Ausdauer der Mitarbeiter des Schattauer-Verlages mit ihrem ständig im Verzug befindlichen Autor und Herausgeber. Ich möchte daher den Mitarbeitern des Schattauer-Verlags und den Kollegen in der Nervenheilkunde auf allen Ebenen für ihre Nachsicht und Unterstützung ganz herzlich danken: den Verlegern Herrn Dieter Bergemann und Dr. Wulf Bertram, Frau Ruth Becker, Frau Dr. Anja Borchers, Frau Dr. Dagmar Brummer, Frau Birgit Heyny, Frau Dr. Andrea Schürg und Frau Franziska Sokollik.

In diesen wirklich nicht einfachen Zeiten sind mir meine Freunde und Mitarbeiter besonders wichtig. Meinen Kollegen hier in der Klinik und im Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen bin ich sehr dankbar für ihre Mitarbeit, und ich hoffe, dass sie unsere tägliche gemeinsame (Arbeits-)Zeit ähnlich konstruktiv und positiv erleben wie ich. Schade nur, dass man seit längerer Zeit schon das Gefühl hat, auf einer kleinen Insel zu sein, inmitten permanenter Bedrohung von überall her, dass diese Atmosphäre des Loyalität, Kreativität und Gesundheit gegen nahezu tägliche Angriffe verteidigt werden muss. Schade um die viele Zeit, die man mit solchem Unfug verbringen muss. Noch nagt das Ganze nicht so sehr, dass ich schon das Handtuch werfen und mich „auf die Insel“ zurückziehen möchte. Aber manchmal ertappe ich mich bei entsprechenden Fantasien, die sich dann aber im Café Trögele oder Ferreau bei der Nachbesprechung zur Morgenbesprechung mit Thomas und/oder Georg rasch wieder verflüchtigen. Danke!

Dieses Buch ist meiner Mutter gewidmet: Sie brachte früher sonntags den besten Käsekuchen auf den Kaffeetisch und ist trotz hohen Alters noch immer guter Dinge, was man zwanglos mit einem gut funktionierenden Dopaminsystem in Verbindung bringen kann, aber nicht muss.

Ulm, Ende November 2010                        Manfred Spitzer

Für meine Mutter

Inhalt

1Dopamin und Käsekuchen

Essen als Suchtverhalten

2Einfach verbieten!

Kinder-TV-Werbung für ungesunde Nahrungsmittel

3Sex and Crime

4Hormone zur Hochzeit

Gentest für Treue, Impfung gegen Scheidung

5Fairness und Testosteron

6Computer in der Schule

The Good, the Bad, and the Ugly

7Schenken Sie doch – schlechte Noten

und geringere Elternbindung

8Gehirnjogging?

9Liebe und Sex, der Wald und die Bäume

10Grün kaufen – egoistisch handeln?

11Gesundheitsbildung

12Schnell leben und jung sterben

13Der Blues der Väter

14Zucker und Zukunft

Leib und Seele

15Finger, Raum, Zahl

Gehirn und Mathematik

16Charisma im Gehirn

Fürbitten im Scanner

17Generation Google

Wie verändern digitale Medien unsere Bildung, Moral und personale Identität?

18Macht Bildung gleich oder ungleich?

19Wie werden wir glücklich?

20Lithium im Trinkwasser – Lithium ins Trinkwasser?

Sachverzeichnis

1 Dopamin und Käsekuchen

Essen als Suchtverhalten

Kaum ein Mensch hat hierzulande und heutzutage keine Probleme mit seinem Körpergewicht: Man ist zu dick, weiß das auch und isst dennoch zu viel. Wie kommt das eigentlich? Wir wissen es schließlich besser: Übergewicht macht krank und führt einen früheren Tod herbei. Auch Trinken und Rauchen machen krank und führen zu einem früheren Ableben, vom Konsum harter Drogen einmal gar nicht zu reden. Aber bei Alkohol, Nikotin, Morphin, Kokain oder Amphetamin handelt es sich um Substanzen, die Sucht erzeugen, also in geringsten Mengen direkt auf das Gehirn einwirken und dadurch Erleben und Verhalten ändern. Nahrung, so scheint es zumindest zunächst, ist demgegenüber etwas ganz anderes.

Dass es zwischen pathologischem Essverhalten und dem Konsum von Suchtstoffen gewisse Parallelen gibt, vermutet der Volksmund (der von „Fress-Sucht“ spricht) schon lange. Seit einigen Jahren gibt es aus der Neurobiologie Erkenntnisse, die auf einen engen Zusammenhang zwischen Essverhalten und Sucht hinweisen. Es lohnt sich, diesem nachzugehen, denn nur wenn man Funktionsabläufe und Mechanismen versteht, hat man überhaupt eine Chance, in diese bewusst und steuernd einzugreifen.

Tief im Gehirn sitzt ein neuronales System, das bei Erlebnissen, die besser als erwartet ausfallen, ein Signal gibt, um diese Erlebnisse und deren Umstände rasch zu lernen, sodass der Organismus langfristig sich dem zuwendet, das für ihn gut ist (Abb. 1-1). Bei der Aktivierung dieses Systems kommt es zu einer gesteigerten Dopaminfreisetzung, was für ein leistungsfähigeres Arbeitsgedächtnis und mehr On-line-Informationsverarbeitung (4) sowie für eine verbesserte Übertragung vorläufig gespeicherter Inhalte ins Langzeitgedächtnis sorgt (23). Zudem kommt es zu einer Ausschüttung endogener Opioide im Frontalhirn, was subjektiv angenehm erlebt wird. Damit sind in diesem System Lernen und Lust eng miteinander verknüpft (25). Neuroanatomen und Psychiater nennen dieses System das mesolimbisch-mesokortikale Dopaminsystem, weil die beteiligten Neuronen erstens den Neurotransmitter Dopamin verwenden und es zweitens noch andere Dopaminsysteme gibt (das tuberoinfundibuläre sowie das nigro-striatale). In der Literatur wird dieses System je nach Blickwinkel und Erkenntnisinteresse auch als Lust-, Sucht-, Motivationsoder Belohnungssystem bezeichnet (2, 7, 24). Wir sprechen im Folgenden vom dopaminergen Belohnungssystem.

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Abb. 1-1 Das dopaminerge Belohnungssystem mit Ausgangspunkt in Area A10 des Mittelhirns, Nucleus accumbens (ventrales Striatum) und Frontalhirn, dem Ort der Auswirkung auf Aufmerksamkeit und Lernen.

Die Existenz eines jeden Organismus hängt von der erfolgreichen Suche und Aufnahme von Nahrung ab. Daher ist dieses System überlebenswichtig, und umgekehrt gilt, dass Nahrung (neben Fortpflanzung) zu den wichtigsten psychologischen Reizen gehört, die das System aktivieren (8, 22). Sieht man einmal von manchen Kantinen ab, so ist die Aufnahme von Nahrung in den meisten Fällen ein lustbetonter Akt. Nicht nur im Tierversuch wirkt Nahrung belohnend (10, 11). Wie stark motivierend Nahrung auch auf uns Menschen wirken kann, weiß jeder, der schon einmal Kinder mit der Aussicht auf ein Eis zu Heldentaten motiviert hat oder hungrig im Supermarkt einkaufen war.

Suchtstoffe aktivieren das dopaminerge Belohnungssystem ebenfalls, pharmakologisch und ohne ein vorausgegangenes Erlebnis. Sie aktivieren damit ein angenehmes Empfinden, ohne dass mit diesen Empfindungen ein zu lernender Inhalt verknüpft wäre. Da suchterzeugende Substanzen das System deutlich stärker aktivieren können als psychologische Erlebnisse (Abb. 1-2), ist das durch die Substanzen erzeugte angenehme Gefühl stärker als die mit Nahrungsaufnahme oder Sex verbundenen angenehmen Gefühle, was wiederum die Sucht zu dem macht, was sie ist: pathologisches, langfristig extrem lebenszerstörendes Verhalten, das nur sehr schwer zu ändern ist.

Aus system-neurobiologischer Sicht sind damit das Phänomen der Sucht einerseits und die Nahrungsaufnahme andererseits prinzipiell sehr eng verknüpft. Neben diesen sich aus den genannten prinzipiellen Überlegungen ergebenden Indizien gibt es handfeste empirische Befunde, die diese Zusammenhänge verdeutlichen und aufklären.

Nahrungsaufnahme führt zu einer Dopaminfreisetzung, deren Ausmaß mit der Freude am Essen korreliert (10, 13). Diese nahrungsbedingte Dopaminfreisetzung ist bei übergewichtigen Menschen vermindert, die daher für den gleichen belohnenden Effekt mehr essen müssen. Entsprechendes geschieht, wenn man Dopaminrezeptoren im Striatum mittels Dopamin-D2-Antagonisten blockiert: dann sinkt die belohnende Qualität der Nahrungsaufnahme und es wir mehr gegessen – gleichermaßen bei Ratten und Menschen (19, 26). Dopaminagonisten haben den gegenteiligen Effekt, machen die Nahrung belohnender und führen daher zu einer Verminderung der Nahrungsaufnahme. Da bei übergewichtigen Menschen zudem weniger Dopaminrezeptoren nachgewiesen wurden, wird seit einigen Jahren diskutiert, dass deren vermehrte Nahrungsaufnahme durch eine Unterfunktion des dopaminergen Belohnungssystems verursacht wird.

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Abb. 1-2 Ausmaß der psychologischen und der pharmakologischen Aktivierung des dopaminergen Belohnungssystems im Tierversuch (21). Die Effekte gelten orientierend bzw. nur in erster Näherung (20), denn sie sind abhängig von den Experimentalbedingungen im Einzelnen, insbesondere von der Dosis des Suchtstoffs. Man sieht deutlich das Problem der Sucht: Stoffe aktivieren das System stärker als Erlebnisse, sodass der Einfluss psychologischer Faktoren auf das Verhalten vergleichsweise sinkt.

Ein erster Hinweis hierfür wurde in einer Studie an 43 jungen Frauen gewonnen, die einen Schokoladen-Milch-Shake oder ein Glas Wasser im MR-Tomografen sahen und dann das entsprechende Getränk schmecken konnten (12). Es zeigte sich eine negative Korrelation (r = –0,5) zwischen der Aktivierung des linken Nucleus caudatus und dem Body-Mass-Index (BMI) der Probandinnen. Dickleibigkeit geht also mit einem verminderten Ansprechen des Striatums auf Nahrung einher. In einer zweiten Untersuchung an 33 Mädchen im Alter von 14 bis 18 Jahren zeigte sich diese Korrelation erneut (r = –0,58). Zudem wurde ein Einfluss der Genetik des Dopamin-D2-Rezeptors (TaqIA A1-Allel des DRD2-ANKK1-Genlocus) auf die Höhe der Korrelation gefunden sowie prospektiv in einer weiteren Studie ein Einfluss sowohl der Genetik als auch der Aktivierung des Striatums auf die Gewichtszunahme im folgenden Jahr. Eine verminderte Expression striataler Dopaminrezeptoren wurde bereits vor Jahren als Risikofaktor für Suchterkrankungen identifiziert und führt nach dieser Studie auch zu vermehrter Nahrungsaufnahme, ist also auch ein Risikofaktor für Adipositas.

Aus diesen und weiteren Befunden hat man seit einigen Jahren die Hypothese abgeleitet (15–18), dass pathologisches Essverhalten, das zu Dickleibigkeit führt, letztlich eine Form von Suchtverhalten darstellt und entsprechend zu bewerten und zu behandeln ist!

Im Rahmen einer Reihe von Experimenten an Ratten gingen US-amerikanische Neurowissenschaftler vom Scipps-Forschungs-Institut in Florida der Frage nach, wie sich eine „westliche Cafeteria-Diät“ (kohlenhydrat- und fettreiche Nahrung wie beispielsweise Käsekuchen, Würstchen und Schokolade) auf das Essverhalten sowie auf das dopaminerge Belohnungssystem auswirkt (5). Von dieser Diät ist schon seit drei Jahrzehnten bekannt, dass sie im Tierversuch (und beim Menschen auch, wie jeder Cafeteriabesucher weiß!) zu dauerhaftem Übergewicht führt (27).

Die Wissenschaftler bestimmten hierzu zunächst bei männlichen Ratten die Belohnungsschwelle mittels eines Verfahrens, das auf elektrischer Selbststimulation beruht (Abb. 1-3): Man pflanzt den Tieren Elektroden in den lateralen Hypothalamus und gibt ihnen die Möglichkeit, sich selbst einen elektrischen Impuls per Tastendruck zu verabreichen. Wie seit Jahrzehnten bekannt ist (7) kommt es zu einem ausgeprägten Stimulationsverhalten: Die Tiere drücken die Taste bis zu 2 000-mal pro Stunde. Nun kann man durch Veränderung der Intensität des elektrischen Stimulus die „Schwelle“ bestimmen, bei der das Verhalten noch an den Tag gelegt wird und hat damit ein – wie man durch entsprechende Studien herausgefunden hat – über die Zeit recht stabiles Maß für die „Belohnungsschwelle“ und damit die individuelle Aktivierbarkeit des Belohnungssystems.

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Abb. 1-3 Versuchsanordnung zur Selbststimulation von Ratten (schematisch), mittels der die Belohnungsschwelle gemessen wurde.

Nachdem man die Belohnungsschwelle von Ratten über zehn bis 14 Tage hinweg bestimmt und stabile Werte erreicht hatte, wurden die Tiere in drei Gruppen eingeteilt, sodass zwischen den Gruppen keine Unterschiede im Hinblick auf Körpergewicht (300 bis 350 g) und Belohnungsschwelle bestanden. Danach erhielten die Ratten für 40 Tage eine bestimmte Diät: entweder das normale Rattenfutter oder Rattenfutter und eine Stunde täglich „westliche Cafeteria-Diät“ oder die „westliche Cafeteria-Diät“ den ganzen Tag (18 bis 23 Stunden). Bei allen Ratten wurden über die Zeit des Versuchs die Kalorienaufnahme, das Gewicht und die Belohnungsschwellen der Tiere gemessen. Wie erwartet kam es zu einer Gewichtszunahme in allen drei Gruppen, die jedoch in Abhängigkeit von der Diät unterschiedlich stark ausgeprägt war: am deutlichsten war sie in der Gruppe der Ratten auf westlicher Diät (ca. 160 g), geringer in der Gruppe mit nur einer Stunde westlicher Diät täglich (ca. 100 g) und am geringsten in der Gruppe mit normalem Rattenfutter (ca. 80 g), was wiederum einer normalen Gewichtszunahme bei Ratten in diesem Zeitraum entsprach (Abb. 1-4). Parallel hierzu kam es zu einem Anstieg der Belohnungsschwelle, das heißt, zu einer Abnahme der Empfindlichkeit des Belohnungssystems für belohnende Reize (Abb. 1-5). Eine solche Abnahme der Empfindlichkeit des Belohnungssystems für belohnende Reize ist auch aus Tierversuchen zu den Auswirkungen der Suchtstoffe Kokain und Heroin bekannt (1, 6).

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Abb. 1-4 Veränderung von Körpergewicht in Abhängigkeit von der Diät in den drei Gruppen über den 40-Tage-Versuchszeitraum (nach 5, Fig. 1).

Von besonderer Bedeutung hierbei erscheint zudem die Tatsache, dass die nahrungsbedingte Verstellung des Belohnungssystems länger anhält als eine entsprechende Verstellung durch Kokain, Nikotin oder Alkohol (Abb. 1-6). Normalisiert sich die Belohnungsschwelle nach Beendigung der Administration der Suchtstoffe innerhalb weniger Tage, so blieb sie nach der Verstellung durch die Cafeteria-Diät über 14 Tage unverändert (Abb. 1-7). Da der Versuch nicht weitergeführt wurde, ist nicht bekannt, wie lange diese Verstellung anhält.

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Abb. 1-5 Veränderung der Belohnungsschwellen in Abhängigkeit von der Diät in den drei Gruppen über den 40-Tage-Versuchszeitraum (nach 5, Fig. 1).

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Abb. 1-6 Änderung der Belohnungsschwelle durch Cafeteria-Diät, Heroin und Kokain. Man sieht deutlich, dass die westliche Diät den gleichen Effekt auf das Belohnungssystem hat wie die Suchtstoffe (nach 3, Fig. 1).

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Abb. 1-7 Rückläufigkeit der Änderung der Belohnungsschwelle nach Absetzen der Diät bzw. der Suchtstoffe. Für die beiden Suchtstoffe aus Abbildung 6, Heroin und Kokain, sowie für Nikotin zeigt sich ein Zurückkehren der Schwelle innerhalb von wenigen Tagen, nicht jedoch bei der Verstellung der Schwelle durch eine westliche Cafeteria-Diät. Hier bleibt die Belohnungsschwelle für 14 Tage (Gesamtdauer des Versuchs) pathologisch erhöht (nach 3, Fig. 1).

Wie eingangs erwähnt, besteht ein wesentliches Merkmal des Suchverhaltens darin, dass man willentlich negative Konsequenzen in Kauf nimmt, um es auszuüben. Im Tiermodell kann man dieses Merkmal der Sucht durch das Angstkonditionierungs-Paradigma prüfen: Man bringt Tieren (in der Regel Ratten) bei, sich vor dem Aufleuchten einer Lampe zu ängstigen. Dies geschieht dadurch, dass man den Tieren einen kleinen, aber schmerzhaften elektrischen Schock verabreicht und zugleich die Lampe einschaltet. Sie lernen dadurch die Assoziation zwischen Licht und Schock und reagieren nach einer Weile auf das Licht allein mit Angst. Diese führt zur Vermeidung des Lampenlichts, selbst dann, wenn bei der Lampe beispielsweise Futter liegt. Handelt es sich jedoch um einen Suchtstoff, so stellt man fest, dass der Suchtstoff stärker ist als die Angst vor der Lampe, das heißt, das Licht vermag das Suchtverhalten nicht zu unterdrücken.

Um nun die Auswirkungen der unterschiedlichen Diäten in diesem Versuch zu testen, wurden erneut Ratten mit den drei Diäten für 40 Tage gehalten und dann wurde ihnen Angst vor der leuchtenden Lampe beigebracht. Anschließend erhielten die Tiere (einzeln) Zugang zur Cafeteria-Diät, die jedoch ganz in der Nähe der Angst machenden Lampe platziert wurde. Diese führte zu einer Unterdrückung des Essverhaltens sowohl bei den Tieren, die in den letzten 40 Tagen nur Rattenfutter bekommen hatten, als auch bei denjenigen, die Rattenfutter und für eine Stunde täglich die Cafeteria-Diät erhalten hatten. Die Ratten der Gruppe, die praktisch ausschließlich von der Cafeteria-Diät gelebt hatte, machten sich demgegenüber an den Käsekuchen und die Würstchen heran, trotz gelernter Angst vor der nahe stehenden Lampe. Negative Konsequenzen des Suchtverhaltens waren ihnen also – anthropomorph gesprochen – gleichgültig: Sie wollten die ihnen bekannte und vertraute Nahrung gleichsam „unbedingt“ und „ohne Rücksicht auf Verluste“ zu sich nehmen. „Wie bei suchterzeugenden Stoffen auch, führt der ungehinderte Zugang zu Cafeteria-Nahrung zu dem Aufsuchen von Belohnung, das offenbar zwanghaft erfolgte, denn das Verhalten wurde durch einen Hinweis auf erfolgende Bestrafung nicht unterdrückt“, schreiben die Autoren des Kommentars zu diesem Befund (3, S. 530; Übersetzung durch den Autor).

Auch die dem veränderten Verhalten zugrunde liegende Neurobiologie wurde von Johnson und Kenny unter die Lupe genommen: Mittels eines viralen Vektors wurde bei weiteren Tieren zunächst die Expression von Dopamin-D2-Rezeptoren im Striatum unterdrückt. Danach erhielten die Tiere die Cafeteria-Diät für nur 14 Tage, ein Zeitraum, der aufgrund früherer Studien nicht ausreicht, um die nach 40 Tagen Cafeteria-Diät beschriebenen Veränderungen der Belohnungsschwellen bzw. der angstinduzierten Nahrungsvermeidung auszulösen. Die geringere Zahl an striatalen D2-Rezeptoren führte in diesem Experiment dazu, dass bei den Tieren bereits nach 14 Tagen die Merkmale der Sucht vorhanden waren: Die Belohnungsschwellen der Ratten mit der verringerten Zahl an Dopaminrezeptoren wurden durch Käsekuchen aber rasch verstellt, die Schwellen der Ratten mit Rattenfutter bzw. Rattenfutter plus eine Stunde täglich Cafeteria-Diät nicht.

Mit anderen Worten: weniger Dopaminrezeptoren im Striatum bewirken eine vermehrte Anfälligkeit gegenüber der suchterzeugenden Wirkung von hochkalorischer Nahrung. Genau dies war auch das Ergebnis der eingangs beschriebenen Studie von Stice und Mitarbeitern beim Menschen mit und ohne einer genetischen Variante des Dopaminsystems, die zu dessen Unterfunktion führt.

Zudem konnten Johnson und Kenny zeigen, dass das zwanghafte Essen von Käsekuchen (zu erkennen an der gelernten Angst vor Licht, die nicht zu einer Verminderung des Aufsuchens von Käsekuchen neben der Lampe führt) nur bei den Ratten mit verringerter Zahl von Dopaminrezeptoren nachweisbar war. Unangenehme Konsequenzen ihres Verhaltens hielten sie also nicht davon ab (Abb. 1-8). „Zusammengenommen stützen unsere Daten die Idee, dass zwanghaftes Essverhalten bei Ratten mit dauerndem Zugang zu einer hochkalorischen Diät entstehen kann, analog zur Kokainsucht bei Ratten, die zuvor Zugang zu dieser Droge hatten“, kommentieren die Autoren (5; Übersetzung durch den Autor) ihre Befunde im Rückgriff auf Experimente zur Kokain-Selbstverabreichung bei Ratten (14).

Fassen wir zusammen: Suchtartiges Essverhalten entsteht bei ungehindertem Zugang zu einer wohlschmeckenden hochkalorischen (Cafeteria-)Diät. Der Mechanismus besteht in einem verminderten Ansprechen des dopaminergen Belohnungssystems, sodass für den gleichen belohnenden Effekt mehr gegessen werden muss. Ein vermindertes Ansprechen des Systems ist zudem ein Risikofaktor für diese Entwicklung, denn es erleichtert gewissermaßen das Hineinschlittern in einen solchen Teufelskreis aus Käsekuchen > Dopaminunterfunktion > geringerer Belohnungseffekt > mehr Käsekuchen (Abb. 1-9). „Unsere Daten zeigen, dass eine Unterfunktion des Belohnungssystems bei Ratten dann entsteht, wenn diese willentlich eine wohlschmeckende Cafeteria-Diät zu sich nehmen, wie sie auch von Menschen gegessen wird, und dass diese Effekte immer schlimmer werden, je mehr Gewicht sie zunehmen. […] Eine solche diätinduzierte Belohnungsunterfunktion kann zur Entwicklung von krankhaftem Übergewicht beitragen, indem sie die Motivation zum Konsum hochkalorischer belohnend wirkender Nahrung steigert, um dem Zustand geringer Belohnung entgegenzuwirken. […] Unsere Daten sprechen dafür, dass krankhaftes Übergewicht und Drogensucht einen gemeinsamen zugrunde liegenden Mechanismus aufweisen“, diskutieren die Autoren ihre Ergebnisse (5; Übersetzung durch den Autor).

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Abb. 1-8 Energieaufnahme von Kontrolltieren sowie Tieren mit geringerer Zahl an striatalen D2-Rezeptoren (D2-knock-down) unter Kontrollbedingung (helle Säulen) sowie unter der Licht-Angst-Vermeidungsbedingung (dunkle Säulen). Wie man sieht, führt das Erlernen der Verknüpfung der Lampe mit Angst bei allen Tieren zu einer signifikanten Verminderung der Nahrungsaufnahme, nicht jedoch bei den Tieren mit einer geringeren Anzahl an striatalen D2-Rezeptoren (nach 5, Fig. 7c). * p < 0,05; ** p < 0,01.

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Abb. 1-9 Teufelskreis des krankhaften Übergewichts.

Wer hätte gedacht, dass Kokain und Käsekuchen nicht nur ganz ähnliche Auswirkungen auf das Überleben, sondern auch ganz ähnliche Effekte im Gehirn haben?

Literatur

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