Über das Buch

Am Anfang steht der geheime Wunsch, Schriftsteller zu werden. Das Studium in Cambridge muss warten, vorher zieht es den jungen Graham Swift raus in die Welt: Rucksackreisen in Krisengebiete, in der Tasche fünfzig Pfund für fünf Monate, genug, um das Schicksal herauszufordern. Erste Höhen kommen früh. Erste Tiefen auch.

›Einen Elefanten basteln‹ ist der in Essays, Interviews und Gedichten nachgezei chnete Weg eines Schriftstellers, der in seinen Büchern – auch in diesem – stets das Terrain des Bekannten verlässt, um sich hinaus ins Unbekannte zu wagen. Die einzige Sicherheit: seine Vorstellungskraft.

 

 

 

 

Für Candice

 

 

 

 

»Du flößt deinen Figuren Atem ein, und wenn du Glück hast, flößen sie dir auch Atem ein.«

Graham Swift im Interview mit Caryl Phillips

 

 

»Himmel! Bin ich nur zum Schreiben auf der Welt?«

Alexander Pope: ›Epistle to Dr Arbuthnot‹

VORWORT

Anfangs war da nur eine Ansammlung nicht-fiktionaler Texte, teils veröffentlicht, teils nicht, eine verlockende Möglichkeit für einen Romanschriftsteller, daraus ein Buch zu machen, und in meinem Fall habe ich versucht, die Texte so zu ordnen, dass in ihnen »etwas von mir«, um es mit Kipling zu sagen, zutage tritt.

Ich habe oft betont – und das tue ich auch auf diesen Seiten –, dass ich in mein Schreiben nichts Autobiographisches einfließen lasse noch von eigenen Erfahrungen ausgehe. Ich war nie Metzger oder ein Privatdetektiv, der Gefängnisbesuche macht, noch bin ich ein Sohn der Fens, der Moorlandschaft im Osten Englands. Meine Figuren sind auch keinen Menschen aus meinem Leben nachempfunden, geschweige denn Freunden. Als ein Autor, der die Intimität des Ich-Erzählers dem auktorialen Erzähler vorzieht, betrachte ich es als eine Leistung, wenn ich in meinem Werk zu verschwinden scheine, und das beim Schreiben gelegentlich auftretende Gefühl, dass mir eben dies gelingt, ist herrlich und erhebend.

In diesem Buch möchte ich die Kehrseite zeigen. Ich habe nicht versucht, zu verschwinden. Im Gegenteil, das Persönliche wird hier betont.

Es stimmt, dass im Grunde alles Erzählen autobiographisch ist, denn wo sonst entsteht es, wenn nicht in der Innenwelt des Autors? Schreiben ist auch etwas, das mich ständig mit mir selbst konfrontiert und mit dem überrascht, was ich in mir entdecke. Aber das ist ein sehr persönlicher Prozess und etwas anderes als die Vorstellung, das Erzählte sei einfach eine Aufbereitung der Inhalte im Leben des Autors. Mir ist die Vorstellung unbehaglich, Autoren seien fortwährend auf der Suche nach Material und richteten den Blick lediglich auf das, was ihre Arbeit vorantreiben könnte, so wie ich die überraschend weit verbreitete Annahme bei Lesern wie auch Literaturkritikern ermüdend finde, dass ein Roman von dem handeln muss, was einem Schriftsteller widerfahren ist. Ich bin der festen Überzeugung, dass der Roman nicht einer rein geistigen Aktivität entspringt, sondern das Leben widerspiegelt und ihm dient – D. H. Lawrence ging so weit und nannte den Roman »das eine helle Buch des Lebens« −, aber ich bin auch der Ansicht, dass Schreiben und Leben zweierlei Dinge sind.

Dieses Buch enthält manches über das Schreiben und über Schriftsteller, ich hoffe, es bietet auch ein paar Einblicke in mein Leben – als Schriftsteller, oder einfach mein Leben. Beim Durchblättern habe ich festgestellt, dass es nicht selten darum geht, wie man dem Schreiben entflieht oder es umgeht.

In erster Linie ist es ein Buch über Menschen, und bei der Auswahl der Texte habe ich versucht, meine Freunde mit einzubeziehen. Manchmal geschieht das buchstäblich, wie in den hier abgedruckten Interviews, aber mein eigentlicher Wunsch war es, Menschen zu porträtieren und zu würdigen, denen ich zu meinem Glück begegnet bin, manche habe ich nur kurz gekannt, andere kenne ich seit langem. Ich habe versucht, darzustellen, wie ich ihre Gesellschaft erlebe oder erlebt habe. Einige von ihnen sind inzwischen gestorben, andere sind noch sehr gegenwärtig, und bei mindestens zweien habe ich den Begriff der Gegenwärtigkeit gedehnt, denn ich kann ihnen gar nicht begegnet sein, und doch sind sie für mich sehr präsent.

Ich bitte meine Freunde, die ich auf diesen Seiten erwähne, Fehler und Fehldarstellungen meinerseits zu entschuldigen, und gleichzeitig entschuldige ich mich bei denen, die nicht vorkommen. Dieses Buch strebt keine Vollständigkeit an, und das Fehlen dieser Freunde ist kein Zeichen mangelnder Freundschaft, sondern erklärt sich aus den Umständen, unter denen die meisten Texte entstanden sind. Einige sind bereits veröffentlicht, andere umfassend überarbeitet und ergänzt worden, wieder andere sind unverändert geblieben. Ein oder zwei Texte sind vor längerer Zeit entstanden, wurden aber nie veröffentlicht, ein paar wurden für dieses Buch verfasst, um Verbindungen innerhalb des Ganzen herzustellen.

Der Rahmen ist grob gesprochen chronologischer Struktur, aber auch hier habe ich mir, wie in meinen Romanen, ein paar Freiheiten erlaubt. Das Buch beginnt zu der Zeit, als ich sechs Jahre alt war, und endet mit einem Mann, der im sechzehnten Jahrhundert gelebt hat. Dazwischen kommt es zu manchen Sprüngen, vor und zurück.

Dies ist eine Sammlung nicht-fiktionaler Texte, gleichwohl enthält sie eine Abteilung mit Gedichten. Doch das soll nicht heißen, die Gedichte seien lediglich Beiwerk. Lyrik lebt in einer ganz eigenen Sphäre. Die Gedichte sind zwischen zwei Romanen entstanden, als ich noch unschlüssig war, was mein nächstes Projekt sein würde, aber in Übung bleiben wollte, und zwar auf eine interessante neue Weise. Damals habe ich Gedichte geschrieben, dann war mit einem Mal Schluss. Ich weiß nicht, ob ich eine solche Phase noch einmal erleben werde.

 

GS 2009

 

Für die Scribner-Ausgabe – und dieser folgt auch die vorliegende deutsche Übersetzung (Anm. d. Übers.) – wurden ein paar neue Texte aufgenommen, die zwischen den Seiten 405 und 429 zu finden sind.

 

GS 2017

Der Autor bei der Arbeit, in den 1950er Jahren

 

 

 

 

Es gibt zwei Erinnerungen aus meiner Kindheit, die dauerhaft miteinander verwoben sind. Da ist zunächst die Polio-Impfung, der ich als kleiner Junge mit wachsender Angst entgegensah, wobei die Impfung selbst mir aber nichts von meiner Angst nahm. In unserem Krankenhaus war ein spezielles Behandlungszimmer eingerichtet worden, in das die Kinder durch eine Tür hineingeführt wurden, zu dem Arzt mit der Spritze, und aus dem sie durch eine andere Tür wieder herauskamen, wo eine grimmig lächelnde Krankenschwester Bonbons austeilte. Nicht nur unter denen, die hineingingen, gab es viel Weinen und Geschrei, sondern auch, viel schlimmer, bei denen, die wieder herauskamen, denn die zuckrigen Geschenke boten ihnen keinen Trost. Ich weiß nicht mehr, ob ich auch geweint habe. Wahrscheinlich habe ich das traumatische Ereignis unterdrückt. Aber ganz deutlich erinnere ich mich daran, dass die Krankenschwester mit den Süßigkeiten fester Bestandteil der Tortur war.

Ich erinnere mich undeutlich, dass wir in meiner Grundschule auf das Ereignis vorbereitet wurden, und dass es keine Möglichkeit gab, ihm zu entgehen, war Teil meiner Angst. Als Kind konnte man eigentlich immer einen Ausweg finden, aber dies hier war eine Zwangsmaßnahme, die auch vor den Zartesten nicht haltmachte. Mit Sicherheit war ich nicht in der Lage, zu würdigen, dass die Sache mit den zwei Türen etwas war, worauf ich dank meines Geburtsjahrs einen Anspruch hatte – der National Health Service selbst befand sich ebenfalls noch im Kinderstadium – und damit allen Grund, darüber froh zu sein. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde eine ganze Generation von einer besonders grausamen Krankheit verschont, die einen fürs Leben zum Krüppel machen konnte.

Die Polio-Impfung muss um die Weihnachtszeit stattgefunden haben, denn meine zweite Erinnerung betrifft ein Kaufhaus in Croydon, in das ich mit meiner Mutter ging und wo eine prachtvoll glitzernde Weihnachtsgrotte aufgebaut war. Auch hier betraten die Kinder die Grotte durch eine Tür und kamen aus einer anderen heraus, aber statt Süßigkeiten hatten sie ein kleines eingewickeltes Geschenk in der Hand. Sicher, viele der Kinder kamen mit einem strahlenden Lächeln heraus, aber nicht wenige, das fiel mir auf, weinten auch. Die Ähnlichkeiten waren zu deutlich, die Erinnerung an den Krankenhausraum zu übermächtig. Falls ich vorgehabt hatte, zu Santa in die Grotte zu gehen, so gab ich das Vorhaben an dieser Stelle auf.

Wie alt ich war, weiß ich nicht mehr, aber ich wusste mehr über den Weihnachtsmann als über Kinderlähmung. Ich wusste nicht, warum Polio (eigentlich ein hübsches Wort) vorgebeugt werden musste oder wie das erreicht wurde, indem man eine Nadel in den Oberarm gestochen bekam. Aber ich wusste etwas über Rentiere und Schornsteine. Wenn Aberglaube bedeutet, dass man sich sonderbaren Ritualen unterwirft, weil man etwas rational nicht erfassen kann, dann war die Erfahrung mit der Spritze und der Krankenschwester, die einem einen Bonbon auf die Zunge legte wie eine Oblate beim Abendmahl, nichts als reiner Aberglaube.

Doch was den Weihnachtsmann angeht, so hat das im Grunde nichts mit Aberglauben zu tun. Das hat mit dem anderen Zeug zu tun – oder ist dessen Gefährte –, mit dem Erzählen von Geschichten nämlich und der Bereitschaft, einer Geschichte seinen ganzen Glauben zu schenken.

Ob ich jemals wirklich an den Weihnachtsmann geglaubt habe, kann ich nicht sagen, aber ich weiß noch, dass ich, ziemlich bewusst sogar, der Geschichte meinen ganzen Glauben schenkte – und mich der elterlichen Verschwörung anschloss – zugunsten der Magie der Fiktion. Beim Anblick der tränenüberströmten Gesichter der Kinder, die aus der Grotte kamen, sagte meine Intuition mir, dass hier jene Magie zerstört worden war.

Kinder sind nicht dumm, sie haben auch keine eingeschränkte Wahrnehmung, vielmehr haben sie die Fähigkeit – und sind in ihrer Arglosigkeit verletzlich –, sich von ganzem Herzen auf den Geist einer erfundenen Geschichte einzulassen. Gewöhnlich reagieren Erwachsene darauf eher verlegen. Sie bevorzugen die sachliche Effizienz von Impfstoff und Spritze: Magie, wissenschaftlich durchsichtig gemacht. Will man die Magie der Fiktion zerstören, erreicht man das am besten, indem man ihr eine materielle Wirklichkeit verleiht – man mietet einen lebendigen Weihnachtsmann und setzt ihn in eine Grotte aus Pappmaché. Ich glaube, die Kinder, die nach ihrem Besuch beim Weihnachtsmann weinten, hatten etwas viel Schlimmeres erlebt als einen Stich in den Arm. Als ich sie sah, muss ich zu dem Schluss gekommen sein, dass der lebendige Weihnachtsmann aus der Nähe betrachtet doch nicht so wunderbar war. Wäre ich älter gewesen, hätte ich diese Befürchtung vielleicht mit zynischen Einzelheiten ausgeschmückt. Vielleicht hatte er geplatzte Äderchen oder einen unaufrichtigen Blick. Vielleicht roch sein Atem nach Alkohol, und er machte nach einem anstrengenden Tag in der Grotte mit den Jungen und Mädchen Unerlaubtes. Das Allerschlimmste – er war vielleicht nicht überzeugend. Meine Antwort darauf, meine Art, die Magie zu bewahren, bestand darin, dem zweifelhaften alten Mann fernzubleiben. Bis zum heutigen Tag habe ich nie die Grotte eines Weihnachtsmannes betreten.

Aber dank des furchterregenden Einstichs mit einer Nadel in meinen linken Oberarm habe ich einen lebenslangen Schutz vor einer echten und grausamen Krankheit.

Die Literatur ist auch eine Art Schutzimpfung, und der Impfstoff schützt uns vor den Widrigkeiten des wirklichen Lebens. Aber wie bei allen echten Impfstoffen funktioniert das nur, wenn er ein Maß der Krankheit enthält, die er bekämpfen soll. Vielleicht gibt es keinen sicheren Schutz, kein Mittel gegen das Leiden eines Kindes, dessen Träume vom Weihnachtsmann durch einen Besuch bei ihm zerstört worden sind. Oder vielleicht ist gerade da das Gegenmittel zu finden: Man sollte vielleicht die Geschichte von einem verstörenden Besuch dieser Art erzählen und daraus ein nicht unbedingt tröstliches, gleichwohl aber faszinierendes Abenteuer spinnen, von der Begegnung eines Kindes mit der Welt der Erwachsenen, die in der verzauberten Grotte lauert.

Auch nach drei Jahrzehnten als Schriftsteller glaube ich nach wie vor, dass die Literatur – das Erzählen von Geschichten – etwas Magisches hat. Warum würden wir sonst davon sprechen, dass wir »im Bann« einer Geschichte stehen? Wie wir eine Geschichte auch analysieren oder zu erklären versuchen, ihre Kraft liegt, primitiv und schlicht, im Geheimnis, das ein tiefsitzendes menschliches Bedürfnis befriedigt. Auch den modernsten Autoren nützt es, glaube ich, wenn sie sich darüber im Klaren sind, dass man sich beim Erzählen auf etwas einlässt, das über einen selbst hinausgeht, auf eine Kraft, die man niemals vollständig erfassen kann. Sobald man jeweils das, was man bewusst eingebracht hat, mit dem verrechnet, was man sich als Wirkung wünscht (und immer wieder ist es schwierig, das zu vermeiden), geht einem etwas verloren. Ein solcher Autor mag kompetent sein, aber er bleibt hinter dem zurück, was zu leisten er imstande wäre.

Sowohl für den Schriftsteller als auch für den Leser sollte die Fiktion immer einen Hauch von Magie behalten, aber zugleich bewirkt sie das genaue Gegenteil davon. Denn immer wieder versucht die Fiktion die Wirklichkeit – oft unerbittlich und unerschrocken – zu umfangen, einzufangen, sich ihr zu stellen. Dies ist eine der höchsten Aufgaben der Erzählkunst: uns auf den Boden der Tatsachen zu stellen. Von Don Quijote bis zu Madame Bovary und immer weiter ist sie mit der Vernichtung von Magie und Träumen befasst und zeigt uns, wie unsere luftigen Vorstellungen mit den harten Fakten oder den ausgemachten Banalitäten des Lebens zusammenprallen. Das ist ein gesunder Vorgang: Erzählen als Korrektiv gegenüber unseren Versuchen, einer unnachgiebig konkreten Welt auszuweichen. Doch das Bemerkenswerte an der Literatur ist, dass sie diese zwei dem Anschein nach widersprüchlichen Aufgaben gleichzeitig zu bewältigen versteht. Sie kann sowohl magisch als auch realistisch sein. Wenn wir Don Quijote oder Madame Bovary lesen, werden wir nicht in irgendwelche Niederungen gezwungen, sondern wir spüren ein erregendes Prickeln.

Damals, in den 1980er Jahren, als meine ersten Romane veröffentlicht wurden, war der Begriff »Magischer Realismus« eine Weile in Mode. Ich gebe zu, dass ich mich, als ich Wasserland schrieb, selbst für eine Art magischen Realisten hielt. Der Begriff – inzwischen hat er sein Verfallsdatum überschritten – war von Anfang an eher irreführend. Er schien das zweiseitige und paradoxe Wesen von Literatur perfekt zu erfassen, aber wenn das der Fall war, dann machte er ja keine neue oder enthüllende Aussage, und in der Praxis hatte er eher etwas von einem programmatischen Expertentum. Er schuldete sein Aufkommen den damals beliebten lateinamerikanischen Romanen, die sich dadurch auszeichneten, dass surreale oder übernatürliche Ereignisse »realistisch« in die naturalistische Beschaffenheit des Romans eingebracht wurden oder wahren Ereignissen eine magische Note verliehen wurde. Schriftsteller hatten derlei Dinge seit Jahrhunderten getan, aber der Begriff »Magischer Realismus« brachte zum Ausdruck, dass durch ein bisschen fantastisches Zeug endlich wieder Magie ins Erzählen kam. Als wäre sie je daraus verschwunden.

Die wirkliche Magie (wenn dieser widersprüchliche Ausdruck erlaubt ist) von Literatur geht viel tiefer als ein bisschen Ausstreuen von Hokuspokus, aber wir merken es, wenn sie da ist, denn dann läuft es uns kalt den Rücken herunter. Selbst die Enthüllung einer unbestreitbaren Wahrheit zur rechten Zeit, etwas, das wir innerlich schon akzeptiert haben, kann etwas Magisches enthalten. In der Literatur, die ohne Tricks auskommt, sind Wahrheit und Magie ohne Weiteres miteinander vereinbar.

Kommen wir zu dem Weihnachtsmann in der Grotte zurück – oder zu seinem historischen Vorfahren im echten Leben. Der tatsächliche Heilige Nikolaus war eine viel weniger gemütliche Gestalt als unser Weihnachtsmann, wenn auch um einiges heiliger, und mit dem Elend der Welt kannte er sich bestens aus. Eine seiner guten Taten bestand darin, einen mittellosen Vater daran zu hindern, seine drei Töchter auf die Straße zu schicken. Die Nachwelt hat ihn zu einer Gestalt gemacht, die magischer und zugleich dürftiger und sentimentaler ist – und die angesichts eines schluchzenden und enttäuschten Kindes in einem heutigen Warenhaus zwangsläufig scheitern muss.

War es vor dieser Weihnachtsgrotte, dass ich zum ersten Mal eine Ahnung von dem Doppelwesen von Literatur hatte? Ich bezweifle es. Ich stand einfach immer noch unter dem Eindruck meiner Polio-Impfung. Unser Zeitalter setzt ein festes Vertrauen in Schutzimpfungen, in harte Fakten und klinische Überprüfbarkeit, aber zugleich veranstaltet es immer mehr kommerziellen Trubel um das Weihnachtsfest. Weihnachten hat sich seit den 1950er Jahren wie eine Infektion ausgebreitet, für die es bisher noch kein Gegenmittel gibt. Die ersten Anzeichen sind Anfang Oktober zu bemerken, wenn nicht noch früher. Der Trubel mag grotesk und reine Geldschneiderei sein, aber dahinter verbirgt sich ein Bedürfnis nach Magie, das sich hier unkontrolliert Bahn bricht. Wäre das nicht so, würde sich jedes beliebige Datum für eine Konsumorgie anbieten. Unser Gefühl für Magie ist auf dem Irrweg. Es hat sich weit über die Wahrheit hinausgewagt. Die Literatur kann dazu beitragen, dass dieses Verhältnis wieder ins Gleichgewicht kommt.

Frühes Opfer der Polio-Schutzimpfung

 

 

 

 

»Welche Schriftsteller haben Sie beeinflusst?« Diese Frage ist ebenso kompliziert wie die, was jemanden überhaupt zum Schriftsteller macht. Schon das Wort »Einfluss« ist irreführend. Natürlich kann das Werk eines Schriftstellers eine direkte Wirkung auf das eines andern haben, aber den wichtigsten Einfluss üben doch die Schriftsteller aus, die zwar den eigenen Stil nicht unmittelbar prägen, die aber in einem den schlichten Wunsch zu schreiben entfachen oder neu entflammen.

Im September 1967 war ich auf Thessaloniki im Norden Griechenlands, wo ich zwei Tage Zeit hatte bis zu meiner Rückreise, die mich quer durch Europa nach London und nach Hause führen würde und für die ich Fahrkarten mit festen Reisedaten hatte. Fünf Monate zuvor hatte ich mich im Alter von siebzehn Jahren in die umgekehrte Richtung auf den Weg gemacht, mit Rucksack und ohne jede Erfahrung mit dem Alleinreisen im Ausland, und dies war das Ende einer langen, ausgedehnten Tour, die mich vom griechischen Festland über die Inseln in der Ägäis hüpfend bis in die Nordtürkei gebracht hatte, von dort zurück nach Istanbul und in den europäischen Teil der Türkei, dann über die soeben geöffnete bulgarische Grenze nach Plowdiw und Sofia, durch die Gebirge und Wälder Bulgariens nach Süden und wieder nach Griechenland.

Weniger als ein Jahr vor dieser Reise hatte ich eine Prüfung bestanden, die mir einen Studienplatz an der Universität Cambridge sicherte, und aufgrund dessen hatte meine Schule mir und ein paar anderen großzügigerweise erlaubt, vor Ende des laufenden Schuljahrs einfach zu »verschwinden«. An einem Dezembertag 1966 schlenderte ich zusammen mit ein paar Schulfreunden um die Mittagszeit im Nieselregen und ohne weitere Formalitäten vom Schulgelände, und wir wussten, wir würden nie wieder hierher zurückkehren.

Damals hatte ich bereits beschlossen, dass ich einen großen Teil der vor mir liegenden Monate mit Reisen verbringen wollte; mein erstes Ziel waren Griechenland und der östliche Mittelmeerraum. Für die Wintermonate fand ich einen Job und hatte bis zum Frühling die kritischen fünfzig Pfund gespart – die Höchstsumme, die man in Zeiten strenger Devisenregulierung ins Ausland mitnehmen durfte. Unterdessen hatte es in Griechenland einen Putsch gegeben, Panzer rollten auf den Straßen, und im Land entstand, mit unabsehbaren Folgen, eine der schlimmsten Diktaturen im Europa der Nachkriegszeit. All das schreckte mich nicht. Mit einem Rucksack, fünfzig Pfund und einer Eisenbahnfahrkarte bis nach Athen – die Rückreise musste noch bestätigt werden – brach ich auf.

Schon damals wusste ich ganz sicher, wenn auch nur unterschwellig und im Geheimen, dass ich Schriftsteller werden wollte. Ich wusste es als Schuljunge, was ich ja eigentlich immer noch war. Wenn Leute mich fragen, wann ich mich zum ersten Mal mit dem Gedanken zu schreiben befasst habe, antworte ich für gewöhnlich, als Teenager, und behaupte, der Wunsch sei damals entstanden, aber eigentlich glaube ich, dass der Anfang viel weiter zurückliegt und meine ersten und vielleicht bedeutsamsten »Einflüsse« die ersten richtigen Bücher waren, die ich las. Ich meine nicht die große Literatur, sondern normale Kinderbücher, Abenteuergeschichten, vielleicht mit einer Tendenz zum Historischen. Mit diesen Büchern wurde zum ersten Mal Begeisterung in mir geweckt für das, was Schriftsteller zwischen Buchdeckeln bewirken können, und damit setzte sich die Idee in mir fest, dass ich vielleicht einmal etwas Ähnliches tun könnte.

Als ich von der Schule abging, hatte ich bereits viele Werke der klassischen Literatur gelesen, und in Cambridge sollte ich damit weitermachen. Meine eigenen literarischen Ambitionen blieben verschwiegen in der Schwebe, ich hatte noch keine praktischen Versuche unternommen, und so sollte es noch einige Jahre bleiben. Schriftsteller sein zu wollen war das eine, es war kein schwieriger Wunsch; etwas ganz anderes jedoch war es, einer zu werden, obwohl ich gleichzeitig überzeugt war, dass ich nicht nur von einer fixen Idee besessen war.

Rückblickend glaube ich, dass mir mein Wunsch Angst machte; ich hatte Angst, zu entdecken, dass ich nicht das Zeug zum Schriftsteller hatte. Wenn man jung ist, begibt man sich leicht in einen Schutzraum der Verdrängung und des Selbstbetrugs. Wenn man seine etwaige Selbsttäuschung nie auf die Probe stellt, vermeidet man den Schmerz bei der Entdeckung, dass es tatsächlich eine Selbsttäuschung war. Andererseits glaube ich, dass die Angst vor meinem Wunsch ein Zeichen dafür war, dass er echt war. Ich wusste, eines Tages würde ich mich ihm stellen müssen, und ich wusste, dass es ein Wunsch war, der ruhig in mir schlummerte, und ich vielleicht einen äußeren Anstoß brauchte, um die Herausforderung anzunehmen.

Aber ich glaube nicht, dass ich mich mit meinem Rucksack in einer von Kerouac inspirierten Stimmung auf den Weg machte und nach Erfahrungen suchte, die ich »gebrauchen« konnte. Ich glaube, ich wollte einfach etwas erleben und ganz allgemein, ohne Literatur im Sinn zu haben, herausfinden, wozu ich in der Lage war. Was ich tat, folgte dem Trend und hatte nichts mit Unabhängigkeit zu tun: Ich folgte einfach dem »Hippietrail«. Und obwohl ich meistens allein reiste, traf ich oft auf andere, die einer ähnlichen Reiselust folgend in Richtung Osten unterwegs waren. Falls ich jemals im Sinn hatte, Kathmandu zu erreichen, schaffte ich es kaum bis in den Nahen Osten. Ich glaube nicht, dass mir wirklich ein fernes Ziel vorschwebte. Der Weg war das Ziel. Ich folgte meiner Nase, meiner Intuition, meinen Launen, aber ich achtete mit Argusaugen darauf, wie weit man mit fünfzig Pfund kommen konnte.

Ich erinnere mich deutlich, dass ich bei meinem Aufbruch alles, was ich bis dahin gekannt hatte, hinter mir lassen wollte: die Schule, die Vororte, die Grafschaften um London herum, das wohlbehütete häusliche Leben, auch Dinge im England der 1960er Jahre, die durchaus attraktiv waren, wenn man siebzehn war. Der Wunsch, sie hinter mir zu lassen – eher aus Intuition denn aus einer Laune –, war auf jeden Fall sehr stark.

Wie auch immer, die fünf Monate währende Reise hatte mit Büchern nichts zu tun. Während der ganzen Zeit las ich so gut wie nichts, und vielleicht gehörten auch Bücher und Literatur zu den Dingen, die ich vorübergehend hinter mir lassen wollte. Als ich Thessaloniki erreichte, war ich ein ziemlich erfahrener Rucksackreisender und hatte, seit ich durch die Schultore in die Welt gegangen war, an Erfahrung dazugewonnen. Als Rucksackreisender erlebt man außergewöhnlich intensive Veränderungen, nicht nur, was die Gegenden betrifft, sondern auch, was die eigene Stimmung angeht, und ich hatte gelernt, die Unvorhersehbarkeit der Ereignisse gelassen hinzunehmen, so wie man mit der Zeit lernt, auf einem schlingernden Boot die Balance zu finden. Ich wurde sogar ein wenig süchtig nach dem Auf und Ab. Wenn etwas gut war, achtete ich darauf, weiterzureisen, bevor es umschlug – und die Erinnerung wurde gestochen scharf und sicher im Rucksack verstaut. War etwas schlecht, konnte ich mich immer auf das nächste Ziel freuen. Das Prinzip, etwas hinter sich zu lassen, ließ sich auch in diesem unmittelbaren Kontext anwenden.

Noch heute bin ich ziemlich erstaunt, dass ich die Reise lebend überstanden habe. Fünfzig Pfund war damals eine Menge Geld, aber es war ein magerer Betrag, wollte man fünf Monate davon leben. Es gelang mir, weil ich manchmal für ein Essen arbeitete und weil ich immer wieder überraschender Gastfreundschaft begegnete, aber auch, weil ich oft ohne Essen auskam und unter freiem Himmel schlief: an Stränden, in Gräben, unter Bäumen im Wald, oder, als ich in der Türkei war, in sehr billigen Herbergen. Doch nie erlitt ich ein größeres Unglück, ich hatte keinen einzigen Unfall und erlebte nie körperliche Gewalt – obwohl ich Zeuge von Gewalt wurde, woraufhin ich anfing (heute kommt es mir absurd vor, aber damals schien es sinnvoll), mit einem Messer unter dem, was mir nachts als Kissen diente, zu schlafen. Alles, was ich besaß, trug ich entweder am Körper, oder es war in meinem Rucksack verstaut, und obwohl ich diesen manchmal mehrere Tage hintereinander an unsicheren Orten unterstellte, wurde weder der Rucksack noch etwas von seinem Inhalt gestohlen. Vielleicht war darin nichts, was einen Dieb verlockt hätte.

Und als ich in Thessaloniki ankam und meine Rückfahrkarte abholte, hatte ich sogar noch Geld übrig. Ich nahm mir ein Zimmer in einem billigen Hotel, verglichen mit manchem Nachtlager der vergangenen Wochen ein Luxus, und beschloss, die verbleibenden sechsunddreißig Stunden stilvoll zu verbringen. Ich wollte mir die wohlhabenden Teile der Stadt ansehen und mich (trotz meines abgerissenen Äußeren) in eines der schicken Cafés am Strand setzen und mein restliches Geld auf diese angenehme Weise ausgeben.

Ich weiß nicht, ob ich diese Tage als bewussten Prozess der Normalisierung betrachtete, als Rückkehr in die »Zivilisation«, oder ob mir plötzlich wieder Dinge bewusst wurden, die vor mir oder in mir lagen, aber ich weiß, dass ich Lust hatte, ein Buch zu lesen. Geld genug für eines hatte ich. Ich ging in eine Buchhandlung – das hatte ich fünf Monate lang nicht getan –, fand eine kleine englischsprachige Abteilung und wählte eine bei Penguin erschienene Übersetzung der Gesammelten Erzählungen von Isaac Babel. Sie kostete fünfundzwanzig Drachmen, und ich habe das Buch noch heute.

Als ich die Schule verließ, hatte ich von Isaac Babel höchstens den Namen gehört. Ich wusste nicht, dass es in Russland selbst damals noch sehr schwierig war, seine Bücher zu bekommen. Sein Werk kam gerade erst aus der langen Verbannung unter Stalin zum Vorschein, und eine Neuausgabe seiner gesammelten Erzählungen auf Russisch war noch nicht erschienen. Der einzelne Band mit Erzählungen, den ich in Thessaloniki in der Hand hielt, war praktisch alles, was von einem brutal kurzen, aber mutigen Leben geblieben war – ein Leben, das durch Babels bemerkenswerte Selbstbeschneidung verkürzt worden war.

In den 1930er Jahren, als Babel noch keine vierzig war und die Repression sich auf seine beginnende Schriftstellerlaufbahn auszuwirken begann, hatte er sich zu fast vollständigem, aufsässigem Schweigen entschlossen. 1932 beklagte er in einer unverblümten Rede, dass die Schriftsteller seiner Zeit eines wesentlichen Rechts beraubt worden seien, des Rechts nämlich, schlecht zu schreiben – das hieß, sie schrieben gut, aber nicht korrekt im Sinne der Machthabenden. Mit seinem »Schweigen« unterwarf Babel sich nicht, sondern er entschied sich, in diesem Schwebezustand zu verharren und auf diese provozierende Weise sein Recht, »schlecht« zu schreiben, zu verkünden.

Damit wurde er zunehmend das Ziel von Drohungen. Ende der 1930er Jahre war Babel nicht nur »verstummt«, er war auch »verschwunden«. Er starb unter ungeklärten Umständen, bekannt war nur, dass er zwischen 1939 und 1940 in einem von Stalins Konzentrationslagern starb, und die Machthabenden verhinderten viele Jahre lang, dass sein literarischer Ruf sich verbreiten konnte.

Auch in anderer Hinsicht hatte Babel Tapferkeit bewiesen. Er war ein Schriftsteller, der sich gern als Intellektueller gab und sein »Schriftstellertum« betonte. Ein Foto zeigt ihn als Mittdreißiger mit hoher Stirn, randloser Brille und einem verhaltenen, humorvollen Ausdruck – ein freundlicher Lehrer. Trotz dieser von ihm geförderten Selbstdarstellung diente er zwischen 1918 und 1920 in den Kriegen nach der Russischen Revolution, besonders 1920 in den Kavallerieverbänden unter General Budjonny gegen Polen. Und diese Erfahrungen waren in die Sammlung von Kurzgeschichten Die Reiterarmee eingegangen, mit denen ich, nachdem ich Lionel Trillings Einführung gelesen hatte, in dem heißen Septembersonnenschein Thessalonikis begann.

Dass ein bebrillter jüdischer Intellektueller sich einem Regiment der Kavallerie anschloss, war an sich schon außergewöhnlich. Zur Erprobung seiner Außenseiterrolle hätte er nichts Extremeres wählen können; als Experiment auf der Suche nach literarischem Stoff wäre eine solche Beteiligung wohl zum Scheitern verurteilt gewesen. Aber die Geschichten, die ich las, vibrierten vor Intensität und furchterregender und packender Unmittelbarkeit. Es war klar – obwohl ich beim ersten Lesen nicht auf diesen Gedanken kam –, dass Babel, der noch dabei war, sein »Schriftstellertum« auszuformen, unmittelbare und kompromisslose Zusammenstöße von Verstand und Materie gesucht hatte, was sich, wie Lionel Trilling in seiner Einführung bemerkt, von Hemingways Anliegen unterschied (so lange war es noch gar nicht her gewesen, dass ich In unserer Zeit gelesen hatte), bei dem es im Kern um die Suche nach Mut und stoischer Tugend mit einer moralischen Botschaft geht. Babel schien sich nach einer das Ego auslöschenden Verschmelzung mit dem eigentlichen Quell von Handlung und Emotion zu sehnen.

Die Geschichten in Die Reiterarmee sind lyrisch und gewalttätig zugleich, ekstatisch und amoralisch, affirmativ und grausam, sie sind primitiv und zugleich große, fein gestaltete Literatur. Es ist nicht schwer zu erkennen – aber natürlich gingen mir auch diese Überlegungen nicht beim ersten Lesen durch den Kopf –, dass diese Erzählungen trotz ihres deklarierenden Titels und Babels Loyalität zu den Bolschewiken einem paranoiden und autoritären Regime missfallen würden, denn sie durchdringen Bereiche der menschlichen Natur, die außerhalb politischer Strategien und revolutionärer Programme liegen. Sie reiben sich an heutigen spröden Vorstellungen von politischer Korrektheit, und mit Sicherheit verstießen sie gegen die politische Korrektheit in Babels Zeit.

Aber Babel schrieb nicht nur über Krieg und Gewalt. In seinem so kurzen schriftstellerischen Leben schrieb er auch über die vielen Freuden des Daseins; über seine Geburtsstadt Odessa, über Frankreich, das er Ende der 1920er Jahre besuchte. Neben seinem kompakten und prall-lebendigen Erzählstil hat er die unvergleichliche Fähigkeit, verschiedenste körperliche Empfindungen sowohl zu verdichten als auch zu zelebrieren, auf eine Weise, für die der reguläre Begriff »Beschreibung« zu kurz greift. Außerdem schrieb er über Literatur und blieb seinem Schriftsteller-Ich treu, das er verspottete und zugleich in den Hexenkessel menschlicher Irrungen warf.

Es fällt mir schwer zu beschreiben, von der Macht seiner Worte auf den Buchseiten abgesehen, warum ich eine so unmittelbare Verbindung zu Babel empfand. Allein die Idee von einer Verbindung ist ziemlich vermessen und absurd. In Bezug auf Erfahrungen und Lebensumstände waren wir Lichtjahre voneinander entfernt. Auch wenn meine Vorfahren mütterlicherseits zum Teil russisch-jüdischer oder polnisch-jüdischer Herkunft waren und einige aus den Grenzgebieten zwischen Polen und Russland stammten, um die Budjonnys Kavallerie kämpfte, kann man eigentlich nicht von einem Band sprechen.

Und fast erübrigt es sich, zu sagen, dass ich, obwohl ich Schriftsteller wurde, nie etwas geschrieben habe, das auch nur im Entferntesten an Babel erinnert.

Dennoch bleibt die Tatsache, dass ich nicht nur von seinen Erzählungen entflammt war. Ich bewundere viele Schriftsteller und bin von ihrem Schreiben begeistert, und ich hätte sie gern kennengelernt, aber nur wenige haben in mir ein Gefühl geweckt, das gar nicht unbedingt mit Literatur zu tun hat, sondern eher einer seltsamen Intuition gleichkommt, dass ich sie nicht nur gerne kennengelernt hätte, sondern wir uns auch gut verstanden hätten.

Später, als ich mehr über ihn herausgefunden hatte, konnte ich diese vermeintliche Verbindung besser analysieren, wenn auch nicht vollständig erklären. Auf seine schriftstellerische Weise betonte Babel immer wieder, dass er kein »natürlicher« Schriftsteller sei. Schreiben sei für ihn ein Kampf, er müsse sich die Worte abringen. Er bewunderte Schriftsteller, von denen er annahm, das Schreiben gehe ihnen leicht von der Hand. Von Tolstoi sagte er, die Welt entstehe »durch sein Schreiben«. Vielleicht, so denke ich heute, ist die Vorstellung von einem natürlichen Schriftsteller ohnehin ein Mythos. Natürliche Schriftsteller sind einfach die, bei denen das Schreiben wie die einfachste Sache von der Welt aussieht – auch Tolstoi hat nicht in einer orakelhaften Trance geschrieben, er hat einfach gearbeitet. Aber als ich siebzehn, fast achtzehn war, glaubte ich daran, dass es solche natürlichen Schriftsteller gab. Ich glaubte, sie seien die echten Schriftsteller. Und vielleicht war das auch der Kern meiner Angst bei meinem Wunsch, selbst einer zu werden: Ich wusste, dass das Schreiben mir nicht leicht von der Hand ging. Wäre das so, wäre ich damals bereits ein Schriftsteller gewesen und hätte den Weg nicht noch vor mir gehabt. Ich konnte nur Schriftsteller werden, wenn ich das Talent dazu aus mir herausholte. Indem ich daran arbeitete. Vor dieser Arbeit fürchtete ich mich, und auch vor der Möglichkeit des Scheiterns.

Meine Lektüre von Babel hat den Prozess nicht beschleunigt. Es dauerte noch weitere sechs oder sieben Jahre, bevor ich wirklich Schriftsteller wurde, und seltsamerweise spielte Griechenland dabei eine Rolle. Aber Babel hat mir Mut gemacht. Von damals an hatte ich das Gefühl, er sei »an meiner Seite«, dieser wunderbare, verschwundene Geschichtenerzähler, und ich glaubte, sicherlich eine törichte Idee, ich hätte ihn kennenlernen können und hätte ihn gemocht, und wir hätten bis tief in die Nacht miteinander geredet.

Einer der natürlichen Schriftsteller, den Babel bewunderte, war Maupassant, und es gibt eine Geschichte von Babel mit dem einfachen Titel Guy de Maupassant. Der russische Erzähler, ein Schriftsteller und eine notdürftig verschleierte, jüngere Version von Babel selbst, gerät in den Bann der Erzählungen Maupassants, als er eine Affäre mit der Frau hat, die diese Erzählungen ins Russische übersetzt (allerdings schlecht). Die Babel-Figur verbessert die Übersetzungen, was die beiden einander näherbringt, aber auch die Bewunderung des Schriftstellers für Maupassant verstärkt. In dieser Geschichte kommt der Satz vor, der wahrscheinlich am häufigsten von Babel zitiert wird: »Kein Eisen vermag so schneidend kalt ins menschliche Herz zu dringen wie ein zur rechten Zeit gesetzter Punkt.« Ein Satz, der seinerseits ins Herz eindringt. Die Erzählung endet damit, dass der Schriftsteller bis tief in die Nacht eine Biographie Maupassants liest, besonders den Teil über dessen letzte Jahre (Maupassant starb im Alter von zweiundvierzig Jahren an Syphilis), in denen er zwar schwerkrank und fast blind war, Selbstmordgedanken hegte und schließlich verrückt wurde, aber bis ganz zum Schluss schrieb.

Babels Erzählung endet so: »Ich las das Buch bis zum Ende und erhob mich von meinem Bett. Der Nebel war bis ans Fenster gekommen und verhüllte das Universum. Mein Herz zog sich zusammen. Eine Vorahnung der Wahrheit streifte mich.«

In Griechenland, in Thessaloniki im September, hatte ich keinen Petersburger Nebel, aber ich hatte Babels Buch, und ich hatte die sinnlich spürbare Erregung einer literarischen Übertragung. Was Babel in Bezug auf Maupassant beschrieb, war genau das, was ich in Bezug auf Babel empfand.

Ich glaube nicht, dass mir meine fünf Monate als Rucksackreisender wie eine Lehre im Sinne Babels erschienen waren – sie ließen sich mit seiner Zeit bei der kosakischen Kavallerie kaum vergleichen. Aber vielleicht fragte ich mich umgekehrt und leicht beschämt: Was hätte Babel aus den vielen Ansichten, Eindrücken, Vorfällen und Momenten bemerkenswerter menschlicher Kontakte und kleiner Abenteuer gemacht, die ich in jenen Monaten erlebt hatte? Die Messerstecherei, die ich in der Türkei miterlebt hatte, ein weißes, sich langsam rot verfärbendes Hemd; oder in Izmir die Begegnung mit einer Familie, die mich in ihr kleines Haus aufnahm, wo ich bleiben konnte, so lange ich wollte, und als ich weiterzog – aus dem einfachen Grund, dass es mich dazu drängte –, weinte die ganze Familie, und ich fühlte mich wie der gemeinste Mensch auf Erden. Oder in Bulgarien, als ich aus einem Wald kam, auf einem staubigen Pfad, der zu einem Dorf führte, wo, wie ich erfuhr, nie zuvor ein Fremder gewesen war und wo der Bürgermeister oder der Älteste – was immer sein Titel war – die gesamte Bevölkerung versammelte, damit sie fotografiert werden konnte, zusammen mit mir, dem historischen Phänomen. Das Dorf mit seinen Holzhäusern und Pferdekarren und den Frauen mit Kopftüchern erinnerte an Babels polnische Landschaften.

Doch einem merkwürdigen Zufall war es zu verdanken, dass eines der bemerkenswertesten Abenteuer meiner fünf Monate währenden Reise, als ich schon dachte, sie sei zu Ende, noch bevorstand. Mein Zug zurück nach England kam aus Athen und sollte frühmorgens Thessaloniki erreichen. Als ich am Morgen vor meinem Reisetag über einen belebten Platz in der Mitte der Stadt ging, sah ich zwei meiner Schulfreunde auf mich zukommen. Natürlich trugen sie nicht, wie beim letzten Mal, als ich sie gesehen hatte, Schuluniform, sondern waren ähnlich gekleidet wie ich und hatten die Hälfte ihrer Reise hinter sich; sie war viel kürzer als meine gewesen, denn ich war ja schon seit dem Frühling unterwegs. Sie hatten die Schule im Juli verlassen und waren seit knapp einem Monat auf Reisen. Ich fühlte mich ihnen, das gebe ich zu, sofort überlegen: Die beiden waren Neulinge, und sie reisten zu zweit. Außerdem gestehe ich, dass ich mich in dem Moment, als ich sie bemerkte, einem instinktiven Bedürfnis folgend abwenden wollte. Ich wollte diese »Störung« nicht. Hätte ich nur das Glück gehabt, sie zu meiden, aber sie hatten mich schon entdeckt, es war zu spät. Das war das Ende meiner Babel-Lektüre.

Wir tranken eine Menge Wein, und da die beiden über Nacht in Thessaloniki blieben – ich glaube, sie wollten nach Istanbul –, bestanden sie darauf, mich zu meinem Zug zu bringen. Sie ließen nicht locker, und so trafen wir mitten in der Nacht auf dem Bahnsteig ein, wo wir uns, es muss gesagt werden, wie drei dumme Schuljungen aufführten. Ich spürte, wie alles, was ich auf meiner fünfmonatigen Reise gelernt hatte, aus mir herausrann.

Ein griechischer Militäroffizier mit besonders arrogantem Auftreten schritt auf dem Bahnsteig auf und ab und missbilligte ganz offensichtlich unsere langen Haare, unser Gelächter und albernes Getue. Tatsächlich lachten wir auch über ihn. So ging es eine Weile, dann nahm einer meiner Freunde – ich erinnere mich, dass er in der Theatergruppe der Schule eine große Nummer war – ein Messer aus meinem Rucksack und wedelte damit zu dem Offizier hinüber, als probe er für die Rolle von einem der Mörder in Macbeth, und zwar schlecht. Eine kolossale Dummheit.

Wir waren in Griechenland, wo jüngst eine Militärregierung eingesetzt worden war. Wir wurden verhaftet und zur Polizeistation gebracht, dann in einem Mannschaftswagen der städtischen Polizei abtransportiert. Die Tatsache, dass mein Zug in Kürze fuhr und ich nicht derjenige gewesen war, der das Messer geschwenkt hatte, interessierte niemanden. Es war mein Messer. Es wurde viel gebrüllt und mit Fäusten auf Schreibtische geschlagen. Mein Zug fuhr ohne mich ab. Dann verschärfte sich die Situation. Der Wagen, mit dem wir zur Polizeistation gebracht wurden und in dem vorne zwei Polizisten saßen, fuhr sehr langsam und, wie es schien, auf Umwegen. Wir drei hatten Angst, man könnte uns zusammenschlagen und an einer einsamen Stelle liegen lassen.

Unser Schicksal hätte viele unangenehme Wendungen nehmen können. Am Ende verbrachten wir zwar die Nacht auf der Polizeistation, aber man warf uns nicht ins Gefängnis; dennoch schien es uns, als stünde die Sache auf der Kippe. Erschwerend kam hinzu, dass ich das belastende Messer in Bulgarien gekauft hatte und der Markenname in kyrillischen Buchstaben darauf eingraviert war. Die schlichte Logik lag auf der Hand: Ich war Kommunist. Dabei hatte ich das Messer hauptsächlich benutzt, um Brot und Melone zu zerschneiden. Ich hatte es als Ersatz für ein anderes gekauft, das ich verloren hatte, und wie sein Vorgänger hatte ich es mir manchmal beim Schlafen unter den Kopf gelegt, um mich so vor Ungemach zu schützen. Jetzt hatte es mir Ungemach gebracht.

Am Ende war der Militäroffizier vom Bahnhof, der wohl ebenfalls seinen Zug verpasst hatte und gesondert von uns zu seiner Zeugenaussage vorgeladen wurde, darüber verärgert, dass seine gerechte Empörung ihm nichts als Scherereien einbrachte, und zog seine Klage zurück. Am Morgen erhielten wir unsere Pässe zurück und wurden entlassen. Ein guter Ausgang für meine Freunde, die frei weiterreisen und fortan eine gute Geschichte erzählen konnten. Ich hingegen stand vor der Schwierigkeit, mit einer ungültigen Fahrkarte nach London reisen zu müssen – eine Reise von fast zweitausend Meilen.

Irgendwie habe ich es geschafft, den ganzen Weg bis London Victoria. Es war eine Fahrt, bei der ich nicht voll bei Verstand war, weil ich vier Nächte lang, die auf der Polizeistation mitgerechnet, nicht geschlafen hatte. Damals waren in transeuropäischen Zügen von und nach Griechenland ganze Waggons für Studentenreisegesellschaften reserviert, komplett mit Liegewagen und Mahlzeiten – aber nur einmal in der Woche. Mit Rucksack und ungültiger Fahrkarte blieb mir nichts anderes übrig – ich reiste als gewöhnlicher Passagier. Praktisch bedeutete das, dass ich während der ganzen Fahrt von Griechenland nach Deutschland (über sechsunddreißig Stunden lang) im Gang stehen musste, da die Züge nach Norden voller Griechen, später Jugoslawen auf dem Weg in die florierende deutsche Wirtschaft waren – zusammen mit dem größten Teil ihrer Besitztümer, so schien es. Die Enge lässt sich nicht beschreiben – man konnte nirgendwo sitzen –, aber ich war reiseerfahren und an alle möglichen Entbehrungen gewöhnt, und ich hätte es vielleicht gelassen hingenommen, wäre da nicht die Angst gewesen, aus dem Zug geworfen zu werden. Gelegentlich kam jemand in Uniform und quetschte sich übellaunig durch die Gänge. An den Grenzen stand der Zug lange. Ich erfand verschiedene Geschichten, mit denen ich meine ungültige Fahrkarte erklärte. Selbstverständlich erwähnte ich meine Verhaftung durch die griechische Polizei mit keinem Wort.

Am Ende waren es etliche Griechen und Jugoslawen, die an der deutschen Grenze mit ihrem Gepäck an die Luft gesetzt wurden. Was aus ihnen wurde, weiß ich nicht: Das war die Kehrseite der florierenden deutschen Wirtschaft. Ich blieb im Zug, nach wie vor stehend, hatte aber immer mehr Platz. Nach einer Weile konnte ich mich auf meinen Rucksack setzen. Vielleicht nickte ich sogar ein, als wir rheinaufwärts fuhren.

Ich erinnere mich vor allem an meine Ankunft am späten Abend in Köln, wo ich in einen Zug nach Ostende umsteigen musste und wieder auf einem Bahnsteig unter Menschen in Militäruniform stand. Diesmal wurde ich umgehend – ein letztes Aufschwingen des Glücks in der Pendelbewegung während einer Reise – von einer Gruppe britischer Kadetten auf dem Weg nach Hause in den Urlaub als Freund aufgenommen. Sie waren wild entschlossen, mich mit Bier abzufüllen. Ich habe ihre außerordentlich freundliche und großzügige Gesellschaft nie vergessen, wo doch auf den ersten Blick zu erkennen war, dass wir außer dem Alter wenig gemein hatten. Auf der einen Seite ich, verlottert nach fünf Monaten des Herumreisens, auf der anderen sie in ihren Uniformen und Stiefeln, dem noch nachhallenden Ethos des Wehrdienstes und der Armee am Rhein verpflichtet. Wäre ich ein paar Jahre älter gewesen, hätte ich einer von ihnen sein können. Aber ich war zu müde und später zu betrunken, um über weitere Erkenntnisse über die Veränderungen im Nachkriegseuropa nachzusinnen. Inzwischen waren auch meine Sorgen wegen meiner nicht gültigen Fahrkarte verflogen, ich war mir meiner magisch behüteten und unantastbaren letzten Etappe nach Hause sicher.

An die Zugfahrt nach Ostende und die Überfahrt nach Dover erinnere ich mich nur schwach. Ich weiß noch, dass meine neuen Armeefreunde mich verließen, um in die Bar unter Deck zu gehen, während ich mich mit meinem getreuen Rucksack auf einer Bank ausstreckte. Kann sein, dass ich ganz allein da oben war, aber ich hatte an den merkwürdigsten Plätzen genächtigt, und ich hatte seit vier Tagen die Beine nicht ausgestreckt. Dass die Nordseeluft im September kalt und nass war, störte mich nicht.

An das Aufwachen in Dover erinnere ich mich, denn einer meiner Militärkumpel – der sich wohl meinetwegen Sorgen gemacht hatte, als ich ihm wieder eingefallen war – schüttelte mich wach. Er war leicht grünlich im Gesicht. Er sagte einfach nur: »Wir sind da.«

Und so war es. Vor uns die weißen Klippen von Dover. Vor uns England, schemenhaft durch einen verhangenen Herbstmorgen. Es sah sehr sonderbar aus, mein Land, es sah wirklich sehr fremd aus. Auch auf der Zugfahrt durch Kent wirkte alles sonderbar. Was für eine Ironie es gewesen wäre, hätte man mich am Schluss noch in Ashford oder Tonbridge aus dem Zug geworfen.

Aber zu guter Letzt setzte ich meinen Rucksack auf dem Bahnsteig in Victoria Station ab. Hätten zwei idiotische Freunde mich in Thessaloniki nicht abgelenkt, ich hätte den größten Teil des Inhalts – schmutzige Bekleidung, nicht mehr benötigte Teile der Ausrüstung – weggeworfen und mir das Gewicht erspart. Aber dieser Moment der Vernunft war verstrichen, außerdem war ich es ja gewöhnt, mit einer Art Haus auf dem Rücken zu reisen. Zu dem Inhalt, dem ganzen Krempel von fünf Monaten, gehörte auch ein bulgarisches Messer (es war nicht konfisziert worden) und mein Exemplar von Isaac Babels Erzählungen. Auf der zweieinhalb Tage langen Zugreise hatte ich weder die Möglichkeit gehabt, noch war ich in der geistigen Verfassung gewesen, auch nur ein Wort darin zu lesen.

Trotzdem, das Buch habe ich noch. Und das Foto von Babel ist das einzige Bild eines Schriftstellers, das ich je auf meinem Schreibtisch haben wollte.

Isaac Babel