Über das Buch

Wolf war sieben, als er einen Helm bekam, der ihn vor der Sonne schützen sollte. Er habe die Mondscheinkrankheit, behauptete die Mutter. Ein Arzt deckt die Lüge auf, doch Wolf bleibt einsam. Bis sein Halbbruder auftaucht und ihn hineinzieht in einen Kampf um die Wahrheit seines eigenen Lebens.

Ich schlief nicht. Nicht nachts. Da war ich wach. Ich schlief tagsüber. Meine Mutter war daran schuld. Weil sie dem Arzt geglaubt hatte, der meinte, ich leide an der Mondscheinkrankheit. Meine Mutter glaubte immer allen – dem Lehrer, dem Pfarrer, den Nachbarn, dem Metzger, vor allem aber dem Wahn in sich selbst. Ihre Angst vor Krankheiten war so groß, dass sie schon krank war, bevor sie krank wurde. Oder eben ich.

Ich war sieben, als ich einen Helm bekam, der mich vor der Sonne schützte. Davor lebte ich nur in der Nacht. Ich erinnere mich an Spielplätze im Mondschein. Rutschen in die Dunkelheit. Schaukeln in der Finsternis. Sandkuchen backen im noch sonnengewärmten Sand. Um zweiundzwanzig Uhr. Um dreiundzwanzig Uhr. Um Mitternacht. Dann, wenn alle anderen Kinder schliefen.

Der Strahl der Taschenlampe meine einzige Lichtquelle, wenn der Mond nicht schien. Der Ruf des Waldkauzes ein vertrautes Geräusch. Vertrauter als das Lachen anderer Kinder.

Ich war immer allein. Mit meiner Mutter. Meine Mutter war immer allein. Mit mir. Meine Mutter lebte für mich und zerstörte dadurch ihr Leben. Nicht aber meines. Das versuchte ein anderer.

Der Helm schützte meinen Kopf vor der Sonne. Auch meinen Nacken, meinen Hals. Mein Gesicht. Durch ihn drang keine UV-Strahlung. Auf Dauer sei sie tödlich für mich, hieß es. Die Warzen auf meiner Nase und auf meinen Wangen seien Tumore, glaubte man.

Die Fenster unseres Hauses waren mit einer speziellen Folie abgeklebt. Gegen die Strahlen, die meine Haut schädigten, schon nach kürzester Zeit. Jeden Tag wurde ich eingeschmiert. Ich ließ es zu. Widerwillig, aber ohne Widerstand. Gesicht, Hals, Hände. Mit teurer Sonnenschutzcreme, wie meine Mutter betonte. Geld war ein großes Thema. Dass ich viel koste, bekam ich oft zu hören. Auch, dass ich Ordnung halten solle, um meinen Charakter nicht zu verderben.

Einmal hatte meine Mutter die Sonnencreme in meinem Kinderzimmer vergessen. Sie stand auf einer kleinen Kommode, neben dem Stoffschaf, das ich überallhin mitnahm. Es hieß Schaf. Einfach nur Schaf. Ich weiß noch, wie ich mir dachte, dass ich es auch eincremen müsse, damit die Sonne ihm nicht wehtue. Ich wollte nicht, dass dem Schaf etwas passierte. Und ich wusste, dass diese zähflüssige Masse einen beschützen konnte.

Ich nahm die Tube, schob mit dem Zeigefinger den Verschluss nach oben, drehte die Packung auf den Kopf und drückte darauf. Das Weiß spritzte auf meine Hand und auf den Teppich vor mir. Ich griff nach meinem Schaf, stellte es vor mich hin, ging in die Knie und rieb die Creme in das aschweiße Fell. Auch die Schnauze sparte ich nicht aus. Rosa, rauer als das Fell.

Ich hörte meine Mutter. Ihre Pantoffeln. Schnelle, hektische Schritte. Rasch zog ich die Schublade der Kommode auf, stopfte mein Schaf hinein. Schob die Schublade wieder zu. Sie klemmte. Ein Spalt blieb offen, ein Ohr schaute heraus. Das Ohr mit der Ohrmarke. Fettig. Die Sonnencreme stellte ich zurück an ihren Platz. Aber da waren meine weißen Hände. Die Flecken auf dem Teppichboden.

Meine Mutter schrie. Sie war wütend. Sie sprach von ekelhafter Schmiererei und Geld und davon, dass sie nicht mehr könne. Sie entdeckte das Ohr meines Schafs, nahm es zwischen Daumen und Zeigefinger, zog daran, bis das Tier ganz an ihren Fingern baumelte. Tränen füllten ihre Augen, tropften vor mir zu Boden. Neben die weißen Spritzer.

Ich legte meinen Kopf an ihre Beine, sagte, dass es mir leidtue. Da flossen die Tränen noch mehr. Ich wusste nicht, warum sie stärker weinte, wenn ich sie tröstete.

Von Anfang an fühlte ich mich schuldig. Deswegen beklagte ich mich nicht. Deswegen fragte ich nicht nach. Ich tat, was getan werden musste, auch wenn ich nicht verstand warum.

Meine Mutter verlegte mein Kinderzimmer in den Hobbyraum unseres Kellers. Großer Raum. Hellblauer Teppichboden. Die Wände tapeziert, zum Teil verkleidet mit Holz. Zwei Fenster. Blick in den Kellerschacht. Über dem Schacht ein Gitter. Zum Schutz gegen Blätter, Dreck, Mäuse.

Ich hielt mir Spinnen. Zwei. Eigentlich waren sie schon da, als ich das Zimmer bezog. Sie fühlten sich wohl in den Schächten. Ich gab ihnen zu fressen. Brotkrümel. Kleine Apfelstücke. Auch mal einen Keks. Aber sie rührten nichts davon an. Trauten mir nicht über den Weg. Ich erschlug sie irgendwann. Mit dem Kopf meiner Superheldenfigur. Als ich genug von ihrer Arroganz hatte, mich zu ignorieren.

»Was ihn am Leben hält, sind künstliche Lichtquellen«, hatte meine Mutter in den Hörer gesagt, zu ihrem Vater, den ich nur vom Telefon her kannte. »Er ist dazu verdammt, ein Leben in Dunkelheit zu führen. So wie ich. Seine Krankheit ist auch meine Krankheit. Ich werde sie mit ihm durchstehen.«

Der Helm kam aus England. Zusammen mit meinem Stiefvater. Direkt aus London. Der Helm hatte die gleiche Farbe wie das Fell meines Schafs. Und ein Visier. Die Handschuhe waren aus Leder. Sie waren mir lästig. Aber sie mussten sein.

Mit dem Helm änderte sich mein Leben. Und das meiner Mutter. Mit Bob kam das Licht. Mit Bob kam die Erkenntnis, dass meine Mutter krank war, nicht ich.

Bob war Architekt. Trotzdem hatte er vier Semester Medizin studiert, bevor er entschied, lieber Häuser bauen zu wollen. Bob hatte Geld. Bob war gebildet. Aber er sah schrecklich aus. Wenig Haar, viel Bart, großer Bauch.

Bob brachte meine Mutter zum Lachen. Sie trug jetzt Kleider. Und Ketten. Föhnte sich Frisuren. Bob brachte mir Federball bei. Auf der Straße, bei Sonnenschein. Ich sah andere Kinder. Die anderen Kinder sahen mich. Manche lachten, andere sagten: »Wie cool!«

Lina wollte mal durchs Visier gucken. Ich ließ es zu. In meinem neuen Zimmer, das nicht mehr im Keller war, sondern ganz oben. Mit elektrischen Jalousien, dicken Vorhängen und besonderen Fenstern. Eine Festung unterm Dach, in die keine UV-Strahlen eindrangen, auch dann nicht, wenn die Sonne voll aufdrehte.

Lina schaute mindestens einmal am Tag durch mein Visier. Sie spielte Marsmensch. Ich sollte einer von der Erde sein, der in den Weltraum gekommen war, um Außerirdische zu suchen. Lina sollte ich in meiner Rakete mit zurücknehmen und angeben mit ihrer außerirdischen Fähigkeit zu fliegen.

Ich war gern mit ihr zusammen. Und mit Bob. Aber ich war nicht gerne draußen. Mich störte das Licht. Mich störten die Menschen. Ihre Blicke. Ich wollte wieder nachts spielen. Was ich nicht mehr durfte. Der Fortschritt. Die neue Lebensqualität. Bob, der Glücksbringer.

Immer wieder schlich ich mich hinaus. Sobald Bob und meine Mutter schliefen, nahm ich den Schlüssel vom Haken und zog die Haustür hinter mir zu. Ich wusste, welche Dielen ich meiden musste, um keinen Lärm zu machen. Auch das Gartentor öffnete ich nicht. Es quietschte zu laut. Ich sprang darüber, rannte zum Spielplatz. Dort setzte ich mich in den Sand. Neben den Kletterturm, dessen oberste Sprosse morsch war. Ich zog Streichhölzer aus der Tasche, grub ein Loch in den Sand, steckte kleine Zweige und trockene Blätter hinein. Bevor ich alles anzündete, sah ich zum Mond. Ich sagte ihm, dass ich das Feuer für ihn machte. Ich wünschte mir, er würde mir zuzwinkern. Nur einmal, damit ich wüsste, dass er noch mein Freund war, obwohl ich inzwischen auch die Sonne sah.

Meine Mutter wurde schwanger. Gleich nachdem Bob bei uns eingezogen war. Ihr Bauch bald so groß wie der von Bob. Er brachte mich zu Bett, weil meine Mutter zu müde dafür war. Oft.

Einmal sah er sich die Warzen in meinem Gesicht an. Ganz genau. Es war das erste Mal, dass ich ihn nah an mich heranließ. Sonst erlaubte ich das nicht. Ich trug schon einen Helm, bevor ich ihn bekam.

An dem Abend, als Bob mir vom Weltraum erzählte, hielt ich ihn nicht auf Abstand. Ich legte mich zu ihm, den Kopf auf seinem Schoß. Ließ mir durchs Haar streichen, wie ich es von meiner Mutter gewohnt war. Irgendwann beugte er sich nah zu mir hinunter, drehte die Nachttischlampe so, dass die Spezialglühbirne gefahrlos in meine Richtung strahlte.

Am nächsten Tag hörte ich sie sprechen. In der Küche, während das Wasser kochte.

»Wer hat erstmals die Diagnose gestellt?«

»Unser Hausarzt.«

»Wie alt war er da?«

»Zwei Jahre und zwei Monate.«

»Was wurde gemacht?«

»Nichts. Man kann nichts machen. Nur das Licht aus seinem Leben nehmen.«

»Haben sie die DNA untersucht?«

»Ich weiß nicht.«

»Du weißt das nicht?«

»Nein.«

»Wann warst du das letzte Mal mit ihm deswegen beim Arzt?«

»Ärzte können Wolf nicht helfen. Er kann nur lernen, mit der Krankheit zu leben.«

Eine Woche später saß Bob mit mir im Wartezimmer einer Hautklinik. Er beugte sich über seinen Rucksack und zog eine Tüte hervor, aus der er ein T-Shirt herausnahm, das er auffaltete. Ein Astronautenhelm war darauf zu sehen. Orange auf blauem Grund. I need more space stand auf dem Helm. Ich wusste nicht, was das heißen sollte. Bob übersetzte. Ich lachte. Wir verstanden uns gut.

Der Arzt war jung. Er gab Bob die Hand. Lehnte sich dann zu mir nach vorn. Klopfte auf meinen Helm. Ich hielt das T-Shirt fest in der Hand.

Die Vorhänge wurden zugezogen, bis alles dicht war. Ich musste mich in die hinterste Ecke des Raums setzen, dort, wo am wenigsten Licht hinkam.

Ich nahm den Helm ab. Legte ihn neben mich. Auf die Liege, auf der ich saß. Weißer Krepp, an einer Stelle eingerissen.

Der Arzt zog einen Stuhl heran. Sein Kopf auf der Höhe von meinem. Er nahm eine Lupe zur Hand. Sein Auge groß. Zwei Sekunden nur. Vielleicht auch drei. Er stand auf. Sagte, er komme gleich wieder.

Wir blieben allein im Raum. Bob, der Helm, das Shirt und ich. Bob lächelte mich an. »Good boy«, sagte er. »Good boy.« Lächelte wieder.

Der junge Arzt kam zurück. Mit einem anderen Arzt, der Kittel lang und weiß wie das Haar. Er war so alt, wie ich mir den Vater meiner Mutter vorstellte.

Er strich mir über den Kopf, bevor er sich auf den Stuhl vor mich setzte und dicht an mein Gesicht herankam. Ohne Lupe. Ein kurzer Blick, dann ein zweiter, längerer. Als er aufstand, legte er die Hand auf meine Schulter, drückte sie. Die andere Hand zeigte auf den Helm. »Den brauchst du nicht mehr.«

Bob war aufgesprungen. Keine Sekunde nachdem der Arzt das gesagt hatte. Yes, yes, yes! hallte es durch den Raum.

Sie schickten mich hinaus in den Wartesaal neben dem Behandlungszimmer. Zu den Spielsachen, die fast alle kaputt waren. Ich setzte mich auf einen der Plastikstühle, den Helm auf dem Schoß, das T-Shirt darübergelegt. Helm auf Helm, die Wölbung passte perfekt.

Ich wartete lange. Und ohne mich zu rühren. Ich wollte mich erst wieder bewegen, wenn Bob in der Tür stand. Das war mein Spiel. Dieses Spiel wollte ich gewinnen. Ich verlor es. Weil es mich in der Kniekehle juckte. Kurz bevor Bob eintrat. Zusammen mit den beiden Ärzten, jeder ein Lächeln auf den Lippen, das stärker strahlte als die Sonne im Mai.

Bob umarmte mich. Nahm mich an der Hand, rannte mit mir den langen Flur entlang auf die Straße. Am Himmel krachte es. Zweimal. Dann kam der Hagel, so groß wie Kirschen. Er traf unsere Köpfe, unsere Schultern. Er tat uns weh. Ich setzte den Helm auf.

Der Hausarzt, der die Diagnose gestellt hatte, hatte sich geirrt. Eigentlich hatte er nur die Vermutung meiner Mutter nicht hartnäckig genug aus dem Weg geräumt. Meine Mutter war mit der pathologischen Angst, ich könnte unheilbar krank sein, zu ihm gegangen und ließ nichts anderes zu, als mit einem unheilbar kranken Kind wieder nach Hause zu gehen. Das brachte ihr Mitgefühl ein. Nachsicht. Aufmerksamkeit. Zuwendung. Von ihrem Vater, den Nachbarn, der Friseurin, dem Postboten, auch von Bob. Davon lebte meine Mutter. Das war ihr Lebenssinn. Sie litt am Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. Zumindest einer Abart davon.

Ich war nicht krank. Nie gewesen. Nur entstellt. Von Warzen. Von unzähligen kleinen Warzen. Harmlose Papillomaviren, die mich in die Dunkelheit schickten, weil es meine Mutter für mich beschlossen hatte.

Dass ich seit dem Termin in der Hautklinik leben durfte wie die anderen, zerstörte alles. Mein Wohlbefinden. Die Beziehung von Bob und meiner Mutter. Meine Mutter.

Ohne die Krankheit, der ich den Helm verdankte, fand ich mich hässlich. Ich litt unter meinem Spiegelbild. Ich wollte mich nicht sehen. Nicht gesehen werden. Ich hängte mir die Haare ins Gesicht. Wie einen Vorhang, den ich nur beiseiteschob, wenn es unbedingt nötig war.

»Hackfresse.«

»Warzenschwein.«

»Der Irre vom Mars.«

Die Rufe der Kinder kochendes Wasser auf meiner Haut. Sie begriffen nicht, dass nicht ich vom Mars kam, sondern Lina.

Lina kämmte mir den Vorhang mit einer Puppenbürste. Hellgrüner Griff, runder rosa Kopf. Sie zog mich nicht wegen meines Aussehens auf.

Bob pinselte mir eine homöopathische Tinktur ins Gesicht. Morgens und abends. Ich bekam auch Tropfen ins Glas. Durchsichtig, leicht bitter. Die Warzen verschwanden nach zwölf Wochen.

Zwölf Wochen, in denen Bob und meine Mutter nicht mehr zueinanderfanden. Zwölf Wochen, in denen ich den Mond anflehte, er möge machen, dass alles wieder gut werde zwischen meinen Eltern und dass ich wieder mit Helm herumlaufen dürfe. So wie früher.

Ruf nach Ruhe.

Bob war laut geworden. Seit der Helm weg war, schrie er viel. Nicht wegen mir. Aber wegen meiner Mutter. Kräftig sein Bass, wuchtig sein Bauch. Meine Mutter neben ihm zerbrechlich.

Wir saßen beim Mittagessen. Kartoffelbrei und Ćevapčići. Ich ließ die Hackfleischröllchen in einer Serviette verschwinden. Unter dem Tisch. Nicht, weil sie mir nicht schmeckten. Ich hatte sie gar nicht probiert. Aus Angst vor ihrem Namen. Sie klangen wie etwas, das mir nicht schmecken konnte.

Meine Mutter saß am Tischende, geknickt wie eine Blume, der man das Wasser entzogen hatte. Die Schultern vorne, der Kopf gesenkt. Der Kartoffelbrei so gelb wie ihre Haut. Er dampfte ihr ins Gesicht.

Bob schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Er brüllte sie an, sie solle Haltung bewahren, gerade vor dem Kind. Womit wohl ich gemeint war. Vielleicht aber auch das Baby in ihr.

Meine Mutter zuckte zusammen, verkrampfte sich. Ich sah, wie schwer es ihr fiel, den Rücken aufzurichten, den kugeligen Bauch herauszustrecken. Sie zitterte. Sie war weit weg von mir, obwohl sie mir direkt gegenübersaß.

Ich hoffte, Bob würde das Fleisch nicht entdecken, das in die Serviette eingeknetet in meiner Hand lag. Ich fürchtete, seine Wut würde sich sonst auch gegen mich richten.

Meine Mutter gab es schon lange nicht mehr in Kleidern, mit Halsketten und einer Frisur. Sie verließ auch das Haus nicht mehr. Sie verzieh es Bob nicht, dass er mich in die Hautklinik gebracht hatte, ohne ihr etwas zu sagen. Sie hätte es nicht zugelassen, sagte Bob, es sei zu meinem Wohle gewesen.

Ich glaubte ihm.

Bob ging fort, nachdem mein Bruder geboren worden war. Fred. Freddy. Sechs Wochen alt. Ganz orange im Gesicht. Er musste bestrahlt werden. Mit blauem Licht. Um nicht mehr gelbsüchtig zu sein. Er wurde dafür in einen durchsichtigen Kasten gesteckt, mit Augenbinde. Ich fragte mich, ob meine Mutter das auch nur erfunden hatte. Aber Bob sagte Nein.

Seit ich keinen Helm mehr trug, waren ihre Panikattacken schlimmer geworden. Fast täglich glaubte sie zu ersticken. Sie ließ Freddy schreien. Sie wollte ihn nicht sehen. Mich sah sie, aber sie sah mich nicht an.

Als mein Bruder nicht mehr orange war, sondern rosa, gab meine Mutter ihn mit. Nach England. In einer Tragetasche, in der sich eine dicke Decke wölbte.

Bob hätte mit einem Kind wie mir leben können, das unheilbar krank zu sein schien, aber nicht mit einer Frau, deren Psyche am Ende war. »Es gab eine Zeit, da war ich glücklich mit einer Frau. Bis sie krank im Kopf wurde. Ich blieb bei ihr, weil ich sie liebte und glaubte, dass es deswegen meine Pflicht sei. Ich brauchte lange, um zu verstehen, dass es nicht geht. Dass die Liebe krankt, wenn nur noch ein Wille existiert. Ich möchte das nicht noch einmal erleben.«

Er gab mir einen Kuss auf die Stirn. »Wir bleiben in Kontakt, Captain Kirk.« Meiner Mutter reichte er die Hand. »Such dir Hilfe. Du wirst sie nötig haben.« Zum ersten Mal seit langer Zeit schrie er sie nicht an.

Meine Mutter holte sich keine Hilfe. Ich tat es. Ich rief die Nummer an, die Bob mir gegeben hatte. »Es kann sein, dass du sie brauchen wirst. Leg sie irgendwohin, wo du sie wiederfindest.«

Innerhalb von einer Stunde kamen sie. Ein Mann und eine Frau. Sie klingelten an der Tür. Ich öffnete und ließ sie herein. Zeigte zur Glastür, die den Eingangsbereich vom Wohnzimmer trennte. Für mich gab es ein Lächeln und ein Streicheln über die Wange. Für meine Mutter eine Spritze.

Sie nahmen sie mit. In eine Klinik, sechzig Kilometer von uns entfernt. Ich kam zu ihrem Vater, fünfhundertzwanzig Kilometer weit weg. Für gut zwei Monate, hieß es. Es wurden zehn Jahre daraus.

Meine Mutter überlebte den Aufenthalt in der Klinik nicht. Sie schlief sich nach drei Tagen in den Tod, mit Tabletten, von denen keiner wusste, wie sie sie hatte besorgen können.

Damals glaubte ich, ich hätte ihr den Tod gebracht. Weil ich die Telefonnummer wählte, die Bob mir gegeben hatte. Ich sprach mit niemandem darüber. Zu groß die Schuldgefühle. Zu stark die Wut, von meiner Mutter alleingelassen worden zu sein.

Auf ihrer Beerdigung im Januar 1991 waren nur ich, ihr Vater, Bob und Freddy. Wir legten Blumen nieder. Jeder eine, bis auf Freddy. Der schlief im Kinderwagen.

Bob drückte mich an sich. Sagte, ich sei ein tapferer Junge. Bevor er ging, presste er mir wieder die Lippen auf die Stirn. »Wir bleiben in Kontakt, Captain.« Die Hand zum Winken gehoben. Er schob Freddy durch den Rollsplitt. Auch diesmal bewegte sich die dicke Decke im Wagen zum Abschied.

Ich kehrte ans Grab zurück. Zum Vater meiner Mutter. Er stand davor und sprach leise vor sich hin.

Ich stellte mich neben ihn, nahm den Rucksack vom Rücken. Holte mein Schaf daraus hervor, gab ihm einen Kuss auf die Schnauze und warf es ins Erdloch. Es fiel auf den Holzdeckel, die Beine nach rechts und links ausgestreckt. Eine glatte Landung. Mit der Schnauze berührte es leicht das Blumengedeck in der Mitte des Sargs. Es tat mir leid, dass mein Schaf gleich zugeschüttet würde mit Erde. Doch mehr freute es mich, dass es auf meine Mutter aufpasste. Das hatte es mir versprochen.

Der Vater meiner Mutter hatte keine weißen Haare, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Sie waren grau. Er sah auch nicht so alt aus, wie ich dachte. Einige hielten ihn für meinen Vater. Was mir gefiel.

Er lebte zusammen mit einem Papagei, grün, mit blauem Schwanz und roter Kehle. Er redete mehr mit ihm als mit mir. Trotzdem mochte ich ihn. Alles an ihm war milde. Die Art, wie er ging, das Wenige, das er sprach. Er war ein stiller Mensch, der sich leise bewegte. Jeder seiner Handgriffe war langsam. Er tat alles mit Bedacht. Und er gab mir nie das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, als ich den psychologischen Notdienst rief. Er wisse, was es bedeute, von seiner Mutter im Stich gelassen zu werden. Das sagte er einmal, wie nebenbei, in der Kirche, während er das herabrinnende Wachs einer Kerze abzog, die er für meine Mutter angezündet hatte. Große Klumpen an sämigen Fäden.

Bei unserem letzten Rundgang durchs Haus sollte ich mir etwas aussuchen, das mir wichtig war. Erst wollte ich den Helm einpacken. Aber ich fand ihn nicht. Bob musste ihn entsorgt haben, ohne mich zu fragen. Also entschied ich mich für das Kochbuch meiner Mutter. Es war das Einzige, das mir einfiel.

»Das ist meine Bibel«, hatte sie gesagt und dabei das Buch mit beiden Händen nach oben gehalten wie einen Pokal, um den sie hart gekämpft hatte. Bob lachte und versuchte, ihr das Kochbuch wegzunehmen. »Open your mind, darling. Try to be free.« Doch meine Mutter blieb standhaft. »Ich brauche es, sonst bin ich verloren.«

Ich sah meine Mutter vor mir, in der dunkelgrünen Schürze, wie sie sich über die Seiten ihrer Bibel beugte und eine Haarsträhne hinters Ohr strich. Ich glaube, in diesen Momenten war sie nicht unglücklich.

Butterschmelze.

Speck.

Ich klemmte mir das Buch unter den Arm, einen diffusen Geruch in der Nase. Die Trauer kam mit voller Wucht. Ich rannte fluchtartig aus der Küche, in der Hoffnung, sie würde dortbleiben. Aber die Trauer begleitete mich. Ich zeigte sie nur nie. Auch nicht gegenüber mir selbst. Ich schluckte sie hinunter wie einen wurmstichigen Apfel, den man mich zu essen zwang.

Lina war die Einzige, von der ich mich in Iggingen verabschiedete. Ich übergab ihr das Kochbuch meiner Mutter. Sie solle darauf aufpassen. Irgendwann käme ich wieder. Ich meinte es ernst. Sie strich mir über meinen Vorhang, den ich mir hatte stehen lassen, obwohl keine Warzen mehr mein Gesicht entstellten. Sie reichte mir ihre Puppenbürste. Ein Geschenk. Auch sie meinte es ernst.

Wir fuhren mit dem Zug nach Hannover. Mit nur einer einzigen Reisetasche. Zwei Tage nachdem meine Mutter beerdigt worden war.

Bei unserer Ankunft drückte der Vater meiner Mutter meinen Kopf gegen seinen Bauch. Er war warm und weich und roch nach Kaffee und Zeitung. »Das ist dein neues Zuhause«, sagte er und zeichnete mit dem ausgestreckten Arm einen Halbkreis in die Luft. Wir standen am Bahnsteig, unangenehm pfiff der Wind durchs Haar, während ein Zug quietschend einfuhr. Mein neues Zuhause, dachte ich und hielt mir die Ohren zu.

Der Vater meiner Mutter nahm mich bei der Hand, quetschte dabei leicht meine Finger. Er führte mich durch die Menschenmenge hinaus auf den Ernst-August-Platz. Dort stiegen wir in die Stadtbahn, die bis vor seine Wohnung glitt.

Ich bekam sein Arbeitszimmer, ein Stockbett und eine Ritterburg. Morgens und abends ein Brot mit Butter. Mal mit Marmelade. Mal mit Wurst. Er zeigte mir die Stadt, all die Orte, die in der Nacht zum 9. Oktober 1943 von Fliegerbomben zerstört worden waren. Die komplette Innenstadt, nahezu alle Stadtteile. Ausradiert. Ich lernte Hannover kennen, wie es war, als mein Großvater noch ein Kind gewesen war. Ich sah Gebäude, die es nicht mehr gab. Ich traf Menschen, die verbrannten, weil sie in die falsche Richtung flüchteten. Fast einen Tag lang lag die Stadt in Dunkelheit. Der Rauch hing so dicht in den Straßen, dass die Sonne nicht durchkam. Eine Hitze wie im Hochsommer, ein heißer, flammender Wind, schmelzender Asphalt, an dem Menschen festklebten und ihr Leben verloren. »Freiheit ist die beste Erziehung«, sagte mein Großvater, als wir mit der Stadtführung fertig waren. Danach durfte ich Hannover alleine erkunden. Er erlaubte mir, ohne Begleitung auf Spielplätze zu gehen, auf die Straße und in den Park. Ich lief allein zur Schule, zum Fußball, auf Geburtstagsfeste. Ich lebte wie jedes andere Kind. Mit dem Unterschied, dass ich das Leben eines Jungen in meinem Alter spielte. Ich wusste, wie das ging. Das hatte ich beobachtet. Unter dem Schutz meines Helms. Als meine Mutter noch bei mir war.

Bob hatte ein paar Nachbarn zu uns nach Hause eingeladen. Sie waren gekommen, gemeinsam mit ihren Kindern. Sie spielten Fangen in unserem Garten. Später beobachteten sie Ameisen, wie sie die Krumen wegtrugen, die sie ihnen hingelegt hatten. Sie sammelten auch Schnecken, in Marmeladegläsern. Zur Freude meiner Mutter.

Mich ignorierten sie. Hielten mich auf Abstand. Schickten mich weg, sobald ich mich ihnen näherte.

»Bloß nicht, sonst kriegen wir die Krätze.«

Stillstand der Kuchengabeln. Schweigen am Erwachsenentisch. Von irgendwoher heulte ein Motor, Halbstarke auf der Suche nach Aufmerksamkeit.

Der Fingerzeig zum Weitermachen.

Die Kuchengabeln gerieten wieder in Bewegung. Ein Vater ergriff das Wort. Entschuldigte sich bei meiner Mutter. Bei Bob. Ein Nicken. Noch eines. Leicht versetzt. Entschuldigung angenommen.

Eine Mutter sagte: »Buben, Buben. So sind sie halt.« Wedelte dabei mit der Hand vor ihrem Mund, als verscheuchte sie eine Fliege. Ein Vater trug den Kindern auf, sie sollten mich mitspielen lassen, nett zu mir sein, sie seien meine Gäste.

Es half nichts. Der eine Junge ätzte. Der andere bockte. Nur der Kleinste von allen tat, was ihm gesagt wurde. Er hielt mir ein Marmeladeglas hin. Lud mich voller Verachtung ein, es zusammen mit ihm zu füllen. Dafür bekam er den größten Kuchen, das größte Glas Limo, das größte Lob.

Ich beobachtete ihn, wie er an dem grünen Strohhalm lutschte und dabei in die Runde grinste. Triumphierend. Als er mich ansah, spuckte er in einem unbeobachteten Moment vor meine Füße.

Ein Flatschen auf dem Terrassenboden.

Er hatte alle ausgespielt. Er wusste mit seinem Verhalten das zu erreichen, was er wollte. Zucker. Anerkennung. Aufmerksamkeit. Vielleicht Liebe.

Da begriff ich etwas. Die Möglichkeit von Macht und Manipulation. Man musste beides nur richtig einzusetzen wissen.

Als der Besuch fort war, blieb ich im Garten. Ich nahm alle Marmeladegläser an mich und verzog mich hinter den Apfelbaum. Holte eine Packung Zahnstocher und meine Streichhölzer hervor. Nach und nach spießte ich die Schnecken auf die Zahnstocher und steckte sie in die Erde. Als alle Tiere gepfählt waren, zündete ich sie an. Das Feuer ging ständig aus. Zu feucht die Schnecken. Was meinen Ehrgeiz nur noch mehr schürte.

Zu meiner Mutter und Bob sagte ich, was für ein schöner Tag es doch gewesen sei. Ich erntete ein kurzes Klopfen auf meinen Helm. Ihre Art der Zärtlichkeit.

Mein Großvater war der Einzige, der mich wirklich sah. Er hatte keine Erwartungen an mich. Nur den Wunsch, dass es mir gut ging. Das rechnete ich ihm hoch an. Er respektierte mich, wie ich war.

Einsam. Gern allein.

Ich fühlte mich wohl, sobald ich in meinem Zimmer saß. Bei meinen Puzzles. Tausend Teile. Die Skyline von New York. Daneben Rio de Janeiro. Blick aus der Guanabara-Bucht auf den Zuckerhut. Die Gletscher des Mount Cook in Neuseeland. Erst in dieser Welt wurde ich ich selbst.

Mein Großvater starb an einem Herzinfarkt. Im Supermarkt, vor der Kühltheke. Er brach vor dem Fach mit der Butter zusammen. Ich kaufte sie auf. Alle Packungen. Ich konnte die Butter nicht dalassen. Mein Großvater war mit zweihundertfünfzig Gramm in der Hand von dieser Welt gegangen. Ich verstand das als Zeichen.

Drei Dutzend Packungen Butter fror ich ein. Und taute eine auf, wenn ich sie brauchte. Seelisch oder einfach, weil mir ein Aufstrich fehlte.

Ich erbte die Wohnung, eine Hütte in den österreichischen Bergen und dreihundertsechzigtausend Mark in bar. Mit meiner Volljährigkeit stand mir auch das Erbe meiner Mutter zu. Weitere zweihunderttausend Mark, von denen ich keine Ahnung hatte, wie sie dazu gekommen war.

Ich weinte nicht auf der Beerdigung. Auch nicht beim Notar. Erst, als ich das Zuhause meines Großvaters verkauft und den Erlös in eine der ehemaligen Bahnwärterwohnungen unweit der Gleise gesteckt hatte, die zum Nordbahnhof führten. Zum ersten Mal war ich ganz auf mich gestellt, den erweiterten Sekundarabschluss mit Auszeichnung in den Händen.

Ich ließ alle Wände in der Wohnung herausreißen und Stahlträger einbauen, wo es nötig war. Ich wollte nicht mehr als ein Zimmer haben. Ich wollte den Überblick behalten.

Ich lebte in einem vierundsiebzig Quadratmeter großen Raum, von dem nur das Bad separiert war. Aus zwei Fenstern konnte ich auf einen Spielplatz sehen, der von Sträuchern und ein paar Bäumen umrandet war. Ein großes Fenster gegenüber zeigte zum Innenhof, mit Blick auf die riesige Kastanie und die unzähligen Fahrräder, die sich dort stapelten. Ein Hobby des Hausmeisters.

In der ersten Nacht in der neuen Wohnung war der Mond besonders hell, wenn auch nicht ganz voll. Ich hatte den Papagei mitgenommen und seinen Käfig zwischen den beiden Fenstern, die zum Spielplatz hin zeigten, aufgebaut. Ich redete mit ihm, während der Mond auf uns schien. Fast kam es mir vor, als wärmten mich seine Strahlen.

Ich stützte die Ellenbogen auf den Sims und blickte hinaus in die Nacht. Durch die kahlen Äste sah ich ein rotes Glimmen auf dem Spielplatz. Dann noch eines. Zwei Zigaretten. Mal leuchtete die Glut der einen stärker, mal die der anderen. Irgendwann ging jemand durch den Sandkasten zu der Rutsche, die sich von einem Turm mit spitzem Dach zu Boden schlängelte. Der junge Mann setzte sich auf ihren Auslauf, dessen silbernes Metall im Mondschein glänzte.

In dem Moment geschah etwas mit mir. Ein warmes, angenehmes Gefühl aus der Gegend um meinen Magen stieg empor und machte sich in meiner Brust breit. Als striche mir meine Mutter durchs Haar. Als säße mein Großvater in der Küche und schmierte mir ein Butterbrot.

In jener Nacht schlief ich nicht.

Ich fing an, die Wohnung einzurichten. Packte Möbel aus, schob sie an die richtige Stelle. Installierte den Computer, den ich mir gekauft hatte. Ich baute Regale auf, befreite sie vom Staub, der noch aus der Zeit mit meinem Großvater stammte. Ich durchstöberte seine Bücher, stellte sie der Größe nach in die Fächer des Regals. Ordnete sie nach Farben. Ich schraubte das Bett zusammen, putzte die Fenster, ließ die kühle Spätwinterluft in mein neues Heim. Immer wieder hielt ich inne, stellte mich an das Fenster neben dem Papageienkäfig und sah der Nacht dabei zu, wie sie zum Tag wurde.

Morgenstund hat Gold im Mund, schwätzte der Papagei, zog ein Bein an und schloss die Augen. Mein Großvater lebte in ihm weiter. Ich legte eine Decke über den Käfig. Gönnte dem Tier die Nachtruhe, die ich mir vorenthielt.

Bei Tagesanbruch ließ ich die Jalousien herunter und ging zu Bett. Ich schlief bis zum Nachmittag, bis die Luft in meiner Wohnung wegen der Heizung so trocken war, dass ich den Drang verspürte aufzustehen, um zu lüften.

Sauber sein. Reinemachen. Das ist das halbe Leben. Das hatte meine Mutter mir mitgegeben. Sie redete oft in Sprüchen. Sie hatte sie von einem Kalender an der Wand. Jeden Tag ein neuer Spruch. Jeden Tag ein neuer Auftrag.

You again?