Cover

Eshkol Nevo

Die einsamen Liebenden

Roman

Aus dem Hebräischen
von Anne Birkenhauer

Deutscher Taschenbuch Verlag

Über Eshkol Nevo

Eshkol Nevo, geboren 1971 in Jerusalem, gehört zu den wichtigsten Schriftstellern seines Landes. Sein Werk, das bei dtv vorliegt, wurde, auch international, vielfach ausgezeichnet. ›Vier Häuser und eine Sehnsucht‹: 2005 Shortlist des bedeutendsten Literaturpreises in Israel, des Sapir Preises, 2008 Prix Raymond Wallier des Salon du Livre in Frankreich. ›Wir haben noch das ganze Leben‹ (Golden Book Prize, Israel 2007, Premio Adei Wizo, Italien 2011), war auch in Deutschland ein Bestseller. ›Neuland‹: 2012 »Book of the Year«-Steimatzky Prize. Eshkol Nevo ist Gründer und Leiter des wichtigsten creative writing workshop in Israel und lebt mit seiner Familie in Ra'anana/Israel.

 

Anne Birkenhauer, 1961 geboren, studierte Germanistik und Judaistik und lebt seit 1989 in Jerusalem. Ihre Übersetzungen u. a. von Aharon Appelfeld, David Grossman, Dan Pagis, Yaakov Shabtai wurden vielfach ausgezeichnet: 2010 zusammen mit David Grossman internationaler Literaturpreis Albatros, 2011 Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung von der Akademie für Sprache und Dichtung. 2014/15 hatte Anne Birkenhauer die August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessur für Poeik der Übersetzung an der Freien Universität Berlin inne.

Über das Buch

Die Stadt wird die »Stadt der Gerechten« genannt. Ein Ort, so scheint es, an dem sich lauter Meschuggene sammeln. Mandelsturm zum Beispiel, ein Amerikaner, der nach dem Tod seiner Frau der Stadt eine Mikwe, ein Ritualbad, stiften will; oder Naim, der liebestrunkene arabische Bauunternehmer, der das Tauchbad bauen soll, stattdessen aber der Spionage verdächtigt wird und es so fertigbringt, dass aus dem geweihten Becken ein Stundenhotel wird ...

 

In dem Viertel, in dem Moshe lebt, wohnen hauptsächlich Neueinwanderer, die meisten kommen aus Russland, vom Judentum haben sie keine Ahnung, Träume aber haben sie viele: Sie hoffen auf einen Neuanfang, auf Heimat, auf Zugehörigkeit. Moshe ist ein ehemaliger Kibbuznik, der später Offizier mit geheimer Mission wurde und noch später - nach schwerer Krise - ultraorthodox. Jetzt ist er verheiratet, Vater zweier Kinder, Berater des Bürgermeisters. Könnte alles gut sein. Aber Moshe hat Erinnerungen, die sind wie eine Heimsuchung. Vor allem an Ayelet, die Unvergessene seine Jugendliebe, die er nun, sieben Jahre nach der Trennung, endlich wiedersieht ...

 

Eine turbulente und witzige Komödie der Irrungen um Einwanderer und Einzelgänger, Reisende und Zurückkehrende, um Lebenskrisen und um die Suche nach Sinn, wenn der Glaube verloren gegangen ist.

Impressum

Deutsche Erstausgabe 2016

© dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© 2013 by Eshkol Nevo

Published by arrangement of the Institute for the Translation of Hebrew Literature

Titel der hebräischen Originalausgabe: ›Ha mikwe haacharon be Sibir‹

Erschienen 2013 bei Kinneret, Zmora Bitan, Israel

© der deutschsprachigen Ausgabe: dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: Wildes Blut, Atelier für Gestaltung, Stephanie Weischer unter Verwendung eines Fotos von Trevillion Images / Heather Evans Smith

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-42879-8 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-26088-6

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423428798

Für Anat

1 Man würde erwarten, dass eine Geschichte wie diese kolportiert wird, dass sie in Treppenhäusern und Schlafzimmern geflüstert, von Generation zu Generation mit allen Details weitergetragen wird – doch, o Wunder, sie hatte sich kaum ereignet, da sprach man schon nicht mehr von ihr. Obwohl es Zeugen, ja sogar Augenzeugen gab, sprach keiner mehr von ihr, weder auf Hebräisch noch auf Russisch oder Amerikanisch, als habe man beschlossen, den Skandal mit feinen Zeitflöckchen zu bedecken, mit Sekunden über Sekunden, die sich zu Minuten aufhäuften wie Schnee. Ohnehin hätte diese Geschichte niemand geglaubt.

Würde man aber – einmal angenommen – um Mitternacht eine Leiter an die Westwand des Gebäudes der Stadtverwaltung lehnen, diese flink Sprosse für Sprosse erklimmen und beherzt gegen das richtige Fenster drücken – man müsste es gar nicht einschlagen, Reuven vom Archiv lässt es gern angelehnt, damit etwas frische Luft hereinkommt –, so fände man nach dem Betätigen des Lichtschalters mühelos in der zweiten Reihe eines unteren Regalfaches den schon etwas abgegriffenen Ordner »Spenden 199394«, und darin nach kurzem Blättern einen ganz offiziellen Brief von Jeremiah Mandelsturm, Hilborn, New Jersey, an den Bürgermeister der Stadt.

Dieser Brief ist, der Leser sei gewarnt, zwar offiziell, aber keineswegs kurz. Es scheint, als sei es Jeremiah Mandelsturm ergangen wie manch anderem, der die Feder übers Papier führt: Die Feder begann, ihn zu führen. Vielleicht hat auch die Einsamkeit, die der Urgrund aller Dinge ist, das ihre dazu beigetragen. Jedenfalls ließ sich Herr Mandelsturm, obwohl er ursprünglich einen kurzen und pragmatischen Brief hatte verfassen wollen, auf den ersten beiden Seiten hinreißen, seine selige Frau Gemahlin zu beschreiben, und seine Zeilen waren nicht kurz und bündig, sondern lang und gewunden wie sein Verlangen nach ihr. Er begnügte sich nicht mit Phrasen – schrieb nicht, sie sei »eine Gerechte« gewesen, »eine tüchtige Frau, nur schwer zu finden«, sondern erzählte seinem Leser nach und nach kleine Begebenheiten aus ihrem gemeinsamen Leben: Ihre erste Begegnung auf der Beschneidungsfeier der Frischbergs, bei der sie beide so verlegen gewesen waren; sie hatte etwas abseits gestanden, unfähig, den entscheidenden Moment mit anzuschauen, und er hatte sich nach ihr umgewandt, unfähig, sie nicht anzuschauen. Oder: Ein Jahr später, ein Abendspaziergang vom Westvillage zum Hudson, während dessen sie ihm all ihre Träume erzählte und ihm dann erklärte: Du musst wissen: Ich bin nicht so eine, die mit ihrem Geliebten am Ufer des Hudson spazieren geht und ihm all ihre Träume erzählt, nur um zwei Monate später von ihm schwanger zu werden und auf alles, was sie vorhatte, zu verzichten, und er hatte gesagt, God forbid, wie kommst du darauf, aber tief in seinem Herzen war er stolz gewesen, denn das war im Grunde das erste Mal, dass sie ihm – freilich auf ihre ganz eigene Art – gesagt hatte, dass sie ihn liebe. In den folgenden vierzig Jahren hatte sie ihm nur selten Liebeserklärungen gemacht, doch wenn sie es tat, dann konzentriert und mit Andacht, wie im Gebet. In den Zeiten dazwischen konnte er sich nach dem nächsten Mal sehnen, aber jetzt, nachdem sie gegangen war, gab es nichts mehr, wonach er sich sehnte.

Ja, manchmal schaue sie ihn aus den Augenwinkeln seiner Kinder an, schrieb er, und seine Enkelin, die kleine Tochter seines Ältesten, lächele genau wie sie und ziehe auch die Augenbrauen genau wie sie nach oben, wenn sie staune, aber Amerika sei eben nicht Israel, you must understand, in Amerika leben die Familien zerstreut wie Tonscherben und nicht wie Puzzlesteine, und in dem halben Jahr zwischen dem Neujahrsessen und dem Sederabend des Pessachfestes suche er vergebens nach einem Sinn in seinem Leben, ein Tag klebe am anderen; nicht einmal der Mammon, an dessen Anhäufung er all die Jahre Tag und Nacht gearbeitet habe, sei ihm mehr Anreiz, und deshalb habe er sich nun etwas überlegt: Er wolle seiner geliebten Frau Gemahlin ein Denkmal setzen, und zwar durch den Bau eines rituellen Tauchbades in der Stadt der Gerechten.

Im letzten Sommer hatten seine Frau Gemahlin und er die Stadt der Gerechten besuchen wollen; sie hatten die Tickets schon gekauft und auch die englische Ausgabe des Vollständigen Führers zu den Gräbern der heiligen Zaddikim, doch dann, an einem Sonntag, als er gerade in der Wochenendausgabe der Zeitung blätterte, hörte er ein dumpfes Geräusch aus dem Schlafzimmer. Wie eine Faust, die in einen Sack schlägt.

Über diesen Moment wolle er sich nicht weiter auslassen. Er könne es nicht und werde es vermutlich niemals können. Stattdessen komme er nun zur Sache.

Wie gesagt, hege er die Absicht, der Stadt der Gerechten ein neues Tauchbad zu stiften, eine koschere Mikwe; er werde alle damit verbundenen Ausgaben übernehmen und habe nur eine Bedingung, die weniger eine Bedingung als vielmehr eine Hoffnung sei, die in ihm wie die Flamme eines Seelenlichts in seinem Glasbecher pulsiere: dass das Gebäude mit einer Tafel über dem Eingang, die den Namen seiner Frau trage, bis zum kommenden Sommer fertig sein werde, in dem er vorhabe, so Gott will, das Heilige Land zu besuchen.

*

Von dem Tag an, an dem er sich eine Kippa aufgesetzt hatte und hinauf in die Stadt der Gerechten gefahren war, gab sich Mosche Ben Zuk redlich Mühe, sich selbst als einen zu betrachten, der neu geboren war und nun aus sicherem Abstand auf seine früheren Begierden blickte. Doch trotz aller Anstrengungen hatten sich in ihm noch einige alte Neigungen gehalten, aus seiner Zeit als Kibbuznik mit gebrochenem Herzen und als Offizier des Nachrichtendienstes in dem Geheimen-Militärcamp-das-jeder-kennt. Noch immer sammelte er wie besessen Landkarten, summte leise die rockigen Songs von Shalom Hanoch, rauchte nach dem Mittagessen eine Noblesse und verscheuchte mit der Hand Ayelets Geruch, der ihm in die Nase stieg.

Es war nicht Zimt, auch nicht der Duft eines bestimmten Shampoos, sondern einfach ihr Geruch. Jedes Mal, wenn er ihn wahrnahm, obwohl er genau wusste, das konnte ja nicht sein, wie denn auch, ob im Supermarkt am Kühlregal mit den Milchprodukten, ob auf dem Spielplatz bei den Schaukeln oder – wie von der Hand des Versuchers – beim Beten in der Synagoge, verscheuchte er ihn mit einer energischen Handbewegung, doch seine Augen, die suchten weiter nach ihr: Vielleicht würde sie ja trotz allem …

An diesem Morgen trägt ein kalter Winterwind Ayelets Geruch in seinen Wagen. Er schließt sofort das Fenster, was seine Lage nur verschlimmert, jetzt ist er eingeschlossen mit ihrem Geruch, allein mit ihr in einem Raum. So öffnet er das Fenster wieder und schaut ängstlich in den Seitenspiegel, in den Rückspiegel und wieder in den Seitenspiegel, vergewissert sich, obwohl es wirklich nicht sein kann, wie denn auch –, dass sie, Gott behüte, zurückgekommen ist, schaut schließlich wieder auf die Straße und gibt mächtig Gas. Er kennt sich schon – das Beste für ihn ist jetzt, so schnell wie möglich zur Arbeit zu kommen. Da kann er seine Nase in die Probleme anderer Leute stecken.

Als persönlicher Assistent des Bürgermeisters in allen Angelegenheiten besitzt Ben Zuk ein geräumiges Büro, an dessen Wänden er unglaublich viele Karten aufgehängt hat: solche, die man dort erwartet hätte, wie die »Karte der Synagogen« oder die »Karte der Talmudschulen«, sehr interessante Karten wie die der »Jährlichen Zuwendungen« und auch völlig überflüssige, die seiner puren Lust am Kartenzeichnen entsprungen sind, wie die Karte »Konzentration von Pkws der Marke Subaru nach Baujahr in der Stadt der Gerechten« oder seine »Städtische Karte der Sonderlinge«.

Zu den wöchentlichen Ratssitzungen kommt er immer etwas früher, hängt im Besprechungssaal seine Karten an die Wand und darüber, sorgsam aufgerollt, die Folien, die er während der Diskussion herunterlassen wird – die habe ich zufällig schon vorbereitet –; so auch vor dieser Sitzung, die wegen der Anfrage des spendenfreudigen Witwers Jeremiah Mandelsturm anberaumt wurde.

Die gegenwärtige Situation ist folgende, erklärt Ben Zuk, indem er von seinem Stuhl aufspringt und mit einem langen schmalen Stock willkürlich auf verschiedene Punkte der »Karte der rituellen Tauchbäder« schlägt. Die Wucht der Schläge lässt die Anwesenden jedes Mal zusammenzucken. Ben Zuk ist ein Mann von gedrungener Figur, in dem sich widersprüchliche Triebe drängen. Seine Muskeln sprengen beinah die Ärmel seines Hemdes, so dass die Leute fälschlich annehmen, er trainiere mit Gewichten. Tief liegende Augen, ein durchdringender, glühender Blick. Die ewigen Bartstoppeln auf seinen Wangen rühren nicht etwa davon, dass er sich nicht anständig rasiert. Schon Sekunden, nachdem er fertig ist, beginnen sie wieder zu sprießen.

Tut mir sehr leid, sagt Ben Zuk, spaziert dabei mit seinem Stock über die Karte, ich würde dem Wunsch des ehrenwerten Herrn Mandelsturm gerne nachkommen, aber es gibt in der Stadt einfach keinen Platz für ein weiteres Tauchbad. Wir haben bereits die höchste Mikwendichte im gesamten Nahen Osten aufzuweisen, pro Quadratmeter und auch pro Kopf.

Was soll das heißen, »es gibt keinen Platz«, fragt der Bürgermeister in seinem Sitzungston, einem spöttischen, leicht tadelnden Ton mit unterschwelligem, aber deutlich spürbarem Gewaltpotenzial. (Avraham Danino beherrscht auch einen ganz anderen Ton, den er sich jedoch für persönliche Gespräche aufhebt, der ist weich, väterlich, geradezu vertrauensvoll. Obwohl Ben Zuk schon zwei Jahre für ihn arbeitet, hat er sich noch immer nicht an diese Wechsel im Tonfall gewöhnt.)

Wenn es keinen Platz gibt, Ben Zuk, sagt Danino und schlägt dabei mit der flachen Hand leicht auf den Tisch, dann schaffen wir eben einen. Wie schon Herzl sagte: Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.

Aber selbst wenn wir Platz schaffen würden, Herr Bürgermeister, ergibt sich ein weiteres Problem, sagt Ben Zuk und rollt eine Folie über die Karte. Wie Sie sehen können – wieder bohrt er den Stock in die Karte –, herrscht momentan, und die Betonung liegt auf momentan, in Bezug auf die Anzahl der rituellen Tauchbäder ein ungefähres Gleichgewicht zwischen den verschiedenen religiösen Strömungen in der Stadt. Würden wir irgendwo eine Mikwe hinzufügen, würde dieses Gleichgewicht aufs Empfindlichste gestört.

Die Mitglieder des Rates, dessen Zusammensetzung jene heilige Balance zwischen den verschiedenen Strömungen spiegelt, nicken eifrig. In der Tat ein echtes Problem.

Was schlagen Sie dann vor?, fragt Danino und richtet seine traurigen grünen Augen auf Ben Zuk. (Von einem Bürgermeister erwartet man keinen so traurigen Blick. Immer wieder hat Ben Zuk beobachtet, wie die Traurigkeit in Daninos Augen Leute aus der Fassung brachte, besonders, wenn sie ihm zum ersten Mal begegneten.)

Mir ist es ernst, sagt Danino, schon deutlicher im Ton, was ist Ihr Plan? Dass wir Mandelsturm sagen, wir wollen seine Mikwe nicht? Er soll sie wieder einpacken und einer anderen Stadt spenden?

Offen gesagt, beginnt Ben Zuk, während er eine weitere Folie über die Karte rollt, …

Ach, lassen Sie mich doch mit Ihren Karten in Ruh!, schimpft der Bürgermeister und vergräbt seine Hand tief in der Hosentasche. (Während die meisten Männer nur die Daumen in die Taschen stecken, vergräbt Avraham Danino immer alle vier Finger darin, bis sie beinahe oder auch tatsächlich sein Geschlecht berühren, und lässt nur die Daumen draußen hängen.) Eine Lösung will ich von Ihnen!, schreit er seinen Assistenten nun an, trommelt dabei mit den Daumen auf seine Gürtelschnalle. Ei-ne Lö-sung!

Wenn man ihn anschreit, verstummt Ben Zuk, er schrumpft auf die Größe des externen Kibbuzkindes, das er war. Wird zu einem, den beim Basketball niemand in seine Mannschaft wählt, obwohl er gar nicht so schlecht spielt, zu einem, der schon bei den ersten vormilitärischen nächtlichen Übungen in eine Sickergrube fällt und sich geniert, um Hilfe zu rufen, weil er schon weiß, wie die andern dann feixen. Zu einem, der lieber die Klappe hält, weil keiner ihn ernst nimmt, egal, ob er prima Ideen hat.

Augenblick mal, wenn Sie erlauben … was ist denn mit diesem Areal hier?, fragt plötzlich der Vertreter des Innenministeriums, ein ernsthafter, bescheidener junger Mann. Man hat ihn vor zwei Jahren aus der Heiligen Stadt hierher entsandt, um den Karren aus dem Sumpf zu ziehen, nachdem bei der Stadtverwaltung finanzielle Unregelmäßigkeiten ruchbar geworden waren.

Wo?, fragt Ben Zuk und peitscht mit dem Stock auf die Karte, hier? da? dort?

Der Vertreter des Innenministeriums springt von seinem Platz auf, tritt an die Karte und legt seine Hand auf ein Stückchen Niemandsland zwischen der Stadt und dem Militärcamp. Und tatsächlich gibt es dort nichts. Ein völlig tauchbadfreies Gebiet.

Also wirklich, sagt Ben Zuk, lehnt den Zeigestock an die Wand, wollen Sie eine Mikwe in Sibirien bauen?

Alle Anwesenden kichern. Außer dem Bürgermeister, der seine Hand aus der Tasche zieht, flach auf den Tisch schlägt und sagt: Genau das werden wir mit Mandelsturms Spende tun. Wir errichten die erste Mikwe in der Geschichte Sibiriens, ich meine natürlich im Viertel Ehrenquell. Dann werden alle Quellen sprudeln, und unser Problem mit Jeremiah Mandelsturms Bitte ist gelöst.

Ben Zuk kann es nicht fassen. Was sollen die denn mit einer Mikwe? Bei denen weiß man ja nicht einmal, ob sie wirklich Juden sind.

Ben Zuk, Ben Zuk, sagt der Bürgermeister mit einem überheblichen Lächeln, es ist nie zu spät, sich zu bekehren; das müssten Sie eigentlich am besten wissen! Gehen Sie morgen dorthin und suchen Sie uns ein passendes Gelände.

Aber Avraham, ich meine, verehrter Herr Bürgermeister, die Frauen dort sind alle über sechzig, sie sind längst nicht mehr in dem Alter, in dem –

Dann bauen wir auch einen Flügel für die Männer. Ich erwarte, dass dieses Tauchbad bis zum Sommer steht, Ben Zuk. Genau, wie es unser großzügiger Spender erwartet.

*

Zwei Jahre zuvor, an jenem Tag, als die neuen Einwanderer in die Stadt kamen, war der Unterricht in den Schulen um elf Uhr beendet worden. In ordentlichen Reihen waren die Schulkinder zur Hauptstraße marschiert. Auf ihren mit Filzstift beschriebenen Schildern stand »Let my people go« oder einfach nur »Willkommen!«. Viele Arbeitslose hatten ihren Müßiggang unterbrochen und sich zu diesem historischen Empfang eingefunden; stolz trugen sie Fotografien von Refuseniks. Flinke Straßenverkäufer boten heiße Maiskolben und Saft mit zerstoßenem Eis feil, und unten in ihren Verkaufswagen lagerten schon kleine Flaschen billigen Wodkas, für den Fall, dass sich die Gerüchte über die Neuankömmlinge bestätigen sollten. Fünf Minuten vor der geplanten Ankunft drangen jubelnde Hawa-nagila-Klänge aus eigens auf den Balkonen aufgestellten riesigen Lautsprechern, und eine Gruppe ortsansässiger Pensionäre in Uniformen der Roten Armee, die die Stadtverwaltung aus einem Theaterfundus geliehen hatte, marschierte feierlich und gemessen die Hauptstraße hinunter. Die wartende Menge teilte sich und ließ sie staunend hindurchschreiten, und der Bürgermeister, der die ganze Veranstaltung dirigierte, blickte zufrieden vom Werk seiner Hände in Richtung Wegbiegung, ob die Busse schon in Sicht wären.

Monatelang war Avraham Danino hinauf in die Heilige Stadt gepilgert und hatte gefordert, auch ein paar »von denen« zu bekommen. Alle Städte im Umkreis hätten schon ein Kontingent erhalten, und überall hätte man die neuen Einwanderer äußerst kühl empfangen, was jedoch schnell in ehrliche Anerkennung umgeschlagen sei, als klar wurde, dass sie nicht nur breite Bildung und glühenden Ehrgeiz, sondern auch blonde Frauen und Budgetzuteilungen mitbrachten. Immer wieder hatte Danino mit ansehen müssen, wie die Busse von den Auffangzentren in andere Städte dirigiert wurden und nicht zu ihm. Immer wieder hatte er gebettelt, hatte argumentiert, sie würden sich wegen des Klimas gerade in seiner Stadt wohlfühlen. Und gerade er … also, gerade seine Stadt … sei, mehr als andere Städte, auf frisches Blut angewiesen. Auf eine Energiespritze. Positiven Bevölkerungszuwachs.

Immer wieder war er leer ausgegangen. Bis plötzlich, mit derselben Willkür, mit der man seine Anträge bisher abschlägig beschieden hatte, ein positiver Bescheid aus den oberen Etagen kam: Busse voll Neueinwanderer würden in wenigen Monaten in seine Stadt kommen. Der genaue Termin werde noch mitgeteilt.

Der Bürgermeister war fest entschlossen gewesen, sich diese Gelegenheit nicht entgehen zu lassen. Vor seinem geistigen Auge sah er sie – Marina, Olga, Irina, er hatte noch nicht entschieden, wie sie heißen sollte – als Letzte aus dem Bus steigen. Ihre aufgerichteten Brüste künden vom vielversprechenden Rest, und zwischen all den verheirateten Paaren zieht sie ihren großen Koffer ganz alleine hinter sich her. Ihr Mann ist lieber in Russland geblieben, oder, besser noch, in den Jahren der kommunistischen Herrschaft im Gulag erfroren. Sie ist kein Mädchen mehr, Marina-Olga-Irina. Stabile Beine, starke Schultern, ein überheblicher und zugleich bedürftiger Blick.

Im Grunde wusste er, wie unwahrscheinlich das war. Und auch, dass es sich nicht gehörte. Er wusste, ein Bürgermeister sollte Hightechunternehmen vor seinem geistigen Auge sehen, neue Investitionen, einen Immobilienaufschwung, doch alles, was er sich vorzustellen vermochte, war, wie er auf Marina & Co. zugeht, als sie aus dem Bus steigt, ihr tief in die Augen schaut, ihre hübsche Hand drückt und zu ihr sagt: Schalom. Willkommen in der Stadt der Gerechten. Ich bin Avraham Danino, der Bürgermeister. Stets zu Ihren Diensten – und gleich schickt er sich an, ihr mit dem Koffer zu helfen, und sie lehnt das mit energischem Kopfschütteln ab, sagt aber auf Hebräisch mit schwerem Akzent: Ich wusste nicht, dass es in Israel solche Gentlemen gibt.

Und was, wenn sie seine Hilfe doch annehmen würde? Diese Möglichkeit raubte ihm den Schlaf. Mit seiner Vorliebe für Borekkas und Schokoladenhörnchen war er nicht sicher, wie weit er es mit so einem schweren Einwandererkoffer schaffen würde, deshalb hatte er unverzüglich begonnen zu trainieren. Jeden Abend marschierte er den Pappelweg vom Viertel Ehrenquell, dessen hübsche Häuser schon lange leer standen, bis zum Geheimen-Militärcamp-das-jeder-kennt und wieder zurück. Als er diesen Weg das erste Mal zurücklegte, hatte er seinen Fahrer rufen müssen, weil ihm mittendrin die Luft ausgegangen war. So kaufte er sich Laufschuhe, einen Trainingsanzug mit Streifen an den Seiten und wies das Bauamt an, den vernachlässigten Weg umgehend zu asphaltieren. Und Ben Zuk wies er an, ihn bei seinen Trainingsmärschen zu begleiten.

Er wusste, wenn jemand zuschaut, strengt man sich mehr an.

Beim Gehen hatte er seinem persönlichen Assistenten zum ersten Mal seine Lebensgeschichte erzählt. Als wir nach Israel geflohen sind, sagte er und zeigte gen Osten, sind wir nachts von diesen Bergen hier heruntergekommen. Nissim, mein Bruder, und ich. Wir zitterten vor Kälte, und auch vor Angst. Wenn sie uns erwischt hätten, sie hätten uns umgebracht. Oder uns in Damaskus ins Gefängnis geworfen. Das ist schlimmer als sterben, glaub mir. Es war Winter, so wie jetzt. Und es schneite. Alle paar Meter rutschte einer von uns auf den nassen Steinen aus, und der andere half ihm wieder auf. Erst im Morgengrauen überquerten wir die Grenze. Die Sonne kam raus, es hörte auf zu schneien. Wir sind auf unsere aufgeschürften Knie gesunken und haben die nasse Erde geküsst. Bis heute habe ich den Geschmack der Erde im Mund, wenn ich davon rede. Wie alt wir waren? Ich dreizehn und Nissim elf. Einen Vater hatten wir nicht. Der hatte sich abgesetzt; er ist zurück nach Marokko gegangen, als wir noch klein waren. Meine Mutter sagte immer zu mir: Du bist der Mann im Haus. Und auch in jener Nacht, bevor wir aufbrachen, hatte sie mir die Hand auf die Stirn gelegt und gesagt: Du bist der Erstgeborene, du bist dafür verantwortlich, dass deinem kleinen Bruder nichts passiert. Später, in Israel, hat man uns aber getrennt. Nissim haben sie in ein Durchgangslager für Einwanderer gesteckt. Mich haben sie, weil sie »Potenzial« erkannten, in einen Kibbuz geschickt. Dort war ich ein »Externer«, ohne Familie. Genau wie du, mein Sohn. Was meinst du, warum ich dich beim Bürgermeisteramt eingestellt hab? Glaub mir, es gab Bewerber mit mehr Erfahrung. Aber ich hab mir gesagt: Diesem Jungen werde ich helfen. Mir hat damals nämlich keiner geholfen. Ich habe alles alleine gemacht, Ben Zuk, mit meinen beiden Händen. Wenn ich dich also manchmal anpfeife, dann nur, um dich abzuhärten, kapiert? Yalla, mir geht die Luft aus. Wir kehren um.

Jeden Tag, so hatte Danino beschlossen, würden er und Ben Zuk eine Pappel weiter gehen, bis sie das Wäldchen erreichten, von dem aus man den Manchmal-weißer-Berg sehen konnte. Und tatsächlich arbeiteten seine Muskeln von Mal zu Mal besser zusammen, sein Brustkorb weitete sich, und die Fantasie über Marina & Co. trieb wilde Blüten. Er würde ihr helfen, ihren Platz in der Stadt zu finden. Sie würden ein paar Monate lang ein geheimes Verhältnis haben. Die Körper würden die kulturelle Kluft schon überbrücken. Nach und nach, mit Streicheln. Die Sache mit seinem kleinen Januka würde er ihr nicht erzählen müssen. Warum auch. Sie würde das alles von ganz alleine verstehen und ohne Worte das Eis zum Schmelzen bringen. Und dann würde er sein deprimierendes Haus verlassen und zu ihr ziehen. Schließlich war es noch nicht zu spät für einen Neuanfang. Es war noch nicht zu spät.

Der erste Eindruck entscheidet, sagte Ben Zuk immer. Wir müssen Mängel verbergen und die Vorteile hervorheben. Und vor allem müssen wir ihnen das Gefühl geben, hier sei ihr neues Zuhause. Was will ein Neueinwanderer nach den Beschwerlichkeiten der Reise? Einen Schemel, um seine Beine hochzulegen. Ein heißes Bad gegen die Kreuzschmerzen und ein Kissen für seinen müden Kopf.

Ohne größere Schwierigkeiten gelang es ihm, den verzweifelten Unternehmer, der das Viertel Ehrenquell gebaut hatte, dazu zu bringen, ihm die hübschen kleinen Häuser – laut Prospekt »nach höchsten Standards gebaut und eingerichtet« – zu verpachten. Aufgrund einer wundersamen Erscheinung, die ein Jeremiahu Jizchaki, Bewohner der Stadt der Gerechten, gehabt und auf großen Plakaten publik gemacht hatte, standen sie alle leer, und keiner interessierte sich für sie:

Mir, Jeremiahu Jizchaki, wohnhaft in der Stadt der Gerechten im Block D, wurde vom Ewigen ein Wunder zuteil. Wie mir befohlen, gebe ich den Bewohnern der Stadt folgende Botschaft des verborgenen Zaddik Netanel weiter, der mir nachts im Traum erschienen ist. Er war ganz in Weiß gekleidet, und sein Antlitz strahlte wie das eines Engels. Es ist nicht gut, sprach er zu mir, das Treiben der Menschen an dem Ort, den man Ehrenquell nennt. Ich fragte ihn: Welches Treiben meint Ihr, und warum ist es nicht gut in Euren Augen? Da ergriff er meine Hand und führte mich auf einem Weg zwischen Hügeln hindurch, bis wir das neue Viertel und seine Baugerüste erreichten. Dort wies er mit der Hand auf die Erde, und siehe, sie ward durchsichtig wie Glas. und darunter lag ein Sarg, und unser heiliger Zaddik zeigte darauf und sagte: Dies ist das Hindernis! Ich, Netanel der Verborgene, ich bin hier begraben, und auf meiner Ruhestatt sollen keine Häuser errichtet werden, denn diese Sache ist schlecht in den Augen des Ewigen. Und ich fragte ihn: Was soll ich tun, mein Herr? Und er antwortete: Du sollst die Söhne der Stadt und ihre Obrigkeit warnen, denn an diesem Ort lagert die Sünde, und ein Fluch wird über sie kommen, wenn sie ihn betreten.

Umsonst die Beteuerungen des Bauunternehmers, umsonst die Bestätigungen von offizieller Seite, man habe das Gebiet vor dem Bau des neuen Viertels genauestens untersucht, um sicherzustellen, dass sich dort keine alten Gräber befänden, und während der Bauphase sei man auf keinen einzigen Sarg gestoßen. Umsonst auch die offizielle Erklärung des Ausschusses zur Rekonstruktion alter Gräber, ihnen sei kein Zaddik bekannt, der den Namen Netanel der Verborgene trage, obgleich (und diese Einschränkung war später ausschlaggebend für die Auslegung des ganzen Gutachtens gewesen) es denkbar sei, dass das Attribut »der Verborgene« auf die große Bescheidenheit des Zaddik hindeute, ähnlich wie bei Hannan dem Verborgenen, weshalb man nicht mit absoluter Sicherheit ausschließen könne, dass »Netanel der Verborgene« so bescheiden war, dass er alle Zeugnisse, die darauf hinwiesen, dass er ein Zaddik war, vernichtete. Umsonst war sogar eine investigative Reportage der Lokalzeitung, die aufdeckte, dass besagter Jeremiahu Jizchaki beim Kauf eines Hauses in diesem Viertel den Bauunternehmer von Ehrenquell um einen außergewöhnlichen Preisnachlass gebeten und erst nach dessen abschlägiger Antwort seine wunderhafte Vision öffentlich gemacht hatte.

Die Einwohner der Stadt der Gerechten hegten eine gewisse Ehrfurcht gegenüber derartigen Erscheinungen. Im Laufe der langen Stadtgeschichte hatten sie sich so häufig ereignet wie die Erdbeben, und sie bildeten einen festen Bestandteil in ihrer Überlieferung. Mehr noch: Selbst wer an den hehren Absichten des Jeremiahu Jizchaki zweifelte, scheute sich, ein Haus zu kaufen, das sich in Zukunft vielleicht nicht wieder verkaufen ließe, falls sich der Fluch von Netanel dem Verborgenen tatsächlich erfüllen sollte.

All das brachte Avraham Danino zur Weißglut. Vor Kurzem hatte er sich selbst noch an allerlei Ritualen im Zusammenhang mit den Gräbern der heiligen Zaddikim beteiligt. Er hatte Kerzen angezündet. Hatte bunte Bänder und Plastiktüten an die Äste der umstehenden Bäume geknotet. Hatte Bitten formuliert. Vor allem hatte er gehofft, dass die oberen Welten ihm und seiner Frau eine sehr persönliche Bitte erfüllen möchten, doch dann war das mit Januka passiert, und danach begann er, mit den vielen toten Zaddikim einzeln abzurechnen, und er wartete geduldig auf den Augenblick, in dem er ihnen seine Rechnung präsentieren könnte.

Als Erstes holte er den Segen der Rabbiner ein – die distanzierten sich insgeheim von dem Kult, der sich nach und nach um das Haus von Jeremiahu Jizchaki entwickelte: zugepfropfte Flaschen, die seinen Segen enthielten, Kissen mit dem Aufdruck seines Bildes. Danach besorgte er die Zustimmung des Bauunternehmers, und dann stellte er ein Sonderbudget bereit, um die Häuser auf ihre neuen Bewohner vorzubereiten. Bei mir, erklärte er stolz, müssen die Einwanderer nicht monatelang in Auffanglagern ausharren; bei mir steigen sie aus dem Bus und bekommen auf der Stelle den Schlüssel zu ihrem neuen Haus.

 

Doch die Busse ließen auf sich warten. Drei Stunden waren seit dem vorgesehenen Zeitpunkt ihrer Ankunft verstrichen – und noch immer war kein Bus in Sicht. Längst hatten die Schüler ihre Transparente abgestellt und tobten herum. Die als Soldaten der Roten Armee verkleideten Pensionäre hatten ihre Uniformen abgelegt und waren ins Altersheim zurückgekehrt, um Mittagsschlaf zu halten. Die Straßenhändler ließen die Preise purzeln, doch nicht einmal vier Maiskolben für zehn Schekel fanden Käufer, und wie immer in Momenten der Verwirrung und abgrundtiefen Langeweile kamen Gerüchte auf: Man sagte, die Frömmeren unter den Neuankömmlingen hätten verlangt, an jedem Grab eines Zaddikim, das an ihrem Weg lag, anzuhalten, und nun würden sie sich weiter verspäten, weil sich alle vor jeder Grabstätte niederwerfen wollten. Andere berichteten von einem Verkehrsunfall, bei dem der ganze Bus in ein ausgetrocknetes Flussbett gestürzt sei. Wieder andere nahmen an, die Neuankömmlinge hätten im letzten Moment, als sie die ärmlichen Häuser und das völlig veraltete Einkaufszentrum sahen, vom Fahrer verlangt, sie in eine richtige Stadt zu bringen, in der es wenigstens ein anständiges Einkaufszentrum gäbe.

Um zehn Uhr nachts, zehn Stunden nach der geplanten Ankunft, erschien ein einziger Bus auf dem Berg. Außer zwei verärgerten Männern in Anzügen, die schon am Mittag zerknittert gewesen waren, wartete auf der Hauptstraße keine Seele mehr; ein zu starker und zu kalter Wind spielte mit den am Straßenrand liegenden Willkommensschildern und mit den letzten Musikklängen, die gleichsam in der Luft erstarrt waren. Der Bürgermeister und Ben Zuk näherten sich zögernd der Parkbucht. Das Herz des Bürgermeisters pochte in seinen Schläfen, in seinen Schultern und an einem Punkt im Kreuz, von dem er nicht gewusst hatte, dass es auch dort schlagen konnte. Er zog die rechte Hand aus der Hosentasche und wartete ungeduldig und mit traurigem Blick auf das Zischen der Druckluft, mit dem sich das Öffnen der Türen ankündigte.

*

Beim Einsteigen hatte Katja Anton gebeten, am Fenster sitzen zu dürfen, und er hatte ihrer Bitte, wie immer, nachgegeben. Sie wollte unbedingt den Weg sehen, den sie entlangfuhren, sich jeden Busch einprägen, jedes Straßenschild, jeden möglichen Hinweis auf das, was sie erwartete, doch kurz nachdem der Bus losgefahren war, waren ihr die Augen mit den langen Wimpern – Anton bestaunte sie immer wieder – zugefallen. Bevor sie in ihrem Sitz einschlief, hatte sie einige Weinberge gesehen und ein Tier – es gelang ihr nicht auszumachen, ob es ein Hund war, oder ob die Füchse hier so aussahen – überfahren auf der Straße. Kein gutes Omen! Ein totes Tier auf dem Weg ist kein gutes Omen, pickte die Stimme ihrer verstorbenen Mutter in ihr, und sie brachte sie zum Schweigen, aber nicht ganz, denn die innere Stimme der Mutter bringt man nie wirklich zum Schweigen, und so begleitete die sie auch in einen kurzen Traum: Katja fährt mit ihrem ersten Ehemann in ihrer Geburtsstadt Straßenbahn, und plötzlich, ohne dass da eine Haltestelle wäre, gehen die Türen auf, und Daniel steigt in den Wagen, Danik, ihr Enkel, mit einer Mütze, die sie nicht kennt, und darauf einer Aufschrift in einer Sprache, die sie nicht versteht. Sie breitet die Arme aus, will ihn umarmen, doch er erkennt sie nicht; ihr Enkel tut so, als kennte er sie nicht, und sie wendet sich an ihren Mann, um mit ihm über diese schmerzhafte Kränkung zu reden, doch der ist schon nicht mehr da, ist einfach verschwunden (typisch für ihn, einfach zu verschwinden, denkt sie im Traum), dann hört man den mechanischen Glockenton, der normalerweise die Durchsage der nächsten Station ankündigt, doch statt der schweren, offiziellen Stimme vom Band hört sie das Schelten ihrer Mutter: Kein gutes Omen. Kein gutes Omen. Kein gutes Omen.

Sie wachte auf, als ihr Kopf gegen die Lehne des Sitzes vor ihr schlug. Im Bus herrschte Chaos. Einige Fahrgäste hatten wohl ein allzu menschliches Bedürfnis verspürt – nichts zu machen, das Alter hinterließ seine Spuren – und sich zwecks einer größeren Unterredung um den Fahrer versammelt. Wären Sie bereit anzuhalten, siezten sie ihn höflich auf Russisch. Wir möchten gerne … aussteigen und Tee trinken, sagten sie. Es war ihnen unangenehm, den wahren Grund zu nennen. Doch der Fahrer drehte sich nicht einmal zu ihnen um. Entschuldigung, sagten sie nun etwas lauter und schon weniger höflich, können Sie anhalten? Tee, bitte! Doch der Fahrer schaute sie nur durch den Spiegel an, kratzte sich verlegen an der Nase und fuhr weiter. Stopp! Stopp! Stopp!, rief einer derer, die es sich verkneifen mussten, und erst schien es, als würde der Fahrer dieses Wort tatsächlich verstehen, denn jetzt warf er ihnen einen anderen, entschlosseneren Blick zu. (Dieser Fahrer hatte von Kollegen schon Geschichten über Gruppen von russischen Einwanderern gehört, die sich nachdrücklich weigerten, in die abgelegenen Orte zu fahren, in die man sie verfrachtete, und die den Fahrer zwangen, ins Zentrum des Landes zurückzufahren, und er dachte sich, nein, mir wird das nicht passieren, mir nicht, und gab Gas.)

Diese plötzliche Beschleunigung war in den Blasen der Notleidenden als stechender Schmerz zu spüren und bewog den Mann, der »Stopp« gerufen hatte, sich vor dem Fahrer aufzubauen und auf sein Geschlecht zu zeigen. Jetzt wurde der Fahrer wirklich sauer. Die kannten aber auch gar keine Scham! Er überschüttete den Fahrgast mit der prallen Blase mit einem energischen Wortschwall und wies ihn mit drohenden Gesten an, sich zu setzen. Doch der setzte sich nicht. Mit dem Mut der Verzweiflung zeigte er noch einmal auf sein Geschlecht und beschrieb mit der Hand einen Bogen in der Luft, der hinter der Windschutzscheibe endete.

Der Busfahrer bremste. Davon war Katja aufgewacht.

Etwa die Hälfte der Fahrgäste stieg eilig aus, um sich zu erleichtern. Die Männer fanden Sträucher in der Nähe, die Frauen entfernten sich etwas weiter. Einige Minuten, nachdem sie getan hatten, was zu tun war, bemerkte jemand, dass Anna Nowikowa fehlte. Jetzt verließen alle Fahrgäste den Bus und schwärmten aus, sie zu suchen. Anna, Anna!, riefen diejenigen, die ihr schon dort nähergestanden hatten. Anna Nowikowa, Anna Nowikowa!, riefen die ihr weniger nahestehenden Fahrgäste. Nikita, Nikita, wo bist du nur, wenn man dich braucht?, rief Wladek Gugolski, der vor Jahren als Assistent des Kameraassistenten bei einem Film von Nikita Michalkow gearbeitet hatte. Wäre Nikita hier, sagte er zu Katja, die neben ihm herging, würde er einen Film daraus machen: Eine Gruppe struschkas hält unterwegs zu ihrem neuen Zuhause in Israel an. Da verschwindet plötzlich eine der alten Frauen. Wär’ das nicht ein guter Film, Katja?

Letztlich fanden sie Anna Nowikowa; sie war in eine nicht gekennzeichnete Grabhöhle gefallen.

Ein Jahr später sollte in ebendiese Grabhöhle ein verirrter Talmudstudent fallen und dem Ausschuss zur Rekonstruktion alter Gräber aufgeregt davon berichten. Dieser würde nach einer Reihe von Untersuchungen bekannt geben, dass es sich dabei um das Grab von Salomo, dem Tannaiten, handele, und schon bald würde das Grab zu einem Pilgerort für alle werden, die einen Segen für ihre Geschäfte suchten; eine ganze Industrie bedruckter T-Shirts, Schirmmützen, organisierter Reisen und ganzheitlicher Therapien würde rund um diese Höhle entstehen, bis der Bürgermeister Avraham Danino trotz seiner schlechten Erfahrungen mit all diesen falschen Zaddikim eine ordentliche Zufahrtsstraße dorthin würde teeren lassen, weil ihm keine andere Wahl bliebe.

Doch zum jetzigen Zeitpunkt war der Zugang zu Anna Nowikowa, die sich den Knöchel verstaucht hatte, äußerst beschwerlich, und ihre Bergung dauerte einige Stunden.

Katja betrachtete stolz ihren Anton, der die Bergungsarbeiten dirigierte. (Ihr erster Mann hätte längst einen Vorwand gefunden, sich aus dem Staub zu machen.) Doch sie spürte auch einen Hauch Bitterkeit. Warum hatte sie diesen Mann erst so spät gefunden? Zu einem Zeitpunkt, zu dem er schon nicht mehr konnte … verdammt … in jüngeren Jahren hatte er doch sicher noch gekonnt … aber vielleicht würde ja jetzt, hier im neuen Land … schon durch die ganzen Veränderungen … vielleicht gab es ja noch eine Chance. Sie schlang die Arme um sich und stellte sich vor, es wären seine starken Arme, die sie in ihrem neuen Bett erdrückten.

Später, nachts, als der Bus endlich anhielt, einen Moment, bevor die Türen aufgingen, ergriff Anton ihre Hand, beugte sich zu ihrem Ohr und flüsterte: Wir fangen noch mal neu an, Kutik, in unserem Alter. Hättest du das gedacht?

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Wen habt ihr mir denn hier gebracht? Was sind das nur für Leute!

Zwei Wochen nach der Ankunft des Busses fuhr Avraham Danino, der Bürgermeister, hinauf nach Jerusalem und beschwerte sich. Einen Moment mal, Sie waren es doch, der darum bat, ja darauf bestand! Wie nannten Sie das? Positiven Bevölkerungszuwachs, nicht wahr?, erwiderte der Beamte des Innenministeriums, und Avraham war felsenfest davon überzeugt, Spott aus seiner Stimme zu hören.

Ja, aber ich dachte … ich meine, ich habe doch damit gerechnet …, stammelte er, und gegen seinen Willen erschien vor seinem inneren Auge Marina-Olga-Irina, wie sie auf hohen, aber nicht zu hohen Absätzen in sein Büro kam, um die Erlaubnis für eine bauliche Veränderung zu erhalten, und während sie sich beide über die Skizzen des Bauunternehmers beugten, hob Marina plötzlich ihren Blick zu ihm und sagte, Verehrter Herr Bürgermeister, darf ich Sie etwas fragen? Und er sagte: Fragen Sie frei heraus, und nennen Sie mich Avraham, da streckte sie ihre Hand aus, berührte seine Wangen, streichelte sie langsam, ließ sich viel Zeit damit, und fragte: Avraham, sag mir, warum bist du nicht froh? –

Verdammt. Er musste damit aufhören. Es gab keine Marina. Es gab keine, und es würde auch keine geben. Wie töricht war es von ihm gewesen, in seinem Alter zu glauben, dass eine große Liebe all seine Traurigkeit hinwegspülen würde.

Herr Bürgermeister, so funktioniert das einfach nicht, sagte der Beamte. Sie können uns nicht zwei Jahre lang verrückt machen und es dann bereuen. So geht man nicht mit Menschenleben um.

Aber was mach ich denn mit diesen ganzen …

Das sind allesamt sehr wertvolle Leute. Freiberufler. Es stimmt, die meisten sind schon Rentner –

Die meisten?, rief Danino. Von denen ist keiner unter sechzig!

Aber sie sind sehr selbstständige Leute. Bei ihnen ist es ja sonst üblich, dass die Großeltern bei der Familie ihrer Töchter oder Söhne wohnen.

Ja, und?

Die Einwanderer aus Ihrem Bus sind ältere Leute ohne Angehörige im Land. Oder ihre Familien wollen sie nicht aufnehmen. Solche Menschen müssen entsprechend begabt und voller Tatkraft sein, und ich bin mir sicher, dass sie eine Menge zum Gemeindeleben Ihrer Stadt beisteuern können.

Wo haben Sie die nur aufgelesen? Sagen Sie mir, wo!

Sie hatten sich bereits dort, in Russland, organisiert und einen Sammelantrag gestellt, gemeinsam als Gruppe einzuwandern. Das ist doch schön.

Aber die können ja noch nicht einmal …, sagte Danino und schob die Hände in die Hosentaschen, … noch nicht mal Hebräisch sprechen!

Dann lernen Sie eben Russisch, Danino. Wir bezuschussen Ihren Sprachkurs, wenn Sie wollen, lachte der Beamte und erhob sich von seinem Platz, als Zeichen, dass das Gespräch für ihn beendet war.

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Im ersten Winter, nachdem die neuen Einwanderer ins Viertel Ehrenquell eingezogen waren, schneite es. In der Stadt der Gerechten fiel fast jedes Jahr Schnee, und ab und zu kamen sogar Bewohner aus der Stadt-der-Sünden mit Transportern, um etwas Schnee mit nach Hause zu nehmen und ihren Kindern zu zeigen. Doch in diesem Winter ereignete sich etwas Erstaunliches: Die weißen Flocken schwebten ausschließlich über dem neuen Viertel nieder. So geschah es, dass sich der Schnee in Ehrenquell einen halben Meter und höher auftürmte, während im Rest der Stadt nur ein paar müde Tropfen Regen fielen. Der Briefträger, der einzige aus der Stadt, der das Viertel arbeitsbedingt regelmäßig aufsuchte, kehrte von dort zurück, rieb sich in seinem Wohnzimmer die klammen Hände über den Heizspiralen des elektrischen Öfchens und sagte: Esther, du glaubst ja nicht, was da passiert: Sibirien. Das ist echt Sibirien.

Sibirien, das ist echt Sibirien, erzählte Esther am nächsten Tag ihrer Friseurin Simona, du glaubst ja nicht, was da los ist.

Und da Dinge, die in Simonas Friseursalon erzählt werden, sich gewöhnlich wie Tinte auf Leinen ausbreiten, haftete dem neuen Viertel schon bald der Schimpfname »Sibirien« an und vergrößerte die Distanz zwischen dem Viertel und der Stadt gleich um mehrere Kilometer.

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Jeden Abend, kurz bevor die Sonne hinter den Antennen des Militärcamps untergeht, legt Anton die Hand auf Katjas Schulter und fragt: Kutik?

Sie weiß selbst, dass die Zeit für ihren täglichen Spaziergang gekommen ist, doch sie mag die Berührung seiner Hand und dass er sie Kutik nennt, und so lässt sie ihn führen – in allem anderen hat sowieso sie das Sagen –, und sie lässt sich von ihm auch in den Mantel helfen und die Tür aufhalten.

Unten, auf der Straße, treffen sie die komplette Besatzung des Busses, mit dem sie hergekommen sind. Seit der Busfahrt sind schon zwei Jahre vergangen, doch oh Wunder, noch ist kein Einziger aus ihrer Gruppe gestorben. Manchmal, wenn Katja und Anton ihren abendlichen Glühwein trinken, schließen sie heimlich Wetten ab, wer von den Autobus-Einwanderern als Erster das Zeitliche segnen wird. Immerhin sind sie alle nicht mehr die Jüngsten. Irgendwann muss es den Ersten treffen. Anton verfasst dann einen Nachruf auf den Verstorbenen, und sie lacht Tränen – wie schön er immer seine Worte setzt – und stößt mit einem weiteren Glas mit ihm an, und am nächsten Tag, wenn sie die Treppe hinunter auf die Straße gehen, spüren sie beide insgeheim so einen Spannungskitzel, ob der, dessen Nachruf sie am Vorabend vorgetragen haben, wohl zum Abendspaziergang erscheinen mag. (Einmal beschloss Anton, ihrem Protest zum Trotz, dass ausgerechnet er als Erster sterben würde, und verfasste die Eröffnungsworte für seinen eigenen Nekrolog, und sie wusste, dass er amüsant war, wirklich amüsant, aber zum Lachen war ihr nicht.)

Auf der Straße grüßen sie alle mit dobry wetscher, Guten Abend, und nur den, der hätte sterben sollen, den grüßen sie mit: Mögest du lange gesund bleiben, dolgowo sdorowja wam. Allein oder zu zweit gehen die Bewohner des Viertels zum Pappelweg, manche mit Hunden, keiner mit Kindern; die Kleidung ist noch von dort, die Sprache auch, und sogar der Wetterbericht ist es. Spielmans Transistorradio, das er dicht am Ohr hält, sendet noch immer Radio Moskwa. In ihrem ersten Brief aus Israel schrieb Tanja damals, es sei »so entsetzlich feucht, klebrig und drückend und stickig hier, als würde man in einem Topf Kompott schwimmen«. Doch in dieser Stadt ähnelt sogar das Wetter dem Wetter dort, im Winter beißt es gehörig in Ohren und Nase, und in den Sommernächten ist es angenehm, und das ist noch ein Grund dafür, dass sie unter keinen Umständen zugestimmt hätte, zu ihrer Tochter an die Küste zu ziehen, nicht einmal, wenn Tanja sie eingeladen hätte.

Trotzdem ist es schade, dass ihre Tochter sie nicht einlädt, einfach, damit sie ablehnen könnte, denkt Katja und hakt sich bei Anton ein. Sie gehen auf dem von Pappeln gesäumten Weg, der in ihrem Viertel beginnt und vor dem Eisentor des Militärcamps endet. Rechts von ihnen ein Tal mit Olivenbäumen, links ein Wäldchen mit Zwergzypressen, vermutlich zum Gedenken an jemanden – ach, wenn sie nur das Schild lesen könnte –, und dann steht da der schöne schokoladenbraune Hengst. Am Samstag kommen Besucher her und reiten auf ihm, aber den Rest der Woche ist er alleine, galoppiert bis zum Ende der provisorisch eingezäunten Pferdeweide und wieder zurück. Der Hengst ist dermaßen schön – seine gespannten Muskeln, sein genau im richtigen Maße praller Hintern –, dass Katja manchmal erregende Gedanken kommen, und obwohl sie Anton damit zum Lachen bringen könnte, erzählt sie ihm nicht davon, um nicht Salz in die …

Nach der Pferdeweide kommt das offene Gelände, über das manchmal Fuchsschwänze flitzen. Einmal, als ihr Enkel zu Besuch war, blieb ein Fuchs so nahe bei ihnen stehen, dass Daniel zu ihm hingehen und ihn streicheln wollte. Anton hielt ihn zurück und erklärte ihm, Füchse könnten beißen, man solle sie lieber nicht provozieren, und Daniel fragte: Aber wer streichelt sie dann? Weil alle vor ihnen Angst haben, streichelt sie keiner! Anton sagte, vielleicht mögen sie gar nicht, dass man sie streichelt, wer weiß, und Daniel sagte: Guck doch mal, sein Schwanz, so viel Fell, das ist bestimmt schön zu streicheln, und ging nur widerwillig weiter, schaute sich immer wieder nach dem Fuchs um, und erklärte schließlich wütend: Mensch, Oma, wenn es einmal was Interessantes bei euch im Viertel gibt, dann ist das auch noch verboten! Da hatte sie wieder diese bittere Ahnung, dass er eines Tages keine Lust mehr auf die Wochenenden bei seiner Großmutter haben und nicht mehr kommen würde. Was würde sie tun ohne diesen Funken in seinen Augen, ohne seinen Heißhunger auf Fleisch-piroschki, die sie extra für ihn zubereitete, und ohne seine klugen Fragen: Warum seid ihr nach Israel gekommen? Wegen mir? Das klingt mir aber nicht logisch. Und wie kommt es, dass ihr überhaupt kein Hebräisch könnt? Und wie warst du als kleines Mädchen, Oma? Ein Frechdachs. Und wie war Anton? Und warum wohnst du nicht bei uns? Wie die Babuschkas von Michal und die Babuschkas von Adi?

Nach dem Gelände mit den Füchsen führt eine Wegbiegung zum Miltärcamp. Sie gehen nicht bis zum Tor. Anton möchte das nicht. Uniformen tun ihm nicht gut. Dieser Geruch nach erfrorenen Kartoffeln, den Militäruniformen an sich haben, sagt er, ist überall auf der Welt der gleiche. Einmal waren sie zu nah ans Tor gegangen, da begann er gleich am ganzen Leib zu zittern, die Schultern, die Knie, die Hände. Aber er wollte ihr unter keinen Umständen erzählen, warum. Sie versuchte es mit: Aber Anton … ich möchte dir … wenn du mit mir redest, dann … kann ich dir vielleicht helfen. Doch er antwortete barsch, in einem Ton, der gar nicht zu ihm passte: Ich brauche keine Hilfe, und ich will auch nicht reden. Ich möchte, dass wir jetzt umdrehen. Ist das zu viel verlangt?

Auf dem Rückweg hatte er sich bei ihr eingehakt und wieder in seinem normalen Ton gesagt: Bin ich jetzt etwas mysteriös für dich? Aber das ist gut für die Romantik, nicht wahr?