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Perikles Monioudis

Frederik

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

Über Perikles Monioudis

Perikles Monioudis wurde 1966 in Glarus, Schweiz, geboren und zog nach dem Studium der Soziologie und Politologie für zwölf Jahre nach Berlin. Für seine in mehrere Sprachen übersetzten Romane und Erzählbände wurde er mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht, darunter der Preis des Schweizerischen Schriftstellerverbandes und der Conrad-Ferdinand- Meyer-Preis. Perikles Monioudis lebt mit Frau und Kindern in Zürich.

Über das Buch

Er wurde als Frederick Austerlitz in Omaha, Nebraska, geboren – und Jahre später der beste und berühmteste Stepptänzer, den die Welt gesehen hat: Fred Astaire. Er übte versessen, tanzte mit großer Hingabe und verkörperte den Höhepunkt einer Kunst, die mit ihm auch wieder unterging. Unablässig strebte er nach Perfektion, Eleganz und Schönheit, und doch, so imaginiert es Perikles Monioudis, musste er sich sein ganzes Leben gegen einen geradezu teuflischen Begleiter wehren, der ihn überreden will aufzuhören.

 

Perikles Monioudis erzählt in seiner »ebenso gelassenen wie dichten Prosa« (FAZ) von Astaires Weg aus der amerikanischen Provinz ins Londoner West End, an den Broadway, nach Hollywood, wo ihn Filme mit Ginger Rogers, Rita Hayworth und Eleanor Powell zu einem Weltstar machten – und seinem stolzen Widerstand gegen alle Hinfälligkeit seines Erfolgs. Ein überraschender, faszinierender Roman über einen großen Tänzer, das Schöne und seine Brüchigkeit.

Impressum

Originalausgabe 2016

© dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: Lisa Höfner/dtv unter Verwendung eines Fotos von gettyimages

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-42904-7 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-28079-2

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423429047

 

 

 

 

Für meinen kleinen Sohn Thomas,
den größten Tänzer

 

 

 

Mr. Bojangles, dance, dance.

Jerry Jeff Walker

 

 

I, too, sing America.

Langston Hughes

 

 

 

 

Das ist die Geschichte eines Menschen, eines Künstlers, Frederick, der mir zu widerstehen glaubte und den ich lange genug in diesem Glauben ließ, nicht wahr, Frederick? Es ist eine schöne und gute Geschichte. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen!

 

Ein ergebener Freund,
im Waldorf Astoria, New York

1

Ganz hinten bei den Klappstühlen hatte man ihn sitzen heißen, und da saß der kleine Junge auch, er starrte nach vorn auf die Bühne. Frederick tat so, als würde ihn das alles kalt lassen, die freudige Erwartung des Publikums vor jeder Nummer, die Ovationen für die halbnackten Damen, die halbnackten Damen selbst, die Verhöhnung des älteren Tanzpaars, die schlüpfrigen Einlassungen des Direktors, der, ganz Impresario, es sich nicht nehmen ließ, die Nummern selbst anzusagen, um immer gleich von sich zu sprechen. Die Leute im düsteren Saal tobten ob seiner vulgären Gesten – Frederick nicht, er verzog keine Miene. Er wollte damit nicht etwa erwachsen erscheinen, es nahm ohnehin kein Mensch Notiz von dem kleinen Jungen im ausgebeulten Tweedanzug. Es ging Frederick einzig um seine zweieinhalb Jahre ältere Schwester Adele, die sich neben ihm auf dem Klappstuhl vor Lachen kaum mehr halten konnte. Sie weinte Tränen der Verzückung.

So wie seine Schwester mochte er sich unter keinen Umständen geben, nicht einmal hier und jetzt, bei seinem notgedrungen ersten Vaudeville-Besuch. Sein kindlicher Instinkt, ein aufkeimender Stolz ließen ihn Abstand nehmen von dem Geschehen, den feixenden Junggesellen in der ersten Reihe, den älteren Damen an den ihnen vorbehaltenen, mit Telefonen versehenen Tischchen.

Frederick konnte das Klingeln im Lärm des Saals zwar nicht hören, ihm blieb aber nicht verborgen, daß die mit rotem Damast bezogenen Apparate ununterbrochen Anrufe empfingen; manche verfügten über ein gelbes Lämpchen, das bei Anruf aufflackerte. Die älteren Damen schauten sich, den Hörer ans Ohr gedrückt, im Saal um. Frederick folgte ihren Blicken; die Anrufer schwenkten, den Hörer am Ohr, ihr Taschentuch, kurz, aus dem Handgelenk. Die Damen winkten zurück oder legten auf oder taten beides auf einmal, ganz verstand er die Sache nicht.

Peinlich war Frederick nur, daß Adele sich neben ihm vor Lachen krümmte; es brachte ihn auf, denn er fühlte sich verraten. In ihrer kindlichen Ausgelassenheit unterschied sie sich von den anderen Besuchern nicht im geringsten. Gerade deswegen wollte er sie zurechtweisen – wenngleich er wußte, daß sie sich nichts bieten ließ, schon gar nicht von ihrem jüngeren Bruder.

Frederick gab sich weiter unbeteiligt, ließ sich nichts von seiner wachsenden Abscheu anmerken, auch dann nicht, als er über das Gesicht seiner Mutter, die neben Adele saß und ihren Hut auch jetzt nicht abnehmen wollte, ein Lächeln huschen sah. Es focht ihn nicht an. Zumindest wollte Frederick das denken. Er versuchte sich einzureden, daß seine Mutter den Schwindel hier durchschaute und daß es ihr deshalb nicht im Traum einfiele, den Hampelmann von Direktor auf Adele und ihn anzusprechen; denn nichts anderes beabsichtigte Ann.

Im Saal wurde es still, Frederick blickte zur Bühne, wo nun, da das ältere Paar abgetreten war, ein alter Tänzer sich anschickte, seine Nummer zu geben. Schon nach den ersten Drehungen aber wurde er vom Publikum verspottet, mit groben Schmähungen bedacht, alsbald mit Münzen beworfen, worauf er sich unbeeindruckt verneigte und ohne weiteres abtrat. Dem Jungen, dem der Zigarettenrauch im Saal zusetzte, war, als ob ihn der Tänzer vor der Verbeugung angeschaut hätte. Er empfand das als beunruhigend, sowohl die Unklarheit darüber, ob wirklich ihm die Verbeugung gegolten hatte, als auch die Tatsache, daß ihn das peinlich berührte. Weshalb sollte sich jemand vor Frederick verneigen?

Der alte Tänzer, ein fast kahler, hagerer Mann in ausgebeultem Frack, schien ihm auch noch zugelächelt zu haben, bevor er die Bühne verließ. Dem Jungen kam das zumindest so vor, nicht wahr, Frederick? Er wusste vielleicht noch nicht, daß er tatsächlich gemeint war, persönlich gemeint, aber er ahnte sehr wohl schon, was da noch kommen würde von dem Alten da – eine Ahnung von künftigem Unglück, ein Ende mit Schrecken? Dabei war er doch noch ganz am Anfang, Frederick, und es wollte ihm nur gerade vorkommen, als ob dieser abgewrackte Tänzer noch etwas für ihn bereithielte, etwas Großes, Unermessliches; was soll’s werden, Frederick?

Das hier hatte gar nichts mehr mit den Damenkränzchen zu tun, bei denen Adele und Frederick bei Bedarf in bunten Kostümen tanzten und steppten, nichts mit dem kleinen Ballsaal der Alvienne Master School of the Theater and Academy of Cultural Arts, der Tanzschule, in der sie jeden Tag, oft von früh bis spät, Schritte einstudierten, vor den weiten Spiegeln Sprünge übten, gemeinsam mit den anderen, viel älteren Schülern gelegentlich kurze Nummern zur Aufführung brachten – zwei Geschwister, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können. Adele ließ nichts aus, während ihrem Bruder schon früh eine Distanz zur Welt – zumindest zur Welt seiner Schwester – eignete. Wenn sie tanzten, gaben sie ein seltsames Bild ab, der auch mit Zylinder um einen Kopf kürzere Junge und seine bereits mit dem Spiegel kokettierende Schwester, die ihm nicht nur dieser Unterschiede wegen überlegen war: ihr inneres Feuer schien heller zu brennen.

Ann ließ die beiden üben und wieder üben, wollte so bald wie möglich auf die Zuwendungen von ihrem Gatten Fritz aus dem fernen Omaha verzichten können, sie schien dabei – wie der dem Alkohol zugeneigte Fritz auch – ihre Hoffnungen auf Adele zu setzen. Frederick steuerte seinen Teil dazu bei, damit die Kinder als Tanzpaar und eben als Attraktion durchgehen konnten. Daß Frederick seine freudensprühende, allerdings leicht abzulenkende Schwester bald überflügeln und in der Folge jeden anderen in diesem Genre weit hinter sich lassen würde, konnte Ann nicht ahnen. Wer kann so etwas schon voraussehen? Wer kann sagen, was sein wird? Wer wird den Jungen und dann den jungen Mann hegen und pflegen, auf daß der arrivierte Tänzer seine Reife, seine Vollkommenheit auch wirklich erreiche? Sprich schon, Frederick!

Ann strich den Kragen seines Tweedjacketts glatt. Frederick stand auf, kniff seiner Schwester in die Schulter; zu dritt verließen sie den Saal durch die hintere Tür, folgten in dem stickigen, schwarz angestrichenen Flur den kleinen Messingpfeilen, die zur Künstlergarderobe wiesen. Der Flur entließ sie in einen düsteren Raum, der mit langen Vorhängen in mehrere Kojen gegliedert war. Die Kojen hatte man mit runden Spiegeln und Kleiderschränken versehen.

Vom Trubel im Saal war hier nichts mehr zu spüren. Als hätte alle Künstler eine große Müdigkeit, eine Melancholie angefallen, saßen sie herum, rauchten, zogen gemächlich ihre Straßenkleidung an, dem Showbiz oder dem, was sie und das Publikum dafür hielten, den – nackten – Rücken zugewandt. Ann fragte einen Kleinwüchsigen nach dem Direktor, der sie in seinem Büro sprechen wollte. Die Kinder sollten auf seinen Wunsch hin draußen warten. Ann bestand darauf, wenigstens Adele mitzunehmen. Sie blickte Frederick an, strich wieder den Kragen seines Tweedjacketts glatt und bedeutete ihm, sich in eine leere Koje zu setzen.

Die nackten Glühbirnen rund um den Spiegel blendeten ihn. Er wollte sich nicht ausmalen, was es hieße, an diesen unsäglichen Ort zurückkehren, womöglich immer wieder zurückkehren zu müssen. Allein, setzte er sich auf den Holzstuhl und blätterte im Programmheft. Die Künstler, deren Konterfeis darin in Bleistiftskizzen festgehalten waren, bedrückten ihn. Wenn der eigene Name nicht einmal in einem solchen Varieté zuvorderst steht, weshalb sollte man dann noch auftreten, nicht wahr, Frederick? Oder warst du da noch zu klein, um davon angewidert zu sein?

Den Jungen beengten diese Porträts, auch wenn er selbst bloß ahnte, was es bedeutet, beengt und angewidert zu sein von den Ambitionen der Minderbegabten, die in lächerlichen Shows nur gerade diese ihre Minderbegabung zum Besten gaben. War da etwas Vergnüglicheres, als Dilettanten beim Scheitern zuzusehen? Ja, die Begabten in ihrem Scheitern zu verfolgen, das dann einem wirklichen Scheitern gleichkommt. Dem umfassenden Mißerfolg der Begabten beizuwohnen, der Tragödie, ihrer Tragödie, das ist das Größte. Eine große Begabung zu hegen und zu pflegen – bis zum Ende.

Der Junge hatte bis dahin keine Gelegenheit, die Welt des Showbiz, wie Ann sich ausdrückte, kennenzulernen, geschweige, sich in ihr zu bewegen, seine Wünsche und Hoffnungen, so verborgen sie ihm selbst waren, an dem zu messen, was er gerade eben im Saal gesehen hatte – und jetzt nicht etwa vermißte. Die Nummern wirkten keineswegs in ihm nach; in seiner kleinen, kleinen Seele war das Showbiz noch nicht angekommen.

Er nahm sich, sein Gesicht in dem runden Spiegel betrachtend, vor, über die Geschehnisse auf und vor der Bühne in Ruhe nachzudenken, später, zu Hause, in der kleinen Pensionswohnung, die sie in der Stadt der Städte bezogen hatten, nachdem sie von Vater weggegangen waren. Das war Fredericks Art. Er dachte gern in Ruhe nach, schloß sich dazu in seinem Zimmer ein, worüber er hier, in der ihn nicht etwa beängstigenden, in Momenten wie diesen aber aufwühlenden Metropole, nicht mehr verfügte; auf das Privileg des eigenen Zimmers – im Elternhaus in Omaha, Nebraska, noch eine Selbstverständlichkeit – mußte er hier verzichten.

Frederick war dennoch am liebsten allein, er durfte nachmittags in den nahen kleinen Park, der meistens menschenleer war; wenn er unter Leute mußte, dann bitte vor sie hin, tanzend. Oft genug war sich Frederick sein eigenes Publikum, wenn auch ein tobendes, riesengroßes, und sah sich dabei zu, wie er auf dem Pfad im Park hüpfte, lief, steppte. Er empfand das größte Glück auf diesem kurzen Pfad, der für ihn weder Sehenswürdigkeiten noch Schaufensterauslagen, allein die Verheißung bereithielt, mit sich selbst sein zu können, seinen Gedanken nachzuhängen – die ums Tanzen kreisten, um sich als Tänzer, als großen Tänzer, der die Massen mitriß ganz ohne seine Schwester.

Viel mehr hatte Frederick außer diesem Pfad, diesem kleinen Park und der Sonne, die auf sein Milchgesicht brannte und ihn im rauhen Tweed aufheizte, nicht. Er verbrachte die Zeit im Saal des Tanzinstituts, der Alvienne Master School of the Theater and Academy of Cultural Arts, stets mit Adele und Ann, die auch nicht viel anderes hatten als eben den Tanzsaal und das Üben und damit verbunden die Hoffnung auf einen oder mehrere möglichst lohnende Auftritte, große Auftritte, die ihnen den Durchbruch verschaffen oder zumindest – wie Ann hoffte – ein Einkommen sichern würden. Alles drehte sich bei Ann ums Tanzen, und Frederick drehte mit, er tanzte, seit er drei Jahre alt war. Zunächst tastend wie im Dunkeln, dann schneller und hüpfend, bis er zu Springen gelernt hatte. Er zeigte Pirouetten und ging nun auch außerhalb des Tanzsaals mit geradem Rücken, die Hände nah am Körper.

 

Frederick setzte sich auf die Parkbank, betrachtete den dünnen Zweig, den er gerade aufgenommen hatte, sein Blick glitt daran herunter und ruhte kurz auf dem Daumen. Er folgte ihm bis zur Handwurzel, streckte dann schnell die Finger aus, so schnell er konnte, ganz so, wie er auch beim Üben stets so schnell wie möglich die Position öffnete, im Springen Beine und Arme von sich warf, bevor er sie anzog und, wieder Boden unter den Füßen, ein neues Gleichgewicht suchte. Frederick öffnete und schloß seine großgeratene Hand mehrmals, als ob er daraus etwas lernen wollte über seine Drehungen in der Luft.

Claude Alvienne, sein Tanzlehrer, versäumte es nie, ihn daran zu erinnern, daß jede Bewegung von der Hand ausgehe und dann auch wieder in ihr münde – in seinem, Fredericks Fall, wie der Tänzer später noch einsehen und an sich beargwöhnen würde, in seiner viel zu groß geratenen Hand mit den viel zu langen Fingern, die er tunlichst hinter der Taille einer Ginger Rogers oder Rita Hayworth, im Hüfttuch einer Betty Hutton oder Cyd Charisse, bei den Standfotos hinter Eleanor Powell verstecken oder dann auf eine Weise übereinanderlegen sollte, daß seine Hand doch noch als wohlgeformt durchgehen konnte. Folge deiner Hand, hörte Frederick Alvienne immer wieder sagen, folge ihr und gib ihr zugleich vor, was du tanzen willst.

Der Junge wollte seiner Hand ja folgen, allein, er war noch nicht sicher, was er ihr vorgeben mußte. Ein Knirps, der er war, schien ihm jede elegante, vollendete, in welcher Art auch immer ins Schöne gesteigerte, verfeinerte Bewegung oder Geste zwar nicht suspekt oder etwa affig, aber auch nicht gänzlich natürlich, wobei sein Begriff von dem Natürlichen noch weit davon entfernt war, eine erotische Komponente einzuschließen, geschweige eine sexuelle – wenn er beim Üben mit der fast erwachsenen, schönen Tochter des Lehrers, Aurora, auch schon einen roten Kopf bekommen hatte, sich ihr merkwürdig nahe fühlte, am liebsten sich in ihre Arme eingedreht und sie zwischen seine viel zu großen Hände genommen hätte.

 

Bei dem Jungen war der erste Schrecken über das laute Ambiente im Vaudeville verflogen, die Irritation jener Nüchternheit gewichen, die Frederick seit früher Kindheit eignete und ihn nun mit einem Blick in den Spiegel der Koje feststellen ließ, daß sein Seitenscheitel nach hinten hin nicht exakt gezogen war – und daß das bestimmt nur deshalb so war, weil er eines Tages kahl werden würde. Kahle haben auf der Bühne nichts verloren, ohnehin im Leben keine Chance, das wußte Frederick von seiner Mutter, die selbst zwar nicht kahl war – im Gegenteil, eine anziehende Erscheinung –, ihm das mit der Glatze aber immer wieder ins Gedächtnis rufen wollte, als ob sich Haarausfall aufhalten oder sonst wie willentlich beeinflussen ließe; als ob der Tanz, in seiner vollkommenen Version, nicht über jeder Glatzköpfigkeit stünde, als ob der vollkommene Tanz nicht alle Unvollkommenheiten im persönlichen Erscheinungsbild zu überstrahlen vermochte.

Der Junge blickte in den Spiegel und abwechselnd auf die Porträts im Programmheft. Er stellte sich vor, wie sein Porträt in Bleistift wirken würde. Er versank nicht etwa in den Abbildungen. Er fragte sich, was Adele und seine Mutter beim Direktor erreichen konnten. Er blickte wieder in den Spiegel und bemerkte den alten Tänzer, da, am entfernten, schon etwas erblindeten Rand.

Auch der Tänzer sah wohl in den Spiegel, in seiner Koje, genau konnte das Frederick nicht unterscheiden; zumindest sah der Alte nicht zu ihm her. Frederick beobachtete den Mann, der sehr langsam, wenn auch nicht umständlich, die Fliege abnahm und den obersten Hemdenknopf öffnete. Seine Bewegungen wirkten auf den Jungen wie in Zeitlupe, der Mann schien alle Zeit der Welt zu haben. Den Zylinder behielt er an. Er war wohl kahl geworden, über die Jahre, gewissermaßen auf der Bühne, dachte Frederick und drehte sich weg. Ohne hinzuschauen, warf er das Programmheft auf den Schemel unter dem Schminktisch, der eigentlich nur eine Ablage war. Er stützte sich daran ab, schnell stand er auf.

Er wollte nicht, daß der Alte ihn doch noch in den Spiegeln erblickte. Er ahnte, daß der Mann nichts Gutes verhieß, tat das aber als dummes Zeug ab, und das war es ja auch, ganz und gar dummes Zeug. Was konnte ihm ein alter, verbrauchter, in jeder Hinsicht sich und der Welt abgewandter Tänzer schon antun? Eine Person ohne jede Hoffnung auf Zuwendung oder gar Zuneigung, ein Mensch ohne Freude oder echte Freude oder Echtheit im weitesten Sinn, ein abgewrackter Tänzer, von kleiner Begabung, von geringer Fähigkeit zu begeistern.

An Fredericks Fingern klebte blaue Schminke. Er strich sie an der Hose ab. Weshalb er sich in Richtung der Koje bewegte, in der sich der Alte aufhielt, hätte er nicht sagen können. Der Befrackte wirkte auf ihn verstimmt, wenn nicht doch gefährlich. Neugierde war es nicht, was ihn dann in die Koje hineinschauen ließ, eher wollte Frederick etwas hinter sich bringen, eine Art Unterredung. Mutig schritt der Junge in die Koje des Alten, obwohl er gerade noch so etwas wie Furcht vor dessen Erscheinung, Abscheu, einen unbestimmten, starken Ekel empfunden hatte.

Er wollte ihn nun doch konfrontieren, mit der Frage nach dem Blick vorhin von der Bühne aus; sich selbst wollte er dem Befrackten zumuten, Frederick, der nun dastand, mit geradem Rücken und erhobenem Kinn, die Hände in den Hosentaschen, und in den nahen Spiegel blickte, in dem er den Alten wiederfand.

Der Alte übersah ihn. Dann aber wirkte er auf Frederick doch so, als ob er auf ihn gewartet hätte; eine Minute lang, eine Ewigkeit lang, eine Ewigkeit und eine Minute lang. Der Alte befeuchtete den kleinen Schwamm, den er zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt hatte, und wischte sich damit, behutsam, die Schminke von der rechten Wange, indem er den Schwamm am Jochbein ansetzte und zur Kinnlinie hin zog; nach unten, wie jede Bewegung des Alten die Tendenz nach unten zu haben schien, präzise abwärts – präzise wie seine Tanzschritte, abwärts mit dem Nachdruck einer Schwerkraft oder eher noch dessen, das die Schwerkraft erzeugt, ein schwerer dunkler Kern. Daß der Alte noch dasitzt, dachte Frederick, daß er noch von einem Stuhl getragen wird, vom Bretterboden, das mutete ihn seltsam an.

Frederick beobachtete die alte Hand, deren Haut fast schon durchscheinend war und außer den scharfen Konturen der Fingerknochen und Knöchel ein Durcheinander an roten und blauen Linien offenbarte, die, wie ihm schien, lediglich von den vielen Altersflecken zusammengehalten wurden. Und doch war diese Hand schwer; Frederick kam es vor, als ob sie den im Vergleich federleichten Schwamm nur mit großer Mühe zu führen vermochte.

Unwillkürlich streckte der Junge die Finger seiner rechten Hand aus, die er ein paar Mal im Gelenk kreiste. Dann versteckte er sie in der Hosentasche.

Der Alte wusch den Schwamm in der Glasschale auf dem Schminktisch aufs Gründlichste aus. Er beträufelte den bis auf den letzten Tropfen ausgewrungenen Schwamm mit etwas Alkohol, legte ihn am linken Jochbein an, hielt ihn dort fest. Für Frederick sah das kurz so aus, als würde der Alte seine schwere Hand am Gesicht abstützen. Was für ein häßlicher Kerl, dachte der Junge, als sich ihre Blicke kreuzten.

Schminke löste sich unter der Feuchte des Schwamms und sammelte sich am Kinn des Künstlers. Der Alte lächelte, eher mitleidig, schien es Frederick, der noch nicht wußte, daß Neid sich in Mimik und Gestik oft auf eine Weise äußert, die man für mitleidig halten kann. Frederick aber hätte auch nicht gewußt, wofür er bei dem erbärmlichen alten Mann – für welche Begabung denn, für welche, sagen wir, Gnade, nicht wahr, Frederick? – Neid hätte hervorrufen können. Was an ihm war schon beneidenswert?

Dieses Mitleid kannte der Junge nicht, er ließ sich von dem an Häßlichkeit kaum zu überbietenden Alten ohnehin nicht beeindrucken. Er blickte auf dessen zahnlosen Mund und sagte ganz von selbst: Nein.

Nein, wiederholte der Junge und lächelte vor sich hin, lachte dem Alten ins Gesicht, wiegte sich in den Hüften. Es überkam ihn zu tanzen, er hüpfte ein paar Mal, elegant und mühelos, streckte das eine Bein aus, berührte so mit der Schuhspitze gerade noch den Boden; er breitete die Arme aus, drehte auf dem Standbein, zog die Arme ein, drehte dreimal rasend schnell, hielt lachend an: nie und nimmer, sagte er. Die drei Worte begleitete er steppend. Den imaginären Stock legte er sich über die Schulter.

Nie und nimmer würde ihn der Häßliche davon abbringen können zu tanzen; der Junge steppte, eine zwar nicht spektakuläre, aber in ihrer Natürlichkeit beeindruckende Folge von Schritten, perfekt ausgeführt. Der Alte schaute weg, lächelte in den Spiegel, seine schwere Hand auf der Ablage, unfähig, sie nochmals zur Wange zu führen. Er hatte wieder das mitleidige Gesicht aufgesetzt.

Der Alte schloß die Augen, deren Lider – schwarz wie die Nacht, nicht wahr? – er noch abschminken mußte. Er schien verärgert; er hätte dem Jungen wohl am liebsten eine geschmiert, wußte aber allzu gut, daß ihm das zum Nachteil gereichte. Frederick würde sich an ihn erinnern, er würde sich mit einer Ohrfeige ins Gedächtnis dieses feinnervigen Jungen einschreiben. Das war das letzte, was der Alte wollte. Er hegte das Vorhaben, Frederick wiederzusehen; nicht hier und nicht heute, aber früh genug.

Der Junge warf seinen imaginären Zylinder dem Alten vor die Füße, den Stock hinterher, er schälte sich aus dem Frack, faltete ihn und legte ihn auf die Ablage. Der Alte ließ das Kind gewähren. Übermut schätzte er in der Regel – jetzt nicht.

Er blickte weg, als Adele neben dem Vorhang erschien; die aufgebrachte Ann verkündete, als ob es auch den Alten etwas anginge – vielleicht sogar in seine Richtung, wie Frederick einen Moment lang meinte –, daß der Direktor einzig Adele buchen wolle und daß das für die Familie nicht in Frage komme.

Frederick erwiderte den Blick des Alten. Er erreichte ihn aus dem stellenweise erblindeten Spiegel, in den der Alte seine geschminkte Gesichtshälfte schob. Wieder bemerkte Frederick an ihm diese übertrieben wirkende Schwerkraft, die den Alten bucklig machte und herunterzog; und noch immer hätte der Junge nicht sagen können, ob sie nicht doch von dem Befrackten selbst herrührte, von dessen schwerem, dunklem Kern.

Frederick schloß sein Tweedjackett mit dem oberen der beiden Knöpfe und faßte Adeles Hand, ganz so, als ob er seine Schwester zum Tanz auffordern wollte. Sie ging nicht darauf ein; ihre Ausgelassenheit war jener Traurigkeit gewichen, die sie, seit sie Omaha verlassen hatten, manchmal überkam und ihr Gemüt für Stunden verdunkelte.

Frederick und Adele erreichten an der Hand ihrer Mutter den Künstlerausgang. Ihr erster Vertrag erwartete sie anderswo; bald schon würden sie als tanzendes Kinderpaar auf Achse sein. Mit der Eisenbahn, quer durchs Land, quer durch den Kontinent, ab in die Provinzstädte mit ihren baufälligen Vaudeville-Theatern.

Ann stieß die Tür mit einem Tritt auf. Ein paar Schritte neben dem roten Baldachin des Varietés wurden sie von dem schlechten Atem empfangen, den New York nun einmal verströmte – Broadway, 1905, im Überschwang des bunten Lichts.

2

Frederick schnellte mit dem Driver den kleinen Ball in den morgendlichen blauen Himmel und schaute ihm nach, bis der fliegende Punkt, am Ende seiner elliptischen Bahn, im Grün des ersten Lochs angekommen war. Seine Augen schmerzten, er hatte einen Moment lang in die hochstehende Sonne geblickt, die kalifornische Sonne, wie er sie auch in Phyllis’ Gegenwart manchmal nannte; die Sonne, erwiderte seine Frau dann stets, sei überall dieselbe. Frederick drohte ihr damit, im Studio von dieser Zeile zu erzählen; George Gershwin oder Irving Berlin könnten ohne weiteres für ihn und Ginger Like the Sun, You’re the Same Everywhere schreiben, vielleicht einen schnellen Foxtrott, einen Hit zweifellos. Wie pflegte Irv zu sagen? Ein guter Song ist ein erfolgreicher Song. An nichts anderem war Irv interessiert.

Er steckte einen weiteren Holzstift in den Rasen und legte den Ball darauf, der in seiner großen Hand noch kleiner wirkte, ging zwei kurze Schritte rückwärts, streckte die Beine. Frederick setzte seinen schwersten Schläger an, zog auf und traf den Ball mit ganzer Wucht auf die gewünschte Weise. Er lächelte. Die Bewegung beendete er mit einem Zwischenschritt und einer Folge noch kleinerer Schritte in Richtung des fernen Lochs; wie zur Bestätigung dessen, daß ihm auch die Schritte gelungen waren, schlug der Ball nahe am ersten Loch auf, so nahe, daß er Lust bekam, dorthin zu schlendern und mit dem Putter einhändig einzulochen. Er ließ es, schließlich war er hergekommen, um seinem – ohnehin perfekten – Abschlag zu frönen.

Wieder steckte er einen Holzstift in den Rasen und entnahm der kleinen Ledertasche, die er seitlich an der Hüfte trug, einen kleinen Ball, legte ihn auf den Stift, ging zwei Trippelschritte rückwärts, holte aus; aber er schwang den Driver diesmal nicht, setzte die Ausholbewegung statt dessen ganz langsam fort und führte den Schläger von hinten zum Ball zurück. Er wiederholte die Kreisbewegung, dann nochmals. Er ging die kurzen Schritte von vorhin, kombinierte sie mit der Schlägerbewegung; das könnte es sein, dachte er. Danach hatte er gesucht.

Immer schon hatte er sich gewünscht, im Film eine Golfspieler-Nummer zu geben, eine, die auch den Golfern genügte, nicht bloß ein Herumfuchteln mit dem Schläger darstellte , eine Albernheit im Freien; am besten gleich in seinem grünen Sweatshirt, in der grauen Flanellhose und einem Paar aus jener Reihe gleichartiger schwarzweißer Golfschuhe, die er hier an der Westküste in der Garage der Villa aufbewahrte. Eine echte Golf-Nummer sollte das sein, daran war ihm gelegen, am liebsten in einem Farbfilm, den er – begeistert von der neuen Technologie, den satten Farben, der bunten Welt im Kino – herbeisehnte wie sonst vielleicht nur den Sieg seiner Galopper in den wichtigsten Rennen. Er pflegte ihnen auf der Ehrentribüne zuzujubeln, die lächelnde Phyllis neben sich, bevor sie zum Jockey hinunterrannten, um ihn, gleichviel ob bei Sieg oder Niederlage, zu beglückwünschen.

Ein Film in Farbe, dachte Frederick auch heute wieder, und er blickte in die Sonne, ganz so, als ob er soeben einen Ball in den Himmel geschleudert hätte und nun die Bahn voraussehen wollte. In Farbe wirke auch die Sonne besser, sagte Phillys gern, und er drohte ihr dann wieder mit einem Refrain in der Art von The Sun Shines Brighter in Technicolor.

Er bemerkte, sozusagen auf dem Rasen, die schwarzen Eindrücke, die die Sonne auf seiner Netzhaut hinterlassen hatte, da und dort neben dem Holzstift auf dem Grün. Er kannte das von den Scheinwerfern am Set, die ihn oft genug blendeten – und es wollte ihm vorkommen, als ob die Flecke, die nun fast schon verschwunden waren, nur entstanden, um ihn an seine Arbeit zu erinnern, an die täglichen Proben. Frederick hatte im Morgengrauen das Studio angerufen und sein Kommen für den frühen Nachmittag angekündigt. Nun saß Hal, der Pianist, gemeinsam mit den vielen Assistenten am Set herum und wartete.

Frederick sah auf, lockerte die Beine, kreiste den etwas steifen rechten Knöchel, wieder tanzte er die Schrittfolge, ganz langsam, dann nochmals und gleich ein weiteres Mal, schneller, stets so, daß er sich von Mal zu Mal der Unterschiede bewußt war: eine schnelle Drehung des Schlägerschafts, nun den Kopf etwas geneigt; nein, nicht so, beides fand er affektiert.

Freie Tage legte Frederick während der Proben nur sehr selten ein, das hätte seinem äußerst pflichtbewußt zu nennenden Wesen nicht entsprochen, er arbeitete sehr hart. Man mag das für eine Tugend halten, ja. Wenn aber wie heute sein Knöchel schmerzte, stieg er in seinen fabrikneuen silberfarbenen, offenen Jaguar SS 100, Baujahr 1936, und fuhr nach Bel Air; an diesem sonnigen Morgen mit dem Ersatzwagen des Händlers, weil bei seinem eigenen Sportwagen die schadhaften Ventile ausgetauscht werden mußten und er keine Lust auf den schwarzen Rolls hatte, mit dem er und Phyllis die Gegend unsicher machten – wie sie sich auf den Küstenstraßen, mit Sonnenbrille und Kopftuch ausgestattet, gern ausdrückte.

Frederick ließ sich von einer blutigen Ferse oder gestauchten Zehen nicht beirren, aber um seine Knöchel war er besorgt; sein Klacken durfte beim Steppen niemals leise, mußte hart und laut wirken, auch wenn er an manchen Tagen dadurch Wadenkrämpfe bekam. Anmerken ließ er sich so oder so nichts, Frederick machte kein Aufhebens um seinen Beruf. Hier und jetzt aber war ihm danach, die Golf-Nummer, die ihm schon als jungem Tänzer vorgeschwebt hatte, zu entwickeln, zumindest den Auftakt, in den Grundzügen. Er prägte sich die erste Schrittfolge ein, säuselte The Sun Shines Brighter in Technicolor.

Er fragte sich, wie er Mark die Golf-Nummer unterjubeln konnte; außer dem Regisseur war da noch Ginger, die überzeugt werden mußte. Alleingänge hinterfragte seine Partnerin, nicht erst jetzt, vor den Dreharbeiten zu ihrem neusten RKOCarefreeHypnotic Dance