Inhalt



Dirk van den Boom

Kaiserkrieger: Blutiger Mond

 

Atlantis



Eine Veröffentlichung des
Atlantis-Verlages, Stolberg
August 2017

Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin


Titelbild und Umschlaggestaltung: Timo Kümmel
Lektorat und Satz: André Piotrowski


ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-351-4
ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-538-9

Dieses Paperback/E-Book ist auch als Hardcover-Ausgabe direkt beim Verlag erhältlich.

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1

Er hatte sich gewehrt, und das mit dem gleichen Fanatismus, den auch seine Krieger immer an den Tag gelegt hatten. Als er, blutüberströmt, überwältigt worden war, hatte er geschrien und niemals zuvor hatte Köhler in der Stimme eines Mannes dermaßen viel Hass gehört. Keine Angst. Nicht einmal Verzweiflung ob der unausweichlichen Niederlage. Es war wirklich nur Hass gewesen, in seiner reinsten Form, eine pure Kraft der umfassenden Feindseligkeit und Ablehnung.

Aber Ahk war nur ein Mensch, kein Gott, egal wofür er sich normalerweise hielt. Sein Arm erschlaffte irgendwann, egal wie sehr er sich auch mühte. Er musste sehr durstig sein und der Schweiß rann ihm vom Leib, vermischt mit Blut, dem seinen wie dem anderer. Möglicherweise hatte er sich noch töten wollen, doch dafür war am Ende keine Kraft mehr übrig. Vielleicht hatte einer aus seiner Leibgarde einen solchen Befehl erhalten, doch zum Ende hin war keiner seiner Männer mehr am Leben oder imstande gewesen, den letzten Dienst zu erweisen.

Und so ergriffen sie den König von Zama lebend. Köhler war sich nicht sicher, ob er dies als Segen empfand. Er starrte auf den Maya, wie er gefesselt herbeigeschleift wurde, von Legionären, deren verschlossene Gesichter nichts von dem zeigten, was sie empfinden mussten. Ahk hing in ihren Armen wie ein nasser Sack und doch war er nicht ohne Leben. Er hob den Kopf, als er Köhler sah, und seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln voller Spott. Köhler musste sich beinahe so etwas wie Bewunderung für den gefangenen König abringen, der auch in der größten Niederlage seinen widerwärtigen Charakter nicht verleugnete und bis zum Schluss sich selbst treu blieb.

»Ah, mein Freund«, sagte Ahk leise, als er vor Köhler zum Stillstand kam. »Zeit für Rache, nicht wahr? Du musst lange darauf gewartet haben.«

Ahk sprach sehr langsam und deutlich, wie zu einem Kind, sodass Köhler ihn auch ohne den Dolmetscher verstand, der neben ihm weilte. Ahk wollte, dass seine Beleidigungen und Provokationen ohne Filter beim Adressaten ankamen. Natürlich. Das Ziel war klar. Eine spontane Reaktion des Beleidigten, ein schneller Stoß mit dem Schwert und damit ein rasches Ende. Doch Köhler, der an dem Gedanken, Ahk hier und jetzt einfach umzubringen, durchaus Gefallen fand, ließ sich nicht hereinlegen. Er hatte es sich geschworen, als er mit seinen Männern in der Hauptsiedlung angekommen war, sie sich mit den Kämpfern Langenhagens vereinigten, gemeinsam gegen die Soldaten Ahks stritten und von deren Wildheit und Beharrlichkeit immer wieder aus dem Gleichgewicht gebracht worden waren. Er hatte es sich geschworen, als sie ihn endlich gefunden hatten und gemeinsam zum letzten Kampf angetreten waren. Ahk würde nicht so leicht davonkommen. Er wusste noch nicht genau, was mit ihm geschehen würde, aber ein schneller Tod, ohne für alles Rechenschaft ablegen zu müssen, das war dem König von Zama sicher nicht vergönnt.

Köhler entschied das nicht. Langenhagen tat es. Aber nicht so bald. Der Navarch lag mit einer klaffenden Wunde am Oberschenkel und einem Stich in den Brustkorb unter der Aufsicht der Ärzte in seiner Kabine und er wurde seit der letzten Schlacht immer wieder bewusstlos. Die Ärzte waren zuversichtlich. Köhler machte sich Sorgen. Langenhagen war seit seiner Rückkehr, seinem Erinnern ein wichtiger Bezugspunkt gewesen, um die Realität wiederzufinden. Er betrachtete den Vorgesetzten als Freund und Quell der Zuversicht in schwierigen Zeiten. Er hatte direkt neben diesem gestanden, als ein Berg von einem Mayakrieger, ein Mann breit wie hoch, aus vielen Wunden blutend, sich auf Langenhagen gestürzt und mit einer Wildheit überwältigt hatte, die nichts Menschliches mehr zu haben schien.

Der Angreifer war tot, doch war er nicht gestorben, ohne dem Navarchen beachtliche Verletzungen beigebracht zu haben. Ein Grund mehr dafür, Ahk nicht einfach so zu töten. Wenn Langenhagen litt, dann sollte der König von Zama es nicht besser haben, und wenn dieses Leid auch nur aus der Ungewissheit über das eigene Schicksal bestand. Für jemanden wie Ahk, der zeit seines Lebens über alles und jeden Kontrolle ausgeübt hatte, musste dies eine besondere Folter sein und Köhler hatte die Absicht, diese so lange auszudehnen, wie es ihm möglich war.

»Rache, ja«, sagte er also sanft und lächelte Ahk an, eine Reaktion, die dieser mit einem noch breiteren Grinsen quittierte. »In gewisser Hinsicht ist das wohl richtig. Strafe ist immer auch Rache und Strafe habt Ihr verdient, großer Ahk von Zama.«

»Verletzt?« Ahk sah ihn treuherzig an. »Ein wenig beleidigt? Ungerecht behandelt worden vom bösen Wilden? Ich habe deine Überlegenheit nicht anerkannt und jetzt bist du sauer. Ich nahm dir jede Würde und jetzt bist du bereit, mir die meine zu nehmen.« Ahk lachte kehlig. »Das wirst du nicht schaffen. Ich habe keine Würde. Hatte nie welche. Deswegen bin ich so, wie ich bin. Du kannst mir keinen Schaden zufügen. Du nicht.«

Ahk spuckte aus, ein schleimiger Klumpen aus Speichel und Blut landete direkt vor Köhlers Füßen. Der Römer spürte das plötzliche Verlangen, es hier und jetzt zu beenden und Ahk den Hohn aus dem Gesicht zu prügeln, doch er hatte es sich geschworen, immer und immer wieder, er würde nicht zu dem Tier werden, das Ahk aus sich gemacht hatte. Er war nicht wie er.

Niemals!

»Es geht hier nicht um Schaden, den ich Euch zufügen möchte, edler König. Nichts, was ich täte, wäre ein passender Ausgleich und der Tod eine Erlösung für Euch. Wir machen es anders. Wir haben die Angewohnheit, die Wahrheit in einem Verfahren zu klären und dann ein Urteil entsprechend unseren Gesetzes zu fällen.«

»Deine albernen Gesetze gelten nicht für mich. Ich bin ein König!«

Köhler nickte gemessen. »In der Tat. Es gibt Rechtsgelehrte, die Euch deswegen Immunität zubilligen würden. Daher steht es uns nicht zu, ein Urteil zu fällen. Wir werden dafür sorgen, dass geeignete Autoritäten über Euer Schicksal befinden.«

Für einen Moment trat so etwas wie Unsicherheit in Ahks Gesichtsausdruck. Oder war es eher Misstrauen? Köhler wusste es nicht recht abzuschätzen.

»Du redest wirr, Köhler. Meine Gastfreundschaft scheint dir nicht gut bekommen zu sein.«

Wieder bedurfte es eines Moments, um den aufwallenden Zorn unter Kontrolle zu bekommen. Köhler entsann sich mittlerweile sehr gut an alle Details dieser Gastfreundschaft und alle Narben, die sichtbaren wie die unsichtbaren, würden ihn für den Rest seines Lebens daran erinnern.

»Ihr kommt in Haft, edler König. Es gibt einen Raum dafür an Bord eines unserer Schiffe. Ihr dürft diesen Raum nicht verlassen und erhaltet Nahrung. Ihr werdet dort verbleiben, bis unsere Expedition in die Heimat zurückkehrt. Dort werdet Ihr vor Gericht gestellt, ein würdiges Gericht und vor allem ein neutrales, unparteiisch. Legitimiert, und das mehr als jeder von uns.«

»Heimat?«

»Über das große Wasser, den Ozean, bis nach Rom.«

Jetzt war plötzlich Angst zu sehen. Zama mochte als Hafenstadt mit dem Meer vertraut sein und der König natürlich auch, aber der Gedanke, diese endlos erscheinende Weite überqueren zu müssen, in ein fernes Exil, ohne jede Vertrautheit und einem höchst ungewissen Schicksal entgegen – das schien selbst einen erwiesenermaßen Irren wie König Ahk zu beeindrucken.

»Das ist … das ist nicht …«, presste der König hervor, auf der Suche nach Worten. Köhler wartete einen Moment, dann nickte er Ahk zu, zeigte seine Freude über dessen Verwirrung und Angst, nicht als Triumph, sondern als Ausdruck stiller Genugtuung. Er winkte den Wachen, diese zerrten Ahk sofort davon, um Köhlers Ankündigung in die Tat umzusetzen. Es würde genauso getan werden, wie der Römer es angekündigt hatte.

Köhler sah Ahk nach, hörte, wie dieser laut fluchte, und war beinahe amüsiert. Es gab keine Rache, nichts, was echte Vergeltung für all das war, was ihm und den Seinen in den Händen dieses Irren angetan worden war. Er konnte Ahk tagelang foltern und es wäre nicht genug. Also fing er gar nicht erst damit an, nur um sich nachher gleichermaßen beschmutzt ob seines eigenen Tuns wie auch letztlich unbefriedigt vorzufinden. Köhler wollte auf sich achten. Der Weg, schon vor langer Zeit angetreten, den Ahk gegangen war, war nicht der seine. Die Dunkelheit, in die er führte, schreckte ihn ab. Er würde seine Narben behalten, dessen war sich Köhler bewusst. Albträume. Schuldgefühle. Viel Hass, der ihn zur falschen Zeit aus dem Gleichgewicht bringen mochte.

Aber niemals den Pfad entlang, den Ahk beschritt. Das war ihm eine große Lehre.

»Wie geht es dir?«

Die Stimme der Frau riss ihn aus dem dumpfen Brüten, in dem er sich plötzlich vorgefunden hatte, und er lächelte Terzia dankbar an. Die Geologin war müde, das sah er ihr an. Sie war keine Kriegerin, aber sie hatte bei der Versorgung der Verwundeten geholfen, Römer wie Maya gleichermaßen, und obgleich all jene, die überleben würden, stabil, und jene, die es nicht schaffen würden, ruhiggestellt waren, hatte sie noch keinen Schlaf gefunden. Köhler erlaubte sich die Vorstellung, dass sie erst noch nach ihm gesucht hatte, um sicher zu sein, dass er versorgt war.

Er sah die Sorge in ihrem Blick und stellte fest, dass seine Vorstellung wohl richtig war. Das warme Gefühl in seiner Brust war eine dermaßen wohltuende Abwechslung von dem Hass, den er eben noch empfunden hatte, dass er unwillkürlich aufseufzte.

»Oha!«, sagte Terzia leise. »Das war ein mächtiger Berg, der dir gerade von der Seele fiel.«

Köhler sah sich um. Sie waren nicht direkt allein, hier, auf dem Platz der geschwärzten Ruine, die einstmals der Haupttempel der Ixchel gewesen war. Das mächtige Gebäude ragte neben ihnen empor und außer dem nackten Stein war nicht mehr allzu viel zu sehen. Die kunstvollen Bemalungen waren kaum noch zu erkennen und vor allem die Hitze in den engen Gängen und Räumen im Inneren hatte alles, was brennbar gewesen war, schnell zerstört. Ein trauriges Mahnmal der Hybris eines Königs, der niemals verstehen würde, was er falsch gemacht hatte, weil es richtig und falsch für ihn gar nicht gab.

Köhler beugte sich nach vorne, küsste Terzia auf die Wange, spürte für einen Moment ihren Atem auf seiner Haut. Die Frau legte ihm einen Arm um den Hals, drückte ihn kurz an sich, ehe sie sich wieder löste und einen Schritt zurück machte.

»Denken Sie an die Moral der Männer, Trierarch«, sagte sie mit warnendem Unterton.

»Meine Moral ist nicht wichtig?«, fragte er zurück.

»Sehr wichtig. Aber alles zu seiner Zeit.«

Mit diesen Worten wandte sie sich ab und stolzierte davon. Köhler hoffte, dass sie sich nun einen sicheren Platz zum Schlafen suchen würde. Sie hatte es verdient und er hoffte ebenso, dass sie sich nach dem Erwachen an das Versprechen erinnerte, das in ihrem letzten Satz gelegen hatte. Es war sicher nicht einfach so dahingesagt, so war Terzia nicht. Mit einem wissenschaftlich geschulten Verstand und einer Selbstdisziplin, mit der sie manch einen seiner Legionäre in den Schatten stellte, sagte sie nichts »einfach so«.

Das war in diesem Fall eine sehr gute Nachricht.

Köhler sah noch einmal den Tempel empor. Natürlich würden die Maya ihn wieder herrichten. Er würde im alten Glanz erstrahlen, daran gab es gar keinen Zweifel. Die Römer würden helfen, wo es nur ging. Das Schicksal der Expedition war mit dem von Cozumel untrennbar verbunden. Köhler hoffte nur, dass sie diese Region in einem Zustand verlassen würden, der ihnen Zuversicht über die sichere Zukunft der Insel und ihrer gastfreundlichen Bewohner ermöglichte.

Er gähnte. Eine plötzliche Reaktion, und sie erinnerte ihn daran, dass Terzia nicht die Einzige war, die dringend der Ruhe bedurfte.

Es war Zeit, dass auch er sich einen sicheren Platz suchte.

Zum Glück würde er jetzt einen finden können.

2

Aritomo stand im Thronsaal zu Zama und sah sich die Malereien an den Wänden an, sorgsam beobachtet von alten Männern, Frauen und Kindern – all jenen, die nicht kämpfen konnten und die Ahk hier zurückgelassen hatte. Die Darstellungen zeigten die Ahnenreihe des gescheiterten Herrschers und lobten die Taten der Vorfahren. Aritomo hatte mittlerweile genug von der Schrift der Maya verstanden, um zumindest eine Idee von dem zu erhaschen, was diese Darstellungen ihm vermitteln wollten. Wie überall, egal ob in Mutal, Zama oder sonst wo, waren die Geschichten, die hier erzählt wurden, voller Gewalt und Pathos. Siege und Unterwerfungen, Tribute und Bestrafungen, eine endlose Abfolge von Mord und Totschlag. Wer in einem solchen Raum groß wurde, musste ein sehr einseitiges Bild auf das Leben erhalten, und hatte er dazu noch Macht und nicht alle Murmeln im Kasten wie Ahk von Zama, dann war das Ergebnis vorhersehbar.

»Die Frage ist, wen setzen wir hier herein?«, hörte er Lengsley sagen. Der Brite stellte sich neben Aritomo und zeigte auf die Ahnenreihe des Königs. »Wir sollten diese Malereien irgendwie bewahren, vielleicht abzeichnen lassen. Wer auch immer künftig diese Stadt regiert, wird die Erinnerung auslöschen wollen, um seine neue Dynastie zu legitimieren. Ich möchte nicht wissen, wie viel wertvolles historisches Wissen auf diese Weise schon verloren gegangen ist.«

»Ich bin überrascht, dass dir so was am Herzen liegt«, sagte Aritomo lächelnd, streckte eine Hand aus, berührte den bunten Kopfschmuck eines lange toten Königs, wie dieser sich anscheinend mit einem breiten Grinsen über besiegten Feinden aufbaute. »Du entwickelst ein richtiges Geschichtsbewusstsein.«

»Wenn man durch die Zeit reist, ist das eigentlich unausweichlich. Man bekommt ein Gefühl dafür, wie die Zeitläufe einen Anker für das eigene Selbstverständnis darstellen. Ein Fundament, auf dem man steht, und man merkt eigentlich erst, wie unsicher der eigene Gang ist, wenn es einem entzogen wird.« Lengsley deutete auf die Malereien. »Die Maya haben das gut verstanden. Wenn man in einer Welt voller Unsicherheit lebt, hat man verschiedene Strategien, um damit zurechtzukommen. Der Glaube ist die eine, die Hoffnung auf einen übernatürlichen Ausgleich, eine inhärente Gerechtigkeit, die am Ende alles gut machen wird. Die Legitimation des Staates ist eine andere, eine Legende, die einem sagt: ›Schau, seit Generationen haben wir diese Stabilität und Sicherheit aufgebaut und damit ist sie für weitere Generationen gesichert. Hab keine Angst.‹ So wird ein Rahmen geschaffen, der einem hilft, die Angst unter Kontrolle zu halten. Egal was passiert, auf zwei Dinge kann man sich verlassen: die Götter und die rechtmäßigen Herrscher.«

»Wobei bei den Maya noch hinzukommt, dass die Grenzen da verwischt sind«, fügte Aritomo an. »Die Könige sind Sprachrohre der Götter, haben selbst einen beinahe göttlichen Status. So fügen sie die beiden Grundpfeiler, von denen du gesprochen hast, harmonisch zusammen.«

Lengsley nickte. »Jedes Gemeinwesen braucht seine Legende.« Er wies auf die Malereien. »Und wenn die eine nichts mehr wert ist, ihren Zweck nicht mehr erfüllt, bedarf es einer neuen, ganz ungeachtet des Wissens, das mit dem Ausradieren der alten verloren geht. Es ist nämlich wichtiger, das Gefühl von Sicherheit zu schaffen, als historische Fakten zu bewahren. Jeder Maya, der hier herrscht, ist sich dieser Tatsache sehr bewusst. Wir aber schauen von außen auf diese Dinge und daher schmerzt es uns, wenn Dinge unwiederbringlich verloren gehen. Dabei fehlt es uns Zeitreisenden an unserer eigenen Legende.« Er sah Aritomo an. »Entweder wir schnitzen uns eine eigene oder wir nehmen die anderer an und machen sie uns nützlich.«

»Wie die der Römer.«

»Wie die der Römer.« Er lächelte. »Ich rede viel. Die eigentliche Frage blieb unbeantwortet, mein Freund. Wer soll künftig auf dem Thron zu Zama sitzen? In der Armee fragt man sich das auch. Gerade die Soldaten aus Mutal, die Flüchtlinge, denken in sehr althergebrachten Kategorien. Die Stadt ist erobert. Es ist eine schöne Stadt, nicht ohne Macht gewesen. Also übernehmen wir sie und alles wird gut.«

Der Japaner lachte trocken und schüttelte den Kopf. Ja, so dachten viele. Aber die alten Wahrheiten galten nur noch wenig.

»Metzli wird da anderer Ansicht sein.«

»Ich weiß das, Aritomo. Aber die Leute sind müde und sie verlangen nach einer Heimat.« Der Brite winkte in Richtung der Dekorationen. »Nach einer neuen Legende, einem Fundament, neuer Sicherheit. Wir dürfen dieses Bedürfnis nicht unterschätzen, Aritomo.«

Der Japaner wusste, dass sein Freund recht hatte. Lengsley war viel tiefer in die Kultur der Maya eingetaucht als er; seine Lebensgefährtin, die Schwester des toten Königs Chitam, führte mit ihm lange Gespräche, die, da war sich Aritomo sicher, sehr lehrreich waren. Die Einsichten, die der Brite mitbrachte, hatten einen hohen Wert für den japanischen Offizier. Aber was half es, Dinge zu wissen und als wahr anzuerkennen und andererseits die Kraft des Faktischen als Gegner zu haben?

»Wir können Zama nicht halten«, wiederholte er also, was er schon so oft gesagt hatte, einen Satz, der sich mit jeder erneuten Aussprache abzunutzen schien. »Vor allem nicht gegen Metzlis Armee. Es geht nicht. Du weißt das, ich weiß es. Wenn wir hier unsere Wurzeln schlagen, wird der Herr von Teotihuacán sie schnell wieder ausreißen. Cozumel ist unser Ziel. Ein ebenso schöner Ort, vor allem wenn wir ihn wieder aufbauen und die Verwüstungen des Kampfes beseitigen. Wir geben Zama auf, denn wir haben die Stadt nie wirklich besessen.«

Er zeigte mit einer umfassenden Handbewegung auf die Galerie der vergangenen Generationen. »Wenn du das hier bewahren willst, beauftrage jemanden, es zu kopieren. Ich weiß nicht, was aus Zama wird. Wir werden die Krieger Ahks sicher freilassen und zur Rückkehr auffordern; unter ihnen wird sich möglicherweise jemand berufen fühlen, hier die Regentschaft zu übernehmen. Vielleicht nutzt auch ein Nachbar mit Ambitionen die Gunst der Stunde. Ich kann nicht sagen, dass es mir egal ist. Es ist aber auch nicht wirklich wichtig.«

Lengsley sah für einen Moment so aus, als wolle er etwas entgegnen. Dann aber legte er dem Japaner nur die Hand auf die Schulter und nickte ihm zu. Er blieb noch einen Moment stehen, schaute nachsinnend auf die Malereien, kam zu einem Entschluss und wandte sich ab. Aritomo sah ihn im Halbdunkel des Palastes verschwinden, ohne ein Wort des Grußes. Er vertraute ihm. Lengsley gehörte, wie manch anderer der Weggefährten, zu Aritomos Fundament.

»Herr!«

Die Stimme kam aus einer Ecke des Saales, kaum erleuchtet. Aritomo fühlte eine plötzliche Anspannung und bemerkte, wie seine Hand zur Waffe wanderte, doch er beherrschte sich. Er trat einen Schritt in die Richtung der Stimme und kniff die Augen zusammen. Aus dem Dunkel löste sich eine weibliche Gestalt.

Es war nicht irgendeine Frau. Sie trug ein Gewand, wie es hochgestellte Persönlichkeiten anhatten, darin kannte sich Aritomo mittlerweile ganz gut aus. Es war ihr auf den Leib geschnitten. Das Gesicht war breit, aber von unglaublicher Symmetrie und die großen, braunen Augen sahen den Eroberer furchtlos an. Ihre Füße waren nackt. Sie wirkte erschöpft, aber nicht verängstigt, sodass auch Aritomo sich etwas entspannte. Eine Waffe konnte er nirgends entdecken.

»Herr!«, sagte die Frau erneut, bittend, vielleicht auch fragend. Seine Aufmerksamkeit hatte sie geweckt. Er lächelte sie an.

»Wer sind Sie?«

»Ixchup«, sagte sie. Der Name der jungen Mondgöttin. Aritomo erinnerte sich an ein Relief, das diese Gottheit prominent gezeigt hatte, in Begleitung von einem … Hasen, wenn er sich recht entsann. Der Name einer Adligen, ohne Zweifel. Er räusperte sich.

»Wir werden den Palast bald verlassen. Ihr Herr, der König … Ahk wird nicht zurückkehren. Er muss für seine Taten bezahlen. Ich bin mir sicher, es wird einen neuen König geben.«

»Nicht Ihr?«

»Nein. Ich habe kein Interesse daran, hier zu herrschen.«

»Warum nicht?«

Da war echte Verwunderung in ihrer Stimme. Das war auch schwer zu erklären. Wer verzichtete freiwillig auf einen Thron, der so leicht zu besteigen war? Aritomo war versucht, zu einer langwierigen Erklärung anzusetzen, besann sich dann aber eines Besseren. Es würde ja ohnehin nichts an der Situation ändern.

»Ich habe andere Pläne. Es wird einen neuen König geben.«

»Den Ihr einsetzt?«

»Nein. Nein, ich denke nicht. Wir rücken bald ab, ziehen uns auf Cozumel zurück. Was hier geschieht, das werden die Götter entscheiden.« Er zögerte, ehe er hinzufügte: »Wir werden die Überlebenden des Feldzuges zurückschicken. Ich glaube, unter ihnen …«

»Aber nicht meinen Gatten, richtig? Er bleibt auf Cozumel und wird bestraft?«

Aritomos Haltung versteifte sich. »Ich sprach vom König.«

»Von ebendem spreche ich auch.« Da war Hoffnung in der Stimme, richtig wilde Hoffnung, die in jedem Wort leidenschaftlich aufflammte, nur von Höflichkeit und Konvention im Zaum gehalten. Aritomo verstand, es mit der – oder einer – Frau von Ahk zu tun zu haben. Der Königin? Einer Konkubine? Wer wusste schon, wie der irre König sein Privatleben gestaltet hatte? Aber die Hoffnung in den Worten Ixchups wies darauf hin, dass er kein angenehmer Ehemann gewesen sein musste. Angesichts dessen, was Aritomo über ihn erfahren hatte, war das wenig verwunderlich.

»Ahk ist in unserem Gewahrsam. Ich weiß, dass ein gewisses Maß an Grausamkeit einem König der Maya zugestanden wird. Sein Sieg hätte dieses Verhalten sicher gerechtfertigt. Nun aber hat er verloren und wir setzen die Maßstäbe fest. Er wird gerichtet. Ich glaube nicht, dass das Urteil zu seinen Gunsten ausfallen wird. Es tut mir leid, wenn dies Euch und Euren Kindern Schmerz bereiten sollte …«

»Schmerz?« Der Ausruf der Frau unterbrach seine Rede mit plötzlicher Kraft. »Schmerz war es, was er seinen Frauen und Konkubinen zufügte. Er lebte von Schmerz. Er genoss ihn. Er erfreute sich am Leid anderer, egal ob Feind oder Freund. Er umgab sich mit jenen, die seine Leidenschaft teilten oder tolerierten. Ich hoffe, keiner von ihnen kehrt zurück. Sie alle sollten gerichtet werden … am besten hingerichtet.«

Klare Worte, überzeugend vorgetragen. Aritomo wusste gar nicht recht, was er darauf antworten sollte. Die Frau machte einen Schritt in seine Richtung. Die Wut war nun aus ihrer Haltung verschwunden. Sie hatte noch etwas auf dem Herzen, das war ihr anzusehen.

»Es gibt einige Angehörige meines Mannes … Kinder und … Frauen wie mich. Wir sind nicht wohlgelitten in Zama, vor allem jetzt nicht, wo Ahk fort ist. Seine Art der Regentschaft wurde oft uns zur Last gelegt, seine Grausamkeit färbte auf uns ab, egal was wir taten oder sagten.« Sie sah zu Boden, offenbar peinlich berührt. »Wir taten und sagten wenig. Hätten wir uns gegen ihn gewandt, wären wir das Ziel seiner Wut geworden, noch mehr, als das ohnehin der Fall war.« Sie schaute wieder hoch. Ihre Stimme bekam einen bittenden Tonfall. »Ich fühle mich hier nicht mehr sicher. Es wird Racheakte geben, und wenn Ahk für diese nicht als erstes Opfer zur Verfügung steht, fürchte ich um mich und meine beiden Kinder, die noch sehr jung sind. Ahk hat sich viele Feinde gemacht, Menschen erniedrigt und gedemütigt und vielen das Leben genommen, manchmal aus reiner Willkür.« Wieder eine Pause, als müsse sie über das nachdenken, was sie eben gesagt hatte. »Meistens aus Willkür«, kam dann die Verbesserung. »Wir sind hier nicht sicher. Ich bitte Euch daher, hoher Herr. Gebt uns Obdach auf Cozumel. Lasst uns nicht hier, vor allem wenn wütende, erniedrigte Krieger aus einer verlorenen Schlacht nach Zama zurückkehren.«

Jetzt war echte Furcht in ihrer Haltung. Sie drückte die Hände aufeinander, als wolle sie zu ihm beten, und ihre Ellenbogen zitterten vor Anstrengung.

»Wie viele?«, fragte Aritomo.

»Wie viele? Ich meine …«

»Wie viele Frauen und Kinder?«

Ixchup holte tief Luft. »Ahk war ein Mann, der sich nahm, wen er mochte, und der sein Recht verlangte, wann immer ihm danach war. Ich weiß nicht, wo er überall Kinder gezeugt hat und mit wem. Er hatte jedes Maß verloren und niemand hat ihn jemals gefragt, auch ich nicht. Die Antwort wäre wenig erfreulich ausgefallen, versteht Ihr?« Aritomo nickte und bedeutete ihr fortzufahren. »Aber ich kenne vier Frauen mit zwölf Kindern insgesamt. Wir alle lebten im Palast, waren Ahk am nächsten und unsere öffentliche Stellung war damit bekannt. Ich denke, dass ich für sie alle sprechen kann, wenn ich um Schutz bitte.«

Aritomo hörte auf ihre Stimme und suchte vergeblich nach Falschheit. Er konnte es natürlich nicht mit Gewissheit sagen, aber das Flehen der Ixchup war so aufrichtig, wie jemals eine Bitte an ihn herangetragen worden war, er verstand die Situation und er hatte, beileibe, kein Herz aus Stein.

»Er wird gewährt«, sagte Aritomo. Wer war er, eine solche Bitte abzuschlagen? Auf Cozumel war Platz und er hegte keinen Groll gegen Frauen und Kinder. »Sobald die Schiffe ankommen, um meine Soldaten und den Tross überzusetzen, sollen sie alle mitkommen dürfen. Sie werden für ihren Lebensunterhalt selbst aufkommen. Keine Diener auf Cozumel, keine Gaben der Bevölkerung. Arbeit steht ihnen bevor, ihnen allen.«

Ixchup gestattete sich ein Lächeln. »Das habe ich erwartet. Ich bin nicht ohne Talente. Wir werden niemandem zur Last fallen, das verspreche ich.«

»Begeben Sie sich zur Küste. Dort werden Sie schnell merken, wenn wir beginnen überzusetzen. Gibt es Probleme, wende Sie sich wieder an mich.«

Ixchup verbeugte sich, zögerte einen Moment und sah Aritomo dann mit einem plötzlichen, wilden Mut an, der ihn beinahe erschreckte. Aber die junge Frau hatte offenbar nicht die Absicht, ihn anzuspringen und überraschend zu töten, stattdessen sprach sie erneut: »Wenn Ihr eine Dienerin benötigt, Herr – ich kann hervorragend kochen und ich lerne schnell. Ich weiß nicht, wie viele Euch zu Gebote stehen …«

»Niemand steht mir zu Gebote«, erwiderte Aritomo hastig. Er hatte sich nie besonders gerne bedienen lassen, zumindest nicht mehr als nötig. Der Exodus aus Mutal hatte nur wenige erfreuliche Folgen, eine aber war, dass niemand mehr permanent um ihn herumscharwenzelte, um seine Wünsche zu erfüllen. So etwas übte einen subtilen Druck auf ihn aus, auch Wünsche zu äußern, selbst wenn er nach nichts begehrte. Aritomo war der Ansicht, dass der Selbstzweck eines ganzen Hofstaates von Dienern irgendwann zu Stress für die Bedienten wurde, ein Eigenleben entwickelte, das nach Aufmerksamkeit und Beschäftigung verlangte. Damit wurde Druck auf jene ausgeübt, deren Wohlbefinden dadurch eigentlich gewährleistet sein sollte. Aritomo jedenfalls empfand es so.

Andererseits – in seinen persönlichen Dingen war so einiges in Unordnung und auf Cozumel würde er ganz sicher wieder ein eigenes Quartier beziehen, und das, wie es derzeit aussah, für längere Zeit. Wenn er sich tatsächlich nicht selbst um alles kümmern wollte, würde er jemanden benötigen, der ihm half. Solange er den Stab an Dienstboten nicht unnötig aufblähte und dafür sorgte, dass er ein gewisses Maß an Selbstständigkeit behielt, war das gar nicht so furchtbar, wie er es gerne machte. Und jemand wie Ixchup bekam einen Platz.

Außerdem. Verdammt! Sie war hübsch.

»Eine Königin wird zur Dienerin?«, fragte er etwas tadelnd. »Kann das funktionieren? Der Gedanke gefällt mir nicht.«

»Ich war nicht immer eine Königin«, sagte die Frau. »Und es ist wahrscheinlich besser, als die Gattin des Ahk zu sein, vor allem friedlicher.« Sie führte das nicht weiter aus, aber erneut drückte sie die Hände aufeinander, bis die Arme zitterten. Aritomo konnte nur ahnen, welche Erinnerung sie mit dieser kraftvollen Bewegung zu beherrschen gedachte, und er entschloss sich, ein andermal nachzufragen. Ihm fiel auf, dass sie recht muskulöse Schultern und Oberarme hatte, zumindest für eine Frau. Vielleicht stimmte, was sie über ihre Herkunft sagte … und dass sich Ahk genommen hatte, wen auch immer er wollte.

»Gut«, sagte er schließlich. »Wenn wir auf Cozumel sind.«

»Ich danke Euch!«, kam die sehr ehrlich klingende Antwort, drei Worte voller Erleichterung. Ixchup verbeugte sich und verschwand so lautlos, wie sie sich genähert hatte. Aritomo sah ihr nach und zuckte mit den Achseln. Wenn es ihr gefiel, so war es ihm recht.

Er sah sich noch einmal um, blickte auf den Platz, den traditionell der König der Stadt einnahm. Er lauschte in sich hinein und war sehr zufrieden, dass er absolut kein Bedürfnis verspürte, sich dort auch nur probeweise niederzulassen.

Es gab doch noch Hoffnung für ihn.

3

»Ihr müsst Euch schonen.«

Haraldus runzelte die Stirn und machte eine ausholende Handbewegung. »Du kennst meinen Terminplan, Eusebius! Du kennst ihn besser als jeder andere, da du jede kleinste Lücke darin ausnutzt, um dich an mich ranzuschmeißen und deine Untersuchungen an mir durchzuführen.«

»Was mir selten genug gelingt«, erwiderte der Leibarzt mit einer gehörigen Portion Vorwurf in der Stimme. »Gerade deswegen sage ich Euch …«

»Ich muss mich schonen, ja«, unterbrach Haraldus unwirsch und stand auf. Das war möglicherweise ein Fehler, denn seine vom Rheuma geschwächten Gelenke protestierten angesichts der kraftvoll angesetzten Bewegung. Der Imperator Roms lächelte den Schmerz weg, darin hatte er eine gewisse Übung. Es war wenig förderlich, Eusebius zusätzliche Hinweise auf seinen Gesundheitszustand zu geben, die ihn zu weiteren Tiraden veranlassten. Der Leibarzt war sein Freund, er kannte ihn seit gut zwanzig Jahren und er gehörte zu den Koryphäen seiner Profession. Gleichzeitig aber verhielt er sich gegenüber seinem wichtigsten Patienten wie eine Glucke und es wurde mit jedem Jahr schlimmer. So viel Fürsorglichkeit ertrug Haraldus nicht und er hatte darüber hinaus Wichtigeres zu tun.

»Ich gebe Euch diese Salbe«, sagte der Arzt nun und holte einen größeren Behälter hervor. »Die Gelenke damit einreiben, und zwar dreimal täglich. Alle Gelenke und jeden Tag, Edelster. Dreimal. Ich kann jemanden rufen, der für Euch bis drei zählt.«

Haraldus ignorierte die Spitze und schaute den Behälter kritisch an.

»Dann glänzt der Edelste wie ein Gladiator, der halb nackt in der Arena steht«, murmelte Haraldus. Seit das Töten der Kämpfer verboten war, die Gladiatorenspiele selbst aber wieder eingeführt wurden, hatten die Kämpfer andere Methoden entwickelt, für das Publikum attraktiv zu bleiben oder zu werden. Sich mit nur einem Schurz bekleidet und ordentlich eingeölt zu präsentieren, dabei durch hartes Training den eigenen Körperbau zu betonen und somit die Herzen vornehmlich der Damen – aber nicht nur dieser – zu erobern, gehörte in zunehmendem Maße dazu. Manch Traditionalist kritisierte, dass es heute schon genügen würde, in der Arena einfach nur gut auszusehen, um den Sieg davonzutragen. Haraldus war das recht. Die Spiele waren eine willkommene Abwechslung, und solange sie nicht mehr in einem Gemetzel endeten und sie die Leute bei Laune hielten, sollten sie gerne zu einem Schönheitswettbewerb degenerieren. Das hieß aber nicht, dass er sich dieser Praxis anschließen musste, und sei es nur zu medizinischen Zwecken.

»Eure Weigerung schadet Euch nur selbst«, sagte Eusebius streng und packte seine Tasche zusammen. »Was steht als Nächstes auf dem Terminplan? Ungeachtet Eurer anmaßenden Bemerkung lerne ich ihn nicht auswendig.«

Haraldus hatte den Topf geöffnet und an der Salbe gerochen. Er rümpfte die Nase.

»Ich habe einen seltenen und hohen Gast zu empfangen, der gestern Abend eingetroffen ist. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich ihm entgegentreten und dabei nach dem hier riechen sollte.« Er hielt Eusebius den geöffneten Behälter hin. »Was ist da drin?«

»Vor allem Rosmarinöl und Kampfer.«

»Es stinkt.«

»Ich experimentiere zusätzlich mit …«

»Eusebius. Ich repräsentiere Rom. Rom stinkt nicht!«

Der Arzt lachte auf. »Rom stinkt wie die Hölle, vor allem im Sommer.«

»Du weißt, was ich meine.«

Der Arzt nahm den Topf entgegen und schnupperte daran. »Nun gut, vielleicht ein wenig streng. Ich werde Parfumöle hinzufügen. Dann aber bin ich eisern: Jeden Tag …«

»Dreimal, alle Gelenke. Ich bin nicht völlig verblödet.«

Eusebius nickte, steckte den unbenutzten Salbentopf wieder ein und verbeugte sich. Als er den Raum verließ, war sich Haraldus absolut sicher, dass er eine parfümierte Version der Salbe spätestens morgen früh in seinem Schlafzimmer vorfinden würde. Eusebius war am besten als »unausweichlich« zu beschreiben. Er würde den Begriff »pflichterfüllt« bevorzugen, im Ergebnis kam es aber auf das Gleiche hinaus.

Der Imperator seufzte. Er war der Herr Roms und hatte doch nichts zu sagen. Immerhin würde er bald das Licht reflektieren, das war doch etwas.

»Herr!«

Haraldus sah auf. Er hatte wirklich keine ruhige Minute. Der Diener war sehr respektvoll und alles, aber es wäre dem Imperator lieber gewesen, wenn er noch ein paar Augenblicke für sich gehabt hätte. Sicher, er war der Kaiser und so, und er hätte theoretisch befehlen können, dass man ihn jetzt mal in Ruhe lassen solle. Dann hätte er sich in seinen gepolsterten Lehnstuhl in die Bibliothek gesetzt und seinetwegen auch seine Gelenke eingerieben. Aber nein, da war sein Pflichtgefühl, das ihm sein Vater eingeimpft hatte, nicht mit brutaler Gewalt, sondern durch sein Vorbild. So was legte man nicht ab, auch wenn alles in einem danach verlangte.

»Der hochedle Mihr-Narzeh, Großwesir von Eranshar. Er wartet draußen. Er wollte nicht bis zum Empfang warten.« Der Diener unterbrach sich, dann leiser: »Ich habe nicht den Eindruck, dass er ein sehr geduldiger Mann ist.«

Warum sollte er auch, dachte Haraldus, als er dem Diener zunickte. Er war der Großwesir, der wuzurg framadar, wie ihm seine Berater erklärt hatten. Den Begriff in seiner Sprache zu nutzen, war ein Zeichen des Respekts. Mihr-Narzeh diente dem aktuellen König des Sassanidischen Imperiums, wie er seinem Vater gedient hatte, ein alter Mann, und damit empfand Haraldus eine gewisse Seelenverwandtschaft mit ihm. Der Wesir war gestern in Rom eingetroffen. Es hatte eine kurze und sehr würdevolle Begrüßungszeremonie gegeben, doch kein sofortiges Festessen. Der alte Mann war ermattet gewesen. Haraldus wusste genau, wie er sich fühlte.

Heute Abend würde der offizielle Empfang stattfinden. Sie mussten sich Mühe geben. Gemeinsame Mahlzeiten mit ihren Gefolgsleuten waren ein zentrales Mittel der Machtausübung in Mihr-Narzehs Heimat. Der Oberherr lud zum Bankett, und wer geladen wurde, wusste sich entweder in der Gunst seines Königs oder wurde zu dieser Gelegenheit öffentlich vorgeführt. Viel und ausgiebig zu essen und die Gemeinschaft mit den Untertanen von Rang zu pflegen, war eine alte Tradition, die von allen sassanidischen Königen mit Hingabe gepflegt wurde. Auch Haraldus würde sich dem, schon aus Respekt vor seinem hohen Gast, nicht entziehen können. Die Tatsache allein, dass jemand von solcher Bedeutung eine so beschwerliche Reise auf sich genommen hatte, sprach dafür, dass wichtige Dinge zu besprechen waren.

Darauf, fand Haraldus zu seiner eigenen Überraschung, war er sogar recht neugierig.

Dann trat der Großwesir ein. Ein hagerer Mann, das schmale Gesicht dominiert von seiner sorgfältig gepflegten Haarpracht, angetan mit der traditionellen Kopfbedeckung sassanidischer Adliger, gekleidet in ein weites, wallendes Gewand. In der Hand hielt er einen Stock, kunstvoll verziert, mit goldenen Intarsien belegt, aber weniger ein Zeichen von Autorität, sondern tatsächlich eine Stütze. Das faltige Gesicht zeigte höchste Konzentration, doch auch Ehrerbietung und die schien nicht einmal gespielt.

Die Herren von Rom und Ctesiphon waren gleichgestellt, sie waren Brüder. Und der Großwesir war sich dieser Tatsache natürlich bewusst. Er stand exakt eine Stufe unter seinem König, und damit auch nicht mehr als eine unter Haraldus. Dem Imperator war das recht. Er konnte Leute, die Zeit damit verschwendeten, vor ihm herumzuscharwenzeln, nicht leiden.

»Ich grüße den wuzurg framadar. Rom fühlt sich geehrt.«

Mihr-Narzeh sprach und verstand Griechisch. Das würde sehr helfen, denn er hatte ausdrücklich darauf bestanden, dass ihrer Unterredung niemand beiwohnen solle. Haraldus war bereit, diese Vertraulichkeit zu gewährleisten, genauso wie er seine Vorsichtsmaßnahmen traf. Das hatte nichts mit den in Rufweite stehenden Leibwachen zu tun – das Leben des Kaisers war bestimmt nicht in Gefahr. Es betraf eher seinen höchst vertrauenswürdigen Privatsekretär Timonius, der im Geheimzimmer nebenan saß und mithörte, vor allem mitprotokollierte und mit Haraldus das Gespräch anschließend Revue passieren lassen würde, um sicherzugehen, dass sie beide alles richtig verstanden hatten.

»Ich verbeuge mich vor dem Imperator Roms. Ich sonne mich in seiner Gegenwart.«

Die Stimme des Großwesirs war sanft und angenehm, doch er sprach nur von einer Verbeugung und führte sie nicht aus. Entweder war es das Rheuma oder wohlkalkuliert. Haraldus jedenfalls fühlte sich nicht beleidigt. Das Einzige, was er bei Verbeugungen zu sehen bekam, waren schüttere Haarkränze oder auftoupierte Frisurmonstren und an beidem fand er keinen besonderen Gefallen.

»Lassen wir die Formalitäten, Großwesir. Wollen wir uns nicht setzen?« Der Imperator wies auf die Sessel, die im Licht der großen Fenster standen, von denen es einen schönen Blick auf den Palastgarten gab. Dort stand Kaffee bereit, der absolute Exportschlager ins Sassanidische Imperium. Niemand sonst hatte auf dieses Getränk so fanatisch reagiert. Ctesiphon hatte schnell eigene Handelsvereinbarungen mit Aksum getroffen und diesen alten Verbündeten Roms noch reicher gemacht, als er durch den Kaffeehandel ohnehin bereits geworden war. Und römische Röstereien hatten große Dependancen errichtet, zu sehr lukrativen Bedingungen.

»Ich danke Euch.« Die Männer setzten sich, für beide eine Erleichterung. Haraldus verzichtete auf Diener, um den Anschein völliger Vertraulichkeit zu wahren, und Mihr-Narzeh war sich nicht zu schade, die silberne Kanne selbst zu ergreifen und beiden einzuschenken.

»Mein Besuch kam ein wenig unangekündigt«, sagte der Sassanide mit entschuldigendem Unterton. »Ich hoffe, Euch damit keine Unannehmlichkeiten bereitet zu haben.«

»Mein Leben besteht aus Unannehmlichkeiten. Ich hoffe, Eurem Herrn, dem geehrten König Yazdegerd II., ergeht es wohl?«

»Er ist zufrieden und damit bin ich es auch. Er entbietet Euch seine Grüße. Ich habe viele Geschenke mitgebracht, die er Euch gerne persönlich überreicht hätte. Wichtige Staatsgeschäfte hielten ihn davon ab. Angelegenheiten, deretwegen ich zu Euch spreche, Imperator Haraldus.«

»Reisen werden bald einfacher sein, Großwesir. Wenn wir unsere Pläne einer Eisenbahnverbindung zwischen den östlichen Provinzen Roms und Ctesiphon verwirklichen … Wir haben die Regierung des Reiches schon vor einigen Jahren auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht.«

Mihr-Narzeh lächelte. Es sah auf seinem schmalen, bärtigen Gesicht nicht sehr herzlich aus, eher wie das Grinsen eines Mannes, der generell wenig Freude an dem hatte, was andere Menschen zu sagen hatten. Aber das konnte täuschen. Der Großwesir hätte niemals eine so herausragende Stellung erreicht, wenn er nicht gewisse Fähigkeiten im Umgang mit anderen zutage gefördert hätte, Fähigkeiten, die weit über die Anordnung von Exekutionen und die Zahlung von Bestechungsgeldern hinausgehen mussten.

»Wir können die entsprechenden Verträge sofort unterzeichnen und mit dem Bau baldmöglichst beginnen.«

Haraldus verbarg seine Überraschung nur unzureichend. »In der Tat.«

»Ihr kennt unsere Vorbehalte. Eine Eisenbahn bis ins Herz des Reiches, eine hervorragende Möglichkeit, gut ausgerüstete römische Truppen für einen Angriff gegen das Imperium zu verlegen. Truppen, die, das wissen wir beide, in Ausbildung und Bewaffnung den unseren deutlich überlegen sind.«

»Wir haben seit vielen Jahrzehnten Frieden«, erinnerte ihn Haraldus. Tatsächlich hatte es den letzten Krieg unter Schapur II. gegeben, wenngleich einen sehr spektakulären. In der entscheidenden Schlacht hatte er den damaligen Kaiser Julian nicht nur besiegt, sondern auch noch gefangen genommen und niemals wieder nach Rom zurückgelassen. Eine besondere Schmach, die das Verhältnis aber nicht auf ewig belastet hatte.

»So was ändert sich schneller, als man manchmal denkt«, sagte Mihr-Narzeh und Haraldus wusste, dass der Mann selbstverständlich recht hatte.

»Was zerstreut diese Befürchtung nun, sodass Euer Herr einzuwilligen gedenkt?«

»Wir sehen die mögliche Notwendigkeit, dass römische Truppen schnell in unser Reich verlegt werden. Tatsächlich hoffen wir beinahe darauf.«

Haraldus verschlug diese Nachricht und die darin klingende Offenheit, ja der beinahe verzweifelte Unterton ein wenig die Sprache. Er kaschierte es mit einem Schluck Kaffee und er entnahm dem Blick des Großwesirs, dass dieser sich über die Reaktion seines Gegenübers zumindest ein wenig amüsierte. Haraldus verbarg ein Lächeln. Er begann Mihr-Narzeh zu mögen.

»Lasst mich raten, Großwesir … Ihr bekommt beunruhigende Nachrichten aus dem Osten?«

»Aber nein!« Mihr-Narzeh lächelte. »Ihr bekommt beunruhigende Nachrichten aus dem Osten – wir fangen sie nur durch unsere Agenten ab und lesen mit.«

Haraldus erwiderte das Lächeln. »Dann sind wir ja beide auf dem gleichen Stand.«

Der Wesir beugte sich nach vorne und betrachtete das Gebäck auf dem Tisch mit einem gleichermaßen verlangenden wie misstrauischen Blick. Haraldus hatte, ebenso wie sein Vater, auf die Dienste eines Vorkosters weitgehend verzichtet, was im Reiche der Sassaniden möglicherweise nicht so üblich war. Der Römer machte eine Show daraus, einen Keks mit spitzen Fingern zu nehmen und in den Mund zu stecken. Dann bediente sich auch sein Gast, mit einem fast entschuldigenden Gesichtsausdruck.

»Alte Gewohnheiten«, sagte er kauend.

»Natürlich wisst Ihr weitaus mehr als wir«, nahm Haraldus den Faden wieder auf. »Durch Euer Reich geht die Seidenstraße in Richtung China, es grenzt an die indischen Königreiche. Der Seehandel ist durch die neuen Technologien schnell geworden und vergleichsweise sicher. Ihr liegt zwischen Rom und dem, was im Osten geschieht. Und das ist Eure Sorge, richtig?«

»Richtig.« Mihr-Narzeh schaute aus dem Fenster in den Palastgarten. »Eine große Sorge. Flüchtlinge aus Indien und China treffen bei uns ein. Es sind nicht viele, immer nur eine Handvoll, meist wohlhabende Menschen, die sich die weite Reise leisten und damit rechnen können, aufgrund ihres Wohlstands überall Aufnahme zu finden. Es sind immer die Reichen und Gebildeten, die das Risiko als Erste erkennen und daraus Konsequenzen ziehen, wenn sie allzu starker Patriotismus nicht vor Ort hält. Etwas kommt auf uns zu, Imperator, und es ist nichts, was wir leichtfertig abtun können.« Er richtete seinen Blick wieder auf den schweigsam dasitzenden Haraldus. »Die Nachrichten Eurer Expedition in den Osten sind ein zentraler Hinweis. Uns sind sie zu Ohren gekommen. Es überrascht Euch sicher nicht.«

Haraldus seufzte. »Hättet Ihr danach gefragt, wir hätten Euch alles übergeben.«

»Wir fragen jetzt danach.«

»Ich werde es veranlassen.«

»Was gedenkt Rom zu tun?«

Der Imperator nickte. Das war die Kernfrage, vor die er sich täglich gestellt sah, die Ursache für seine Erschöpfung. Die entwaffnende Antwort war, dass er es nicht wusste und auf mehr Informationen des Latinus hoffte, um eine gute Grundlage für eine Entscheidung treffen zu können. Doch seitdem die Stadt, in die er sich nach dem Debakel in Indien geflüchtet hatte, den Invasoren zum Opfer gefallen war, kamen die Nachrichten spärlich. Die Expeditionsflotte war augenscheinlich vernichtet. Latinus war auf der Flucht in China. Er hatte Freunde gefunden, das half Haraldus, den Optimismus zu wahren. Aber er hörte nur noch wenig von dort und so war der Besuch des Großwesirs umso wichtiger. Der saß näher an der Quelle. Und dass das Agentennetz Yazdegerds ausgezeichnet war, hatte Mihr-Narzeh ja gerade erst bestätigt.

»Was gedenkt Ctesiphon zu tun?«

Der Wesir hob beide Hände. »Ich bin hier. Ein alter Mann hat sich auf eine lange und beschwerliche Reise gemacht. Ist nicht klar, wohin sich unser Blick wendet? Wir benötigen eine Allianz, Imperator, und wir wissen sehr gut, dass das Imperium der stärkere Partner ist. Ein Bund, der sich als gemeinsame Verteidigungslinie gegen jene wendet, die sich dereinst auch nach Westen orientieren könnten, so ihnen China nicht groß genug ist. Eine Vorsorge, im besten Fall – unsere einzige Chance zu überleben, im schlimmsten.«

Haraldus nickte langsam. »Das sind sehr offene Worte.«

»Wir sind unter uns. Ich muss nicht drumherum reden. Die Kekse sind übrigens gut. Ich möchte, dass die Übergabe des Rezepts Teil unserer Vereinbarung wird.«

Haraldus lachte. »Habt Ihr sonst noch Wünsche, die so leicht zu erfüllen sind?«