Loy, Rosetta Straßen aus Staub

PIPER

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Übersetzt aus dem Italienischen von Maja Pflug

 

Neuauflage einer früheren Ausgabe

ISBN 978-3-492-97984-9

© Piper Verlag GmbH, München 2017

© Giulio Einaudi editore s.p.a., Torino 1987

Die italienische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Le strade di polvere«, Giulio Einaudi editore s.p.a., Torino

© der deutschsprachigen Ausgabe: Arche Verlag AG, Rabe + Vitali, Zürich 1989

© der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 1998

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Erstes Kapitel

Der Pidrén

Ende des achtzehnten Jahrhunderts, als der Gran Masten ein particulare wurde, einer, der eigenes Land besaß, eigene Rinder, Kühe, Hühner und Kaninchen und so viele Scheffel, daß er fremde Hände brauchte, ließ er das Haus bauen. Er hatte es eilig und verwendete nicht sonderlich viel Mühe auf die Grundmauern, aber das Haus mit seiner hellgelben Fassade blieb doch über die Zeit hinweg in der Erde verankert, eine lange Reihe von Zimmern, eines neben dem anderen. Ein zweistöckiges Gebäude, dazu der Kornspeicher mit den unter das Dach geduckten Fenstern. Ein Backsteinpfad verband das Haus mit der Allee, die im Bogen zum eisernen Hoftor hinunterführe, während sich seitlich der Heuschober und die Ställe bis zur Straße hin erstreckten, wo sich das große Gatter aus Holzbrettern öffnete. Wie jene Straße damals hieß, läßt sich nicht mehr herausfinden; das Haus war das letzte im Dorf, und als später noch eins gebaut wurde, erhielt es zur Auflage, daß die Mauer dort, wo sie zum Garten hin gewandt war, keine Fenster haben dürfe.

Niemand hat je den wahren Namen des Gran Masten gekannt, denn die Kirchenbücher verbrannten während des ersten Napoleonfeldzuges. Gewiß war er einer, der sich an dem Kommen und Gehen der Soldaten bereichert hatte, indem er Pferdefutter und Getreide hortete und dann dreimal so teuer verkaufte. Wein feilbot, mit dem sich Franzosen und Österreicher, Russen, Bayern, Elsässer betrinken konnten während jener endlosen Kriege, die in einem ständigen Hin und Her die Landkarte Mitteleuropas buntgefärbt hatten. Man weiß von ihm nur, daß er die Scheffel Land in wenigen Jahren verdoppelte, da er von früh bis spät arbeitete, ohne je eine Ruhepause einzulegen, und daß er so lange Beine hatte, daß er über die Gräben schritt, ohne zu springen. Er heiratete spät, und von den vielen Kindern, die zur Welt kamen, blieben ihm nur zwei übrig: Pietro und Giuseppe. Pietro, genannt der Pidrén, erhielt später den Spitznamen Sacarlott, Giuseppe dagegen war so blond, daß er von klein auf der Giai genannt wurde, was der Gelbe bedeutet.

Zuerst folgte seine Frau all den Kindern, die beim Klang der Kindertotenglocke gestorben und rasch begraben worden waren, nur mit einem Stein auf der Erde, der die Stelle bezeichnete. Er, der Gran Masten, geriet unter die Räder des Karrens, in einem Sommer, in dem es in Strömen regnete, so daß der Tanaro über die Ufer trat und die Felder überschwemmt wurden, als der Mais noch nicht geerntet war. Es blieb nicht einmal mehr Zeit, seinen Todeskampf einzuläuten, und während der Beerdigung regnete es weiter, und die Angehörigen waren genötigt, sich in der Kirche unterzustellen. Der Hagel zertrümmerte ein Kirchenfenster. Der Pidrén und der Giai beschlossen zu heiraten: Der eine war zweiundzwanzig, der andere einundzwanzig Jahre alt.

Ein Cousin, der Mandrognin, erzählte ihnen von zwei Schwestern, jungen Mädchen, die einander im Haus gute Gesellschaft leisten würden. Sie stammten aus Moncalvo, waren ohne Mutter aufgewachsen und stickten die Paramente für die Kirche; manchmal setzten sie sich auch an das nadelgespickte kleine Kissen und übten das Klöppeln unter Anleitung einer Tante aus Venetien, der Luison. Eine, die Maria, war dunkelhaarig, die andere dagegen hatte Haare von jenem stumpfen Braun, das man vergeblich als blond auszugeben versucht. Eine Farbe, die in manchen Gegenden des Monferrato so verbreitet ist, daß sie an eine Anpassung der Art denken läßt: an die Erde, den Schlamm, die unendlichen Nebel.

Die Dunkle, die Maria, war schön, die Matelda dagegen mit ihren stets unter den Lidern verborgenen Augen sprach mit den Pflanzen und den Saatkörnern; und die von ihr gestickten Paramente waren die kostbarsten in ganz Moncalvo. Wenn der Propst bei feierlichen Anlässen den Kelch hob, blitzte die bestickte Seide auf seinem Rücken purpurn und golden auf. Manche behaupteten sogar, die Matelda spräche mit den Ameisen und an bestimmten Abenden mit dem Schutzengel.

Der Pidrén und der Giai verliebten sich beide in die Maria. Sie holten einen Maler, damit er die Wohnzimmerdecke mit vier verschiedenen Veduten bemale, und in den anderen Räumen begnügten sie sich mit ein paar Schnörkeln, die dem Mädchen aus Moncalvo gefallen könnten. Sie pflanzten einen Walnußbaum, zwei Birnbäume und Rüsnentäpfel. Der Nußbaum gab, als er größer wurde, dem Haus schließlich zuviel Schatten und wurde deshalb geköpft; da breitete er sich aus wie ein riesiger Schirm und wurde zum Mittelpunkt des Gartens.

Das dunkelhaarige Mädchen aus Moncalvo wählte den jüngeren der Brüder, den Giai. Und der Pidrén, dem die Matelda zugefallen wäre, ging fort im Gefolge eines jungen französischen Generals, welcher in Italien gerade eine steile Karriere machte. »Er spinnt, der Pidrén, so ein Hitzkopf, hat diese wunderbare Matelda nicht nehmen wollen, die stickt, als würde die Madonna ihr die Hand führen, er ist lieber auf und davon mit diesem wüsten Buonaparte …« Aber die Matelda, die an einer Altardecke voller Blumen und Vögel und Schmetterlinge mit violetten Flügeln stichelte, wartete. Vielleicht hatte ihr eine nicht ganz geheure Stimme zur Geduld geraten.

Nicht viele Dinge geschehen im Leben von Giuseppe, der der Giai, der Gelbe, genannt wird. Er spielt Geige, und das ist gewiß eine ungewöhnliche Tätigkeit für einen, der sich um so viele Scheffel kümmern muß, wo zum Teil Wein und zum Teil Viehfutter und Getreide angebaut wird. Sein schönes Profil zur Schulter geneigt, spielt er, spielt abends am Feuer, spielt im Sommer im Schatten des Nußbaums. Die Abende sind lang, feucht, hell, seine Frau langweilt sich, während sie dasitzt und den Tönen zuhört, die auf den Ruf der Nachtigallen zu antworten scheinen, sie mag überhaupt keine Musik außer der Forlana und der Currenta, denn zu denen kann man tanzen. Nie fuhrt jemand sie zum Tanz, und wenn der Giai die falsche Frau geheiratet hat, so hat sie gewiß den falschen Mann genommen: Der Geigenbogen dringt in den Abend ein, zerreißt ihn sacht, der Giai ist ein Einzelgänger, und wenn jemand kommt, sagt er zu seiner jungen Frau, sie solle ihm etwas zu trinken anbieten, während er weiterspielt. Am Tag geht er mit dem Stock, der dem Gran Masten gehörte, über die Felder, aber anstatt anzuordnen, daß man die Garben zudekken soll, wenn ein Gewitter kommt, oder den Kanal vom Gras säubern, versinkt er in die Betrachtung der Hügel, der Rechtecke der Erde, braun, hellbraun, grün, blond, beinahe milchweiß dort, wo im Frühling die Schlehen und die Kirschen blühen.

Eines Abends hat er sich auf den Rand des Brunnens gesetzt, hat dort zu spielen begonnen und dabei den Sternen zugeschaut, wie sie unten in dem runden Wasserspiegel blinkten. Seine Frau ist erschrocken, ist weinend ins Haus gelaufen, er ist mit den Füßen im Leeren sitzen geblieben und hat weitergespielt, und als der Mandrognin zum Garten hereingeschaut und den Oberkörper gesehen hat, der aus dem Brunnen aufragte, da hat er gedacht, der nimmermüde Gran Masten sei zurückgekommen, um Land und Haus zu überwachen.

Was kann man sonst noch erzählen von diesem Giai, der mit dreißig Jahren gestorben ist, mit seiner Geige neben sich, den lockigen Haaren, die den zwei Schwestern aus Moncalvo so sehr gefallen hatten, den Füßen, die derart empfindlich waren, daß sie vom Gehen über die Erdschollen wund wurden? Immer seltener geht er über die Felder, die Ernten werden von Jahr zu Jahr schlechter, und sein Getreide, seine Weintrauben, sogar die Hirse sind immer dürftiger als bei den anderen. So sind die Kühe oft krank, und die Kälber gedeihen schlecht. Seine Frau versucht unablässig zu sparen, rechnet und rechnet, flickt die Kleider, die er zerreißt, wenn er, von plötzlicher Raserei gepackt, durch Gräben und Brombeerhecken geht. Um einem Ton zu folgen, einem Licht, einem Glitzern des Wassers zwischen dem Schilf. Seine Frau schaut ihn an: Er ist fröhlich, lacht, ist schön mit diesem Kopf voller Locken, und dann zittert die Liebe ihr wieder in der Kehle wie beim ersten Mal, als sie allein auf der Steinbank unter den Haselsträuchern gesessen hatten.

Die Familie oben in Moncalvo macht ihr Vorwürfe, es sei ihre Schuld, heißt es, wenn alles so schlechtgeht, warum kriegt sie nicht wenigstens ein Kind? Aber es kommen keine Kinder, und sie denkt, daß die Geige schuld ist, die Saiten, die abends unter den schmalen Fingern des Giai vibrieren. Und wenn er ins Bett kommt und sie auf den Mund küßt, dann schläft sie schon, ist müde, Trauer und Einsamkeit haben sie ausgelaugt bis auf die Seele. Wenn sie in Moncalvo auf Besuch ist, folgt ihr die Schwester mit dem Blick, während sie durch die Zimmer ihrer Mädchenzeit irrt wie ein Spatz, der das Gefühl für die Jahreszeiten verloren hat, der im Winter das Sommerfutter sucht. Keine von beiden weiß, daß das Leben manchmal seltsame Umwege macht und endlose Labyrinthe durchläuft, damit man sich schließlich dort wiederfindet, wo man so leicht hätte hinkommen können.

Inzwischen ist der Pidrén in der Lombardei, in Venetien, in Mantua. Er gelangt bis nach Ägypten, und dort sieht er die Pyramiden und die Mamelucken. Er ist in Marengo. Hoch oben vom Turm, von dem aus der Truppe Signale gegeben werden, betrachtet er die noch schneebedeckten Gipfel der Alpen und die von der Schlacht verwüsteten Felder und Weinberge. Das Haus, in dem er geboren wurde, ist nicht weit, zu Pferd werden es keine zwei Stunden sein, nicht viel weiter als der Hügel von Moncalvo, wo früher das dunkelhaarige Mädchen wohnte, das er so brennend gern geheiratet hätte. Vielleicht sieht auch sie das Aufleuchten der Spiegel, die hoch oben vom Turm Signale weitergeben, und fragt sich, wie wohl die Ernte aussehen wird nach so vielen Sohlen, die das Getreide zertrampeln, ausgerissenen Weinstöcken, Bränden, von denen graue Rauchsäulen aufsteigen. Sie wird schon ein Kind haben, denkt er, vielleicht zwei, ein Mädchen, dem sie bunte Hemdchen näht. Ihm ist, als sehe er den Bruder, der mehr Glück hatte, wie er nach Hause kommt und sie ihm entgegenläuft, vielleicht ist sie rundlicher geworden, hat nicht mehr jene Taille, die aussah, als könne man sie mit einer Hand umfassen, vielleicht hat sie sich in dieser strahlenden Junisonne die Haare gewaschen und sitzt nun auf der Wiese und läßt sie trocknen, die Haare sind so lang, daß sie fast den Boden berühren. Währenddessen zerfetzen die Granaten die Maulbeerbäume, die Uniformen tränken sich mit Blut, bei den Karren, die den Scrivia durchqueren, zerbrechen die Radnaben an den Steinen, die Pferde bäumen sich auf, und die Strömung reißt sie mit. Ramener l’aile droite, signalisieren die Spiegel hoch oben vom Turm herunter.

 

An jenem 14. Juni war der Giai auf den Hügel in Richtung Lu gestiegen, um der Schlacht zuzusehen. Die Straßen waren menschenleer, und der Tag war strahlend klar, er selbst saß geschützt unter einer Reihe Erlen. Er hatte keine Angst vor den versprengten Soldaten und auch nicht vor den Feuern, die in der Ferne prasselten, daß die Funken stoben und wieder neue Feuer entzündeten. Rasche rote Zungen, die im Nu Hütten, Bäume, Insekten verschlingen. Der Propst hätte ihn gern in der Kirche, damit er mit den anderen betet, mit der Maria, dem Mandrognin, dem Scarvé und all jenen, die um die Ernte zittern. Er sitzt lieber hier oben und schaut, denkt an den Bruder, der wer weiß wo ist. Vielleicht mitten zwischen diesen Feuern, vielleicht bei den weißen Wolken, die von den Mörsern aufsteigen. Doch plötzlich wirft etwas Unerklärliches die stille Ordnung seines Körpers über den Haufen, wie wenn man eine Nadel in ein Uhrwerk steckt. Der Atem stockt ihm, die Hitze, die Hitze, denkt er, während die Sehkraft schwankt, jene Brände wie Sterne an einem Firmament aus Rauch. Die Hände suchen Halt; gleiten am Stamm der Erle ab, der Kopf schlägt hart auf den Boden auf.

Die Matelda zuckt oben in Moncalvo zusammen, die Nadel rutscht ihr aus den Fingern und sticht sie, die Luison erschrickt, als sie sie so bleich sieht. Sie zittert am ganzen Leib, die Matelda, den Kopf auf die Lehne zurückgeworfen, die Augen erloschen unter der gewölbten, bleichen Stirn, an der die Schädelknochen kaum hervortreten. Fast als könne sie durch den unter den Erlen hintenübergesunkenen Leib des Giai hindurchblicken, nimmt sie seinen rasenden Herzschlag wahr. Sie sieht das Labyrinth der Adern, das krampfhafte Zucken der Eingeweide, und ein Klagelaut kommt von ihren Lippen.

Der Giai fühlt nichts mehr. Wo er mit dem Kopf aufgeschlagen ist, hat sich eine kleine Blutlache gebildet. Oben in Moncalvo sucht die Luison hastig nach Essig, um die Matelda aus ihrem Zittern aufzurütteln, sie ruft, aber an jenem Tag der großen Schlacht haben alle an anderes zu denken als an die Schreie der Luison, die nach Essig sucht. Der Hut des Giai ist an den Fuß der Erle gerollt, sein engelsblonder Kopf ist jetzt strohig, versengt, grau der Mund, aus dem in vielen Bläschen der Speichel quillt. Es fehlte nicht viel, und er wäre an jenem Tag gestorben, am 14. Juni.

Doch waren dies nur erste Anzeichen, und als der Giai die Augen wieder aufschlug, dachte er an ein Unwohlsein, das durch die Hitze, durch die Aufregung wegen der Schlacht verursacht worden war. Die Feuer erloschen nach und nach, und nun herrschte rundum eine große Stille, der Wind hatte sich gelegt, und die Luft war frisch. Er hob den Hut auf und ging heim, um ein Glas Wein zu trinken, der Maria sagte er, er sei hingefallen, und sie wusch ihm die Wunde aus, das Blut war noch nicht geronnen und tropfte ihr aufs Kleid. Und ein paar Tage später waren alle verwundert, daß die Matelda durch den Tambiss, der als fliegender Händler Unterhosen verkaufte, nach dem Giai fragen ließ.

Die Maria streicht über das Leinen, es ist glatt, dünn, man wird gar nicht spüren, daß man es anhat: »Wir sind wohlauf, alle wohlauf«, sagte sie. »Alle?« – »Alle, alle …« – sie dreht und wendet die Unterhose zwischen den Fingern, der Tambiss lächelt ihr mit einem Zwinkern zu: »Gefällt sie dir?« Sie wird rot und wirft die Unterhose in den Korb zurück. Dummes Zeug, Zeug für Generalinnen und Gräfinnen. Der Tambiss erzählt jetzt von General Melas’ Österreichern, die Feldlager und Pferdefutter fluchtartig zurückgelassen haben. Tote, Tote überall, und diese franseis del diavu, diese Teufelsfranzosen, stehlen den Wein aus den Kellern, hissen auf den Kirchtürmen die dreifarbige Fahne. Pflanzen den Freiheitsbaum.

Der Pidrén ist schon weit weg auf seinem Pferd mit der karierten Decke und dem abgenutzten Sattel. Sein General ist in der Schlacht gestorben, und er hat draußen auf einer Bank gewartet, während der ruhmreiche Desaix auf ein Lager gebettet wurde und man nichts mehr für ihn tun konnte, die Soldaten kamen und gingen. Mit dem Kopf zwischen den Händen hat er geweint. Danach hat er nicht einmal Zeit gehabt, noch zu Hause vorbeizuschauen und den Bruder zu umarmen, den er seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Keine Zeit und vielleicht auch keine Lust.

Der Tambiss hat ihn wiedererkannt, während er durch Serravalle kam und sein Pferd am Zügel hinter sich herzog. Sein einer Arm war verbunden, und wer weiß, vielleicht würde er zum Oberst ernannt werden, womöglich sogar zum General: »Bei den Franzosen weiß man nie, was alles passieren kann«, sagt er zur Maria und erzählt, daß der Pidrén so schön war, daß er aussah wie Napoleon persönlich mit dem Säbel, der ihm an der Seite rasselte. In der Küche stehend, lauscht die schöne Frau vom Giai begierig seinen Worten, und der Tambiss muß die Geschichte zwei, dreimal wiederholen, sie schenkt ihm Wein nach, und der Tambiss zieht den Stuhl heran und setzt sich, und wo die Geschichte ihm dürftig erscheint, erfindet er. Die Maria will wissen, wie die Uniform aussah, wie der Rock, die Sporen: »Und der Hut?« – »Hut hatte er keinen. Er trug die Haare lang und offen wie ein Mädchen.«

Die Gonda ist mit einem Arm voll Wäsche hereingekommen, die sie auf der Wiese eingesammelt hat, die Maria hat sie mit glänzenden Augen angeschaut. Der Pidrén war in der Marengo, hat sie zu ihr gesagt; und während die Gonda vor Überraschung die Wäsche fallen läßt, geht sie hinaus, läuft bis zur Straße und schaut in Richtung Serravalle, der Ebene von Alessandria, Marengo. Nie ist ihr das Land dort so schön erschienen, mit den Schatten, die violett die Hügel herabkommen, der vom Staub weißen Straße, auf der sie nun entlangrennt, bis ihr der Atem ausgeht, bis ihre Kleider schweißnaß sind, während die Luft ihr in die Ärmel fahrt und sie aufbläht.

Aber der Giai ist wieder ohnmächtig geworden. Zwei-, dreimal. Eines Abends schließlich haben sie ihn auf den Armen zum Karren getragen, und schwankend haben die Ochsen sich zwischen den Erdschollen in Bewegung gesetzt. Mücken haben ihn gestochen, ohne daß er sich wehren konnte, ein Nagel des Karrens hat ihm die Schulter aufgerissen. Er hat sich ins Bett gelegt und ist nicht mehr aufgestanden: Durchs Fenster sieht er die Äste des Nußbaums, die Blätter, die die Scheiben streifen, werden gelb, rollen sich ein, der Wind reißt sie eines nach dem anderen herunter, zwischen den wenigen, die noch übrig sind, erscheint grau der Herbsthimmel. Morgens fließt der Nebel in langsamen Tropfen die Zweige entlang, dazwischen erkennt man das Haus, das mit seiner fensterlosen Mauer den Garten abschließt.

Das Zimmer ist groß, das Bett weich und weiß bezogen, die Matelda ist aus Moncalvo heruntergekommen, um der Schwester zur Hand zu gehen, und sitzt nun auf einem Schemel zu Füßen des Bettes. Sie hat zu sticken aufgehört, und ihr Schritt ist leicht, sie hat kühle, rundliche, flinke Hände. Vom Bett mit den makellos glattgezogenen Laken aus folgt ihr der Giai mit dem Blick, sein Kopf ähnelt immer mehr dem Kopf des pfeildurchbohrten heiligen Sebastian neben dem Altar. Geige spielt er nicht mehr, sie steht neben dem Bett im verschlossenen Geigenkasten, und die Motten zerfressen schon das rote Tuch.

Die Matelda ist unverheiratet und wird auch nicht mehr heiraten, alle nennen sie schon die Fantina, die Jungfer, und ihr gefällt dieser Spitzname, es scheint ihr, als habe er einen viel süßeren Klang, Mit den Jahren hat ihr Gesicht das bißchen Farbe, das es besaß, verloren, und ihre Augen gleichen zunehmend denen auf bestimmten Porträts, bei denen der Betrachter nicht weiß, wohin sie blicken, die sehen, aber niemals schauen. Wenn jemand zu Besuch kommt, verläßt sie schweigend das Zimmer, nur ein Duft nach Lavendel und Minze bleibt zurück, und geht hinunter, um die Wäsche vom Giai zu bügeln, die ordentlich gefaltet in einem Korb liegt. Die Maria stützt die Ellbogen auf den Tisch, an dem sie mit aller Kraft auf das Eisen drückt, und will wissen, was sie und der Giai miteinander reden, immer zusammen dort in dem Zimmer. Nie hört man ein Geräusch, ein Lachen oder ein Klagen aus jener Tür über der Treppe kommen. Die Matelda zuckt die Achseln, geht vom Herd zum Tisch, rasch tauscht sie ein Eisen gegen ein anderes aus, befeuchtet den Finger mit Speichel, um zu prüfen, ob es heiß ist, auf ihrer stumpfen Haut verhallen die Fragen, werden ungreifbar wie ihre Gedanken, nichtssagende Wörter kommen aus ihrem Mund.

Die Maria weiß, daß eigentlich sie jenes Eisen nehmen, es ihr aus der Hand reißen und selbst die Hemden vom Giai bügeln müßte, sie ihm selbst ins Zimmer bringen und über jenen Körper gleiten lassen müßte, der jeden Tag magerer wird. Und doch wagt sie es nicht, es ist, als hätte sie nicht die Kraft und als wäre jenes Eisen so schwer, daß es ihr den Arm zerbricht. Nachts, wenn ihr Mann neben ihr einschläft und sie einmal versucht, ihn zu streicheln, seine Hand zu berühren, zieht der Giai sich langsam zurück. Sie liegt dann noch lange mit offenen Augen da und betrachtet das Flackern der Kerze. Die Schatten.

Sie hat nun viel zu tun, um die Landwirtschaft in Gang zu halten, alle wollen sie bestehlen, ihre Gesichtszüge sind ausgeprägter geworden, ihre Augen größer, die Haut spannt über den Jochbögen. Wenn sie auf die Felder hinausgeht, wickelt sie ihr Gesicht ein, damit die Sonne es nicht verdirbt, aber etwas Unreifes, etwas nicht Aufgegangenes läßt den Glanz ihrer dreiundzwanzigjahre rosten. Niemand weiß, ob sie eifersüchtig ist, daß die Schwester immer dort neben ihrem Mann sitzt mit diesen Händen, die bei jeder Berührung einen leichten elektrischen Schlag verursachen. Zuweilen wird ihre Stimme rauh, dann wieder leicht wie damals, als sie ein Mädchen in Moncalvo war.

Der Giai wird sterben, eigentlich hätte er schon längst sterben müssen, nur ein Faden hält ihn noch am Leben, der an Mateidas Fingern hängt. Sie heißt nun überall die Fantina und wischt ihm mit einem in lauwarmes Wasser getauchten Tuch das Gesicht ab, rasiert ihn, der Zeigefinger fangt die Seife auf, die ihm die Wangen hinunterläuft, ihr Gesicht ist seinem so nah, daß der Giai ihre Atemzüge spüren, tief in ihre Iris eintauchen kann, die mit herbstlichen Blättchen gesprenkelt sind, so wie manche im Dunkeln gewachsenen Pflanzen, auch wenn sie gar keine Farbe haben. Sie kämmt ihm die blonden Locken, die fein und schütter geworden sind, trocknet einen letzten, auf dem Hals vergessenen Wasserspritzer. Nach Lavendel duftende Finger, die weinen und lächeln können, sagen das, was die Stimme nicht auszudrücken vermag. Der Giai läßt sie nicht los mit dem Blick, versäumt keine Bewegung von ihr, keinen Seufzer; und wenn sie, in ihre Gedanken versunken, am Fenster stehenbleibt, betrachtet er ihre Gestalt, die sich vor den Ästen des Nußbaums abhebt, den Nacken, die aufgesteckten Haare. Den Rücken, der sich rund zum Leben hinbeugt. Wer weiß, wie dieser Rücken unter dem grauen Kleiderstoff ist, die kleinen Wirbelknoten.

Nachts schläft die Fantina in dem Zimmer am Ende des Flurs, und das Bett ist so schmal, daß sie sich nicht einmal umdrehen kann.

 

Drei Jahre hat es gedauert, drei Winter brannte der Ofen, und die Fantina saß auf dem Schemel und tat nichts. Einmal, im Sommer, kam die Nachricht, daß der Pidrén zurückkehren würde. Es war ein halb auf französisch geschriebener Brief, in dem von Preußen und Sachsen die Rede war und von einem seltsamen Ort namens Einsiedel. Mit einer Landkarte, die ihnen der Propst geliehen hat, haben sich die Schwestern auf die Suche nach diesem Ort gemacht, indem sie mit dem Finger Flüssen und Ebenen und braun angemalten Bergen nachfuhren, aber es ist ihnen nicht gelungen, dieses Einsiedel zu finden. Draußen in der Augusthitze krümmen sich erschöpft die Blätter, und die Wespen stürzen sich auf die ersten reifen Weintrauben unter der Pergola, in seinem Zimmer im Obergeschoß zieht der Giai an der Schnur der Glocke, die im Treppenhaus hängt, um die Fantina zu rufen, er hält es inzwischen keine halbe Stunde mehr ohne sie aus. Die Fantina läßt den Finger, der auf der Karte den Weg des Fähnrichs zu Pferd verfolgt, schleifen, zum erstenmal scheint der Schmerz ihre fahle Pergamenthaut zu zerreißen, und in ihren Augen, die starr auf die Maria gerichtet sind, verdichten sich Schmerz und Trauer um die Stunden, die es nie gegeben hat und nie mehr geben wird. Nie werden sie zusammen in den Feldern sein, nie sich küssen und Körper auf Körper spüren. Nie, nie. Sich an die Gräben setzen und lachen, vor Freude lachen: »Warum hast du dir den Pidrén nicht damals genommen, Gott, warum?«

Die schöne Maria schaudert vor Furcht bei jedem Blick: »Ich, den Pidrén?« fragt sie kleinlaut. Aber schon hat die Fantina ihr den Rücken gekehrt, läuft eilig die Treppe hinauf, öffnet die Tür, vom Bett aus hebt der Giai den Kopf: An jenem Tag, an dem er gemeinsam mit dem Bruder oben in Moncalvo ankam, um sich eine Frau zu nehmen, war er wie die Lerche, die das blitzende Spiel der Spiegel verrückt gemacht hat. Verzeihung, Matelda, Verzeihung.

 

Als Giuseppe, genannt der Giai, starb, wurde nach dem Pidrén ausgeschickt. Sogar der Maire von Casale verwendete sich beim Unterpräfekten Monsieur La Ville für die Sache, und die Maria legte mehrmals in Begleitung der Schwester die Strecke in die Stadt zurück. Es war Winter, und auf ihre Umhänge legte sich der Schnee, die Kalesche war inzwischen so klapprig, daß sie gar keinen Schutz mehr bot. Die Maria hatte einen schlimmen Husten, aber dennoch gefiel sie Monsieur La Ville sehr, und er versprach, er werde sich sofort dafür einsetzen, daß der Pidrén zurückkomme. Doch als der Unterpräfekt sie zum drittenmal empfing, hatte er immer noch keine Nachricht, und der Pidrén schien sich aufgelöst zu haben auf der Landkarte, die bei Monsieur La Ville auf dem Tisch ausgebreitet lag und auf der er Einsiedel gewiß sofort gefunden hätte. Aber diesen Namen, Einsiedel, den hatten die beiden Schwestern vergessen. Monsieur La Ville überhäufte die Maria mit Komplimenten und lud sie ein, doch wiederzukommen; bevor sie fortging, schenkte er ihr eine silberne Tabaksdose, ein Erinnerungsstück an die Krönung Napoleons. Aber nun konnte die Kalesche keine einzige Fahrt mehr überstehen und harrte im Schuppen neben den Ställen eines willigen Stellmachers, der bereit war, sie im Tausch gegen Holz abzuholen.

Das Zimmer vom Giai wurde abgeschlossen, und die Fantina nahm die Geige in dem rot ausgeschlagenen Geigenkasten mit in ihr Zimmer. Das Land, wurde beschlossen, sollte dem Mandrognin anvertraut werden, während die Maria sich weiterhin um die Ställe kümmern würde; und die Fantina begann wieder zu sticken. Jeden Mittwoch ging die Maria den Giai auf dem Friedhof besuchen, begleitet von der Gonda, die den Giai liebgehabt und ihn, als er noch klein war, im Arm gehalten hatte. Eine ging voraus und die andere hinterher, die Maria brachte Blumen mit, und wenn sie keine Blumen auftreiben konnte, begnügte sie sich mit ein paar Zweigen mit roten Beeren. Manchmal erlaubte ihr die Signora Bocca, die gegenüber von der Kirche einen üppigen Garten besaß, von den beiden großen Magnolienbäumen am Gartentor einige Blätter abzupflücken. Und in dem Nebel, der die Gonda hinter ihr jeden Augenblick zu verschlucken schien, kamen der Maria diese glänzenden, harten Blätter noch dunkler vor. Die Gonda ging Wasser aus dem Brunnen heraufziehen, und der Friedhofswärter, auf einem der Steine sitzend, die die Gräber bezeichneten, redete immer davon, wie schön die Beerdigung vom Giai gewesen sei, mit der Sonne und den Tauben, und wie fluchbeladen dagegen die vom Gran Masten. Gott, sagte er, versteht es, den Tag auszuwählen, an dem die Menschen sterben müssen.

Die Fantina ging nie auf den Friedhof, denn in den drei Jahren, die sie in dem Zimmer vom Giai verbracht hatte, war jeder seiner Atemzüge von ihr aufgesogen worden und mit dem Atem die Seele. Das, was nun in der Erde lag, war nichts mehr, sagte sie, weniger noch als die leeren Larvenhüllen, die man im Frühjahr im Gras zertritt, wenn die Insekten davongeflogen sind. Der Maria und der Gonda stockte das Blut in den Adern, wenn sie solche Reden hörten; in der Stille, die folgte, kam es allen beiden so vor, als hörten sie die Geige des Giai spielen wie an den Sommerabenden. Und nach einem dieser Gespräche kam es der Maria in den Sinn, sie könnten die Luison oben in Moncalvo auffordern, wieder mit ihnen zusammenzuleben.

 

Die Luison ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie hatte die Fantina und die Maria ja großgezogen und immer mit den beiden gelebt, seit sie ihr Dorf, das flach wie ein Taschentuch zwischen Udine und Cividale lag, verlassen hatte, um in die Fremde nach Moncalvo zu gehen.

Sie erinnerte sich noch an jene Reise, die über eine Woche gedauert hatte, während der Mais hoch stand auf den Feldern und die Rebstöcke grün zwischen den Furchen die Hänge herunterwuchsen. Die ersten Zikaden begleiteten das Getrappel der Pferdehufe, und der Cousin, der den Wagen lenkte, hatte ununterbrochen die Landschaft, die Hügel, die Häuser schlechtgemacht und die widerspenstigen Tiere angetrieben, auf dem unwegsamen Boden weiterzugehen. Die Luison war fünfundzwanzig Jahre alt und hatte so glänzende dicke Zöpfe, wie sie in Moncalvo noch niemand gesehen hatte. Von Kopf bis Fuß mit Staub bedeckt, thronte sie hoch oben auf ihren Möbeln, und die Leute hatten sich nach ihr umgesehen und sich gefragt, wer wohl dieses große kräftige Mädchen sei, das daherkam wie die heilige Kunigunde, die zum Martyrium geführt wird. Je weiter der Karren ins Dorf hineingefahren war, um so mehr waren der Luison die Tränen heruntergelaufen beim Gedanken an ihre Heimat voller Wälder und Farne, wo das Wasser klar über die Felsen sprang; und sie fragte sich, wie ihre Schwester es fertiggebracht hatte, an einem derartigen Ort, unter so anderen Menschen glücklich zu sein. Die Tränen waren dann in hemmungsloses Weinen übergegangen, als sie die Schwelle der Haustür überschritten und die beiden Kinder zusammen auf dem Kanapee hatte liegen sehen, den Kopf voller Grinde und in einem Gestank, der einem den Atem nahm. Eines, die Matelda, konnte gerade laufen, und das andere, die Maria, war bis zum Kinn in Windeln gewickelt.

Eine ängstliche Mutter war die Luison gewesen, manchmal verdrießlich und manchmal lustig, sie hatte den beiden Kindern deutsche Lieder vorgesungen – die hatte sie von den Soldaten gelernt, die in den Wäldern rund um ihr Dorf lagerten – und Stoffpuppen genäht aus jedem Restchen, das im Haus zu finden war. Stoff von alten Schürzen, von zerschlissenen Laken. Sie machte den Puppen Augen und einen roten Mund, ein großes buntes Kinn, das den Äpfeln dort in ihrer Gegend glich. Der Schwager wollte sie heiraten, um den Gerüchten ein Ende zu setzen, die im Dórf aufgekommen waren. Er war noch jung, und es schien ihm richtig, der Luison eine Anerkennung, eine Stellung anzubieten. Aber sie hatte nicht gewollt. Sie sagte, gewisse Dinge lägen ihr nicht, sie fühlte die »Natur« nicht. Männer stießen sie nicht ab, zogen sie aber auch nicht an, sie wollte sie nicht, und fertig. Sie wollte nur ihre mit Blumen und Vögeln bemalte Truhe, das Klöppelkissen, die Maria und die Matelda. Von ihnen ließ sie sich umarmen und küssen, ihnen erlaubte sie, mit ihr unter die Decke zu schlüpfen, um sich an ihrem großen, lauen Leibe aufzuwärmen. Und wenn man sie genau betrachtete, verstand man, daß ihr trotz ihrer kräftigen Formen, trotz ihres breiten Rückens etwas fehlte. Wenn sie sich die Haare wusch und der Schwall der aufgelösten Zöpfe offen von der steinernen Bank herabhing, erinnerte sie an bestimmte Heldinnen wie Genoveva von Brabant, die einige Zeit ihres Lebens im Wald bei den wilden Tieren zugebracht hatten, weil sie sich mit den Tieren wohler fühlten als mit den Menschen. Als fehlten auf ihrer Tastatur jene Töne, die eine vollkommene Musik ermöglichen. So konnten die beiden Kinder mit der größten Freiheit die Zärtlichkeit ihrer Umarmungen genießen, doch wenn jemand sie mit dem Ellbogen anstieß oder ein Bein sie unter dem Tisch streifte, fauchte sie durch die Nase wie eine Katze. Und wenn ihr Bild mit den beiden auf den Knien einen rühren konnte wegen der schüchternen und offenherzigen Sanftheit der Bewegungen, enthüllte ihr Körper, kaum daß sie sich aufrichtete oder die Kinder von ihrem Schoß glitten, unvermutet die Plumpheit der Gelenke, das Fehlen von Flüssigkeit.

 

Nun ist die Luison erneut bei ihnen, noch einmal sind ihre Truhe, ihre noch ein wenig älter gewordenen Möbel auf- und abgeladen, die Treppe hinaufgetragen worden. Aufs neue bricht ihre leicht dröhnende Stimme das lange Schweigen der Abende. Ihre eifrigen Hände nageln Holz dorthin, wo die Scheiben fehlen und das Geld, um welche zu kaufen, sie rühren die Polenta im Kessel, damit sie locker wird wie eine Creme, die Luison stellt sich dabei auf einen Hocker, um mehr Kraft aufzubringen, und manchmal singt sie. In dem Haus voll großer Leere verfliegen ihre Lieder, alte Lieder der österreichungarischen Soldaten, die vielleicht auch ihr selbst unverständlich sind, wie ein Vogelflattern.

Die Fantina stickt, das Meßgewand, das die Signora Bocca für die Kirche San Michele in Auftrag gegeben hat, muß das schönste werden weit und breit, und am Wohnzimmerfenster sitzend, verbringt sie jede Stunde, die es hell ist, am Stickrahmen. In die Mitte hat sie einen Lockenkopf gezeichnet, und die Haare stickt sie mit Goldfaden, die Augen mit blauen Seidenfäden. Das, sagt sie, sei der Kopf des Jesuskindes, während die Engel, die ihm zur Seite erscheinen, der Erzengel Michael und sein Gefährte, der Erzengel Gabriel, sind.

Deren Gesicht sieht man nicht, weil die Fantina sie von hinten zeigen will, bereit, Hand in Hand in den Himmel aufzusteigen. Der Erzengel Michael trägt eine lange rote Tunika, hat offene Haare bis zu den Schultern, dichtgefiederte Flügel wie die der Adler und hält das Silberschwert hoch, während die Lilie des Erzengels Gabriel zu schwanken scheint, so fein ist sie, von blassen lila Reflexen umspielt. Und aus der Tunika sehen zart und schmal seine Fersen mit ein paar winzigen Blutstropfen darauf hervor.

Warum der Erzengel Gabriel Blut an den Fersen hat, kann sich niemand erklären, auch der Propst nicht, dem der kalte Schweiß ausbricht, wenn er das Meßgewand anschaut, das er eines Tages wird tragen müssen. Das Blut ist da, sagt die Fantina, weil ich es gesehen habe. Wo, wann, daran erinnert sie sich nicht, aber sie hat es gesehen. Vielleicht, sagt sie noch, kommt es von den Schlehen und Brombeersträuchern, denen der Erzengel auf der Erde begegnet ist, als er hinging, um der Jungfrau Maria die Botschaft zu verkünden; und ihre Augen weichen denen des Propstes aus, tauchen bleich unter die Lider.

Es war an einem Septembernachmittag. Gebeugt stickte die Fantina am Fenster, und die Blätter des Birnbaums zeichneten Schatten auf den Stickrahmen, die Fliegen setzten sich auf das Deckengewölbe, das die beiden Brüder mit vier verschiedenen Veduten hatten bemalen lassen. Die Fantina hielt die Füße auf das Querholz des Stuhls gestützt und redete über die Apfelernte: Dieses Jahr, sagte sie, müßte es besser aussehen als im vergangenen Jahr, es sei denn, daß es noch hagelte. Da sie glaubte, sie spreche mit der Maria, war die Luison ruhig eingetreten und blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen: Der Giai stand dort, eine Hand auf das Fensterbrett gestützt, und obwohl es noch heiß war, trug er den Barchentanzug und einen Schal um den Hals.

Es war so selbstverständlich, hatte die Luison später gesagt, daß sie beinahe angefangen hätte, auch mit den beiden zu reden … Aber jetzt, wenn sie es recht bedachte, war doch etwas seltsam an ihm: die Hand. Sie war ganz zerkratzt. Die Maria hatte zu weinen begonnen, die Tränen waren die verhärmte Kurve ihrer Wangen hinuntergerollt, sie wußte, was diese Kratzer bedeuteten, und nun, als die Luison erzählte, wie schön der Giai war mit dem geneigten Kopf und diesem Schal, der ihm lang bis zum Knie hinunterfiel, litt sie bei der Erinnerung, empfand aber auch ein heftiges Verlangen nach ihm.

»Mit den Toten Umgang zu pflegen ist nicht gut«, hatte der Propst gesagt. Der Gedanke, daß das Meßgewand, an dem die Fantina so endlos stickte (sie würde zehn Jahre dazu brauchen), für ihn bestimmt war, bereitete ihm Unbehagen. Ihm schien, als würde es ihm dann später bei der bloßen Berührung den Rücken verbrennen. Und dennoch hat man noch nie ein solches Meßgewand gesehen, auf dem die Rottöne wie Rubine leuchten und das Gold einen beinahe blendet. Die Lilie des Erzengels Gabriel hat Blütenblätter, die sich bei der Berührung aufzulösen scheinen, so leicht sind sie, während das Schwert des Erzengels Michael Sonnenglanz aussendet. Der Propst setzt sich neben die Fantina, die Toten, die ins Fegefeuer kommen, erklärt er ihr, sind dort, weil sie irgendeine Schuld büßen müssen, alle haben wir unsere Sünden, aber wenn sie dann gestört werden, müssen sie Hunderte und Aberhunderte von Jahren länger im Fegefeuer bleiben.

Er ist noch jung, der Propst, hat einen dunklen Bart, bei dem er gar nicht nachkommt mit Rasieren; von jenem Haus voller Frauen wird er angezogen wie die Stechmücke vom Wasser, er geht herum und hält inne, dreht die Augen zum Himmel, als die Gonda kommt und ihn mit ihrem nach verfaulten Zähnen riechenden Atem unterbricht. Die Fantina sieht ihn gleichmütig an, sie, die niemals schön war, hat nun eine blühende Gestalt, glatte und pralle Haut, einen runden Hals, sie beugt sich zum Propst vor, befeuchtet sich die Lippen.

Gott, welche Listen der Teufel erfindet! Der Propst springt ruckartig auf, stolpert über den Stuhl, jenes Meßgewand auf dem Stickrahmen riecht nach Schwefel. Vielleicht ist es das Gold, vielleicht die Seide. In der Küche rührt die Maria das Traubenmus über dem Feuer, sie hat die Ärmel aufgekrempelt, und der Dampf macht ihre Haare naß, klebt ihr den schwarzen Baumwollstoff des Kleides an den Körper. »Und vom Pidrén keinerlei Nachricht?« fragt der Propst mit ersterbender Stimme. Sogar die Luison, die die Fünfzig überschritten hat, läßt blendendweißes, unversehrtes Fleisch durchschimmern, während sie der Maria hilft.

 

Der Pidrén ist in Einsiedel. Er hat ein wenig Deutsch gelernt und wird vielleicht die Tochter eines reichen Talgkaufmanns heiraten. Er hat viele Bräute gehabt, eine in Amiens und sogar eine in Sevilla, aber keinmal war es wirklich endgültig. Und auch jetzt, wenn er daran denkt, daß er den Rest seines Lebens in diesem windumwehten grauen Ort verbringen soll, durch den ein Strom von Pilgern fließt, scheint ihm, als sei Einsiedel dazu bestimmt, nur ein Durchgangsort zu sein, eine Poststation. Besser, sich auch diese Margarethe, die wie Milch und Honig ist, aus dem Herzen zu reißen, samt dem Haus, das an dem Marktplatz liegt, wo Kutschen aller Art hin und her fahren und Herzöge und Prinzessinnen in weiten dunklen Umhängen daraus aussteigen, um in die alte Kathedrale zu gehen und sich dort der Länge nach auf den Fußboden zu werfen. Besser, wieder das Pferd mit der karierten Decke zu besteigen und auf die große Gelegenheit zu hoffen, die ihn zum General machen wird. Zar Alexander hat mit Napoleon gebrochen, und der Kaiser klaubt sich in ganz Europa Truppen zusammen, der Zar ist märchenhaft reich, und es geht die Rede von Kirchen mit Giebeln, die mit Goldplättchen geschmückt, von Zimmern, die mit Lapislázuli getäfelt sind. Wer dort als erster die Türen der Klöster aufbricht, wird so viele Reichtümer vorfinden, daß er gar nicht genug Pferde haben wird, um sie fortzuschaffen.

Manchmal fällt ihm noch der Giai ein, und er stellt sich vor, daß er nun schon große Kinder hat und man gar nicht nachkommt mit dem Aufschneiden des Brotes, mit dem Melken der Milch, und daß die Gonda, immer noch älter, auch ihnen das Lied vom Hinkenden Ferkel vorsingt. An sie, die Maria, denkt er nicht mehr. Er hat sie vergessen und begreift auch nicht mehr, wie er so hat leiden können, als sie ihm den Bruder vorgezogen hat. Er weiß nicht, daß der Giai tot ist, begraben neben dem Gran Masten an einem Sonnentag, an dem weiße Tauben umherflogen, und daß im Haus viele Zimmer abgeschlossen und die zerbrochenen Scheiben durch Holz ersetzt worden sind, und die Stille manchmal so tiefist, daß man das Klopfen der Holzwürmer vernimmt.

Manchmal. Denn in anderen Augenblicken läßt sich dagegen wieder fein und leise quietschend die Geige des Giai vernehmen. Der Winter ist gekommen, und zu bestimmten Stunden wird die Fantina unruhig, läßt die Goldfaden ihrer Stickerei fallen. Die Maria tut so, als hörte sie jenen Ton nicht, es wird allmählich dunkel, und die Knechte haben sich mit ihren Familien im Stall eingeschlossen, sie sitzt am Tisch und spielt Reversis oder Brisque mit dem Mandrognin, der ihr gegenübersitzt. Die Luison ist taub, und jener Ton, denkt sie, sei der Wind, auch wenn der Nebel so dicht ist, daß er nicht einmal einen Hauch durchläßt, vom Wind.

Der Mandrognin ist in die Maria verliebt, aber ihr bedeutet weder der Mandrognin noch sonst einer etwas, und sie gäbe jetzt zehn Jahre ihres Lebens dafür, wenn sie nur einen einzigen Tag lang zurückkehren könnte zu der Zeit, als der Giai ihr Gesicht zwischen die Hände nahm und sie auf den Mund küßte, oder sie auf seinem Körper aufnahm, als wäre ihr Bett ein großer weißer Fluß. Vom Pidrén haben sie nichts mehr gehört, vielleicht ist auch er tot, von irgendeinem Bajonett aufgespießt, Monsieur La Ville ist nach Paris zurückgekehrt, und seine Tabaksdose ist für eine unbestimmte zukünftige Generation beiseite gelegt worden. Vielleicht für einen Sohn vom Pidrén, falls er irgendwo einen hat.

Der Mandrognin hat es wieder falsch gemacht, und die Maria schilt ihn, er neigt ergeben den Kopf; und während er ihre von der Kälte angegriffenen Hände betrachtet, denkt er, daß er versuchen könnte, eine davon zu berühren, wenn sie nicht so oft herumschreien würde. Daß er sich für jene Arbeiten anbieten könnte, die hartnäckig sie verrichtet, stur und ungeschickt. Er hat ihr einen halben Laib Käse mitgebracht, und die Maria hat sich zerstreut bei ihm bedankt, als stünde ihr sowieso alles zu. Wegen ihres unglücklichen Lebens, ihrer Jugend, die so bitter dahinschwindet. Aber dem Mandrognin ist es recht so, ihm genügt es, sie anzusehen, zu wissen, daß sie weiter mit diesem Heißhunger essen wird, der ihr geblieben ist. Er sieht ihr abgemagertes Gesicht, den schmalen Hals, die Schultern, die Angst verraten wegen des Geigentons, ein Ton, der auch ihm weh tut, und rasch sammelt er die Karten ein, mischt sie lange. Wenn die Maria nur nicht weggeht, ihn nicht allein läßt mit der Luison, die auf ihrem Stuhl vor sich hindämmert, dem Feuer, das langsam verglimmt. Den dunklen, kalten Ecken.

 

Was dem Pidrén während des Rußlandfeldzuges zugestoßen ist, hat keiner je erfahren. Nie hat man herausgefunden, wie er da entkommen ist und ob er im Tausch für die Rettung seine Seele an den Teufel hat verkaufen müssen. Das Gemälde, das ihn mit der Goldkette quer über seiner Weste an den samtbezogenen Sessel gelehnt zeigt, weist keinerlei Spuren seiner napoleonischen Vergangenheit auf. Aber jenes Bildnis wurde gemalt, als er schon fortgeschritten war in den Jahren und die Geschichten von seinen Unternehmungen bei den Mamelucken und in Westfalen mehrmals im Monferrato die Runde gemacht hatten.

Er bewahrte an jene Orte und die Schlachten, in denen er dort gekämpft hatte, Erinnerungen, die mit immer mehr Einzelheiten ausgeschmückt wurden, und keiner wagte sie je zu bestreiten. Dem ersten seiner Kinder gab er den Namen Gavriel nach dem Waffenbruder, der ihm in Wagram das Leben gerettet hatte, und das zweite sollte Louis-Charles getauft werden, weil so der General Desaix geheißen hatte, dessen Tod er auf einer Bank sitzend beweint hatte. Das letzte Kind schließlich wurde Gioacchino genannt aus Liebe zu Murat, der nicht gezögert hatte, dem Exekutionskommando ins Auge zu sehen. Sogar von seiner Braut Margarethe wußte man, daß sie gut sang und wundervoll Ostereier bemalte, wozu sie Blütenblätter mit Speichel verrührte. Und daß er die Drittgeborene nicht nach ihr nannte, geschah nur aus Rücksicht auf seine Frau. Viele Jahre lang erhielt er noch Briefe von anderen, die wie er die Feldzüge in Ägypten, in Italien mitgemacht, in Spanien gekämpft hatten. Briefe, die an Schlachten, festlich geschmückte Städte, Raufhändel und Pferde erinnerten.

Aber in Rußland – es war, als sei er niemals dort gewesen; wenn zuweilen jemand davon sprach, verloren sich seine Augen in eine andere Richtung, er wußte nichts von Borodin, Moskau, dem Don, es waren Orte, die einem anderen Erdkreis angehörten. Kutusow? Klang einer nie gehörten Sprache. Sein Körper war voller Narben, und jede hatte einen Namen, erinnerte auf seiner Haut an Wälder und Flüsse, Felder und Heerlager. Keine erinnerte an Rußland, durch Rußland schien er unversehrt durchgegangen zu sein wie ein Teufel durchs Feuer.

Fast sofort erhielt er den Spitznamen Sacarlott (das Sacrediux der Franzosen), weil er leicht aufbrauste, oder, noch wahrscheinlicher, weil alle Scheu vor ihm empfanden und sie ein Schauer überlief, wenn sie ihn unvermutet hinter sich gewahrten. Es war die Luison, die ihn als erste so nannte, als der Pidrén eines Morgens in die Küche trat, während sie gerade ein Huhn mit dem Kopf unter dem Flügel in den Schlaf wiegte, ein Spiel, das den kleinen Gavriel in seinem Kinderstuhl königlich amüsierte. Als sie sich umwandte, sah sie ihn hinter sich stehen, erschrak, und das Huhn fiel ihr aus der Hand und brach sich dabei den Hals. »Sacrediux!« schrie der Pidrén.

 

Er war an einem Abend Ende März zurückgekommen, bald würden sieben Jahre seit dem Tod des Giai herum sein, und die beiden Schwestern waren zusammen mit der Luison schon geraume Zeit mit dem Abendessen fertig. Sie aßen früh, um fünf und manchmal sogar um vier, und je ferner die Erntezeit rückte, um so rascher ging es, denn es kam nur wenig auf den Tisch. Es öffnete ihm der Mandrognin, der gekommen war, um mit der Maria Karten zu spielen, und er machte die Tür sofort wieder zu. Der Pidrén begann wie wild zu klopfen, und je lauter er klopfte, um so verängstigter waren sie drinnen, bis die Maria zum Fenster hinaussah; und obgleich es nicht leicht war zu verstehen, wer dieser Landstreicher war, der nur aus Haut und Knochen bestand, die Füße mit Lumpen umwickelt, und anstelle des Hemdes ein Schaffell umhängen hatte, erkannte sie ihn sofort. Und fiel in Ohnmacht.

Sie hatten in den sieben Jahren ohne allzu viele Gewissensbisse seinen Teil verbraucht, sowohl das, was der Giai zu seinen Lebzeiten auf die Seite gelegt hatte, als auch das, was sie zur Seite hätten legen müssen für den Fall, daß der Pidrén je zurückkäme. Sie hatten sein Land verkauft, sein Saatgut, sein Vieh. Nur die Luison verlor nicht die Ruhe, und zwischen ihr und dem Pidrén entspann sich ein Dialog, der aus raschen, knappen Mitteilungen bestand, aus ja und nein. Dann schlief der Pidrén, der den Kopf auf den Tisch geworfen hatte, um den Tod des Bruders zu beweinen, schlagartig ein. So tief, daß sie ihn erst gegen Tagesanbruch bewegen konnten, ins Bett hinaufzugehen, wo er drei Tage durchschlief und dabei ein Brot an die Brust gedrückt hielt.

Er heiratete die Maria beinahe sofort. Sie wußte nicht, ob sie ihn wollte oder nicht, wagte aber nichts zu sagen wegen jenes Stück Landes, wegen des Saatguts und wegen des Viehs, über das sie keine Rechenschaft ablegen konnte. Er heiratete sie morgens um fünf in einer verlassenen dunklen Kirche mit zwei Kerzen rechts und links vom Altar und dem unrasierten Propst. Die Maria hatte schon einen Ehering am Finger; um für den Pidrén einen zu erstehen, wurde das Schaffell verkauft, das von guter Qualität war. Die Luison kochte Polenta, und der Mandrognin war Trauzeuge, mit so hohem Fieber, daß seine Stirn glühte. Es war ein schöner Tag, und als sie aus der Kirche heraustraten, sah die Maria weiße Tauben, und es schienen ihr dieselben zu sein wie an dem Tag, als der Giai begraben wurde. Die Sonne ließ die Blätter der Magnolien am Gartentor der Signora Bocca glitzern, und die Signora, die immer im Morgengrauen aufstand, spazierte majestätisch umher, gefolgt von ihrem Hündchen. Aber sie schien sie nicht zu sehen.