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Dagmar Fohl

Das Mädchen und sein Henker

Historischer Roman

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Katja Ernst

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung des Bildes »Hinrichtung einer Vestalin«

von Heinrich Friedrich Füger, http://de.wikipedia.org

ISBN 978-3-8392-3374-0

Zitat

Toren ihr! Zu ewiger Blindheit verdammt! Meinet ihr wohl gar, eine Todsünde werde das Äquivalent gegen Todsünden sein, meinet ihr, die Harmonie der Welt werde durch diesen gottlosen Misslaut gewinnen?

(Friedrich Schiller, Die Räuber)

Erster Teil

1. Kapitel

Am Tag, an dem Jan Kock begann, für seine Meisterprüfung zu üben, geschah nichts Außergewöhnliches im Zentrum der Stadt. Rund um die Petri-Kirche, wo er zu Hause war, bahnten sich die Menschen und Fuhrwerke ihren Weg durch das Labyrinth der schmalen und krummen Gassen. Unbeirrt von der Enge, von dem Lärm und dem Gestank, wateten sie durch Unrat, Kot und Dreck. Beständig atmeten sie die fauligen Dünste ein, die aus jeder Ecke der dicht an dicht ineinandergeschobenen Häuserhaufen und aus den Kanälen und Fleeten der Stadt aufdampften. Hier und da lagen Tierkadaver herum. Auch in den Fleeten und Hasenmooren, den stehenden Wasserzügen, dümpelte Aas.

Wie gewohnt gingen die Menschen in Hamburg ihrem Tagwerk nach. Karrenschieber und Lastträger stoben voran. Kranzieher waren vor ihre Wagen gespannt und schleppten schwere Lasten, Pferdekutschen polterten über die Wege. Dazwischen das Fußvolk. Boten teilten Post aus, Dienstmädchen machten Besorgungen, Marketenderinnen liefen mit ihren Körben umher und verhökerten Fische, Korinthenklöven und Schnaps. An den Straßenecken sangen und spielten Drehorgelspieler und Bänkelsänger. Hier und da hockte jemand am Gassenrand und verrichtete seine Notdurft. Überall liefen und krochen Bettler umher. Sie zupften an Rockzipfeln, jammerten lauthals um eine milde Gabe. Die Gassenjungen ließen ihre Peitschen knallen, schlugen den Fußgängern zwischen die Beine, dass sie zu Boden fielen. Einige Jungen warfen Erd- und Kotklumpen durch die Fenster der Karossen.

Nichts Bemerkenswertes geschah an diesem Tag. Beharrlich stolperten die Menschen, rumpelten die Karren und Kutschen über das schadhafte Pflaster. Füße knickten um, Räder fuhren sich fest, versanken im Morast von Abfällen. Menschen schrien und schimpften, Pferde wieherten, Straßenköter kläfften. All der Lärm, das Geschrei, das Rattern der eisenbeschlagenen Wagenräder, das Peitschenknallen der Kutscher und Gassenjungen, all der Schmutz, der Jauchegestank, die Masse an Dämpfen, die sich zusammenbrauten und sommers wie winters als Wolke über der Stadt lagen, gehörten zum täglichen Einerlei. Abgesehen davon, dass es sich um einen besonders heißen Sommertag handelte, nahm alles seinen gewohnten Lauf.

Für Jan Kock war an jenem Tag, es war der dreißigste August des Jahres 1767, nichts alltäglich. Er stand in seinem Garten hinter dem Haus, abseits des Gassenlärms, und übte. Mit einem langen Nagel durchbohrte er einige Rüben, zog eine nach der anderen auf einen Faden, legte die Rübenkette auf den Holzstamm, der als Begrenzung des Kräutergartens diente. Danach begann er, das Schwert zu schärfen. Mit äußerster Sorgfalt zog er den Wetzstahl über die Klinge. Mehrmals prüfte er ihre Schärfe mit dem Daumen. Dann führte er das Schwert mit beiden Händen nach oben. Er musste genau zielen, um den Faden zwischen den Rüben zu durchtrennen. Acht Mal schlug er zu. Immer wieder fehlte er. Acht Mal hieb er in das Rübenfleisch.

Er übte so lange, bis das Schwert den Faden zertrennte, ohne die Rüben zu verletzen. Danach versuchte er es mit toten Ziegen. Ziegen hatten besonders starke Nackenwirbel. Es war nötig, stark genug zuzuschlagen und das Schwert so präzise zu führen, dass es den Dornfortsatz und die beiden Querfortsätze des Halswirbels zerschnitt. Ein einziger waagerecht mit beiden Händen geführter Hieb musste das Haupt vom Rumpf trennen. Er holte kräftig aus. Klack. Ein sauberer Schnitt.

Jan Kock übte ohne Unterlass, denn er hatte Angst. Unbändige Angst. Er wollte nicht wie viele andere Scharfrichter von der aufgebrachten Volksmenge gesteinigt oder erschlagen werden, wenn er fehlte. Sein Vetter Hans in Lüneburg wäre beinahe umgekommen. Noch ganz beherzt und ohne Zögern hatte Hans dem Verurteilten die Haare abgeschnitten. Als er ihn dann aber hinrichten sollte, da torkelte und taumelte er, und erst mit vier Streichen schnitt er dem Delinquenten den Kopf ab. Hans war dem wutentbrannten Pöbel nur entkommen, indem er sich ins Gefängnis flüchtete.

»Übe, mein Junge, übe«, sagte der Vater auf dem Totenbett. »Ein Scharfrichter kann sich keine Fehler leisten. Gefährde nie deine Familie und dein eigenes Leben. Werde ein guter und gewissenhafter Scharfrichter.«

Schon einige Male hatte Jan Kock dem Vater bei Hinrichtungen assistiert, hatte den Verurteilten Wein reichen und sie festbinden müssen. Er kannte das Geräusch, wenn das Schwert durch den Hals fuhr. Auch das Rauschen und Spritzen des Blutes, das wie eine Fontäne aus dem Halse schoss, und die Totenblässe, die sich auf dem verblutenden Gesichte zeigte. Einmal, bei einer Kindsmörderin, die der Vater gerichtet hatte, war noch Leben im abgeschlagenen Kopfe, die Wangen waren rosig geblieben und die Lippen bewegten sich, als würden sie lautlose Worte sprechen, als sagte sie, man solle doch ihren Kopf wieder auf den Rumpf setzen.

Wie ist es, einen Menschen zu köpfen, mit eigenen Händen? Wie ist es, eine Frau zu köpfen? Was fühlt man dabei? Wäre er imstande, das zu tun, was man fortan von ihm verlangte?

»Du musst geschickt und tüchtig sein«, sagte der Vater, »du musst treu, gehorsam und verschwiegen sein, die Anweisungen der Obrigkeit genau befolgen und darauf vertrauen, dass die Herren Richter ein gerechtes Urteil gesprochen haben. Du darfst die Strafen, zu denen die Angeklagten verurteilt sind, niemals infrage stellen. Und denke immer daran: Rasch abgesetzt zu werden, ist eine schmerzfreie Art zu sterben, sofern du dein Handwerk verstehst.«

Der Vater sprach nie vom Köpfen. Er setzte rasch ab. Und wenn er stäupte, sprach er von fegen. Und wenn er folterte, setzte er vernünftig die Glieder. Und statt zu henken, schlug er einen feinen Knoten, und wenn er räderte, spielte er artlich mit dem Rade.

Am Tag der Meisterprüfung zogen Tausende von Menschen durch die Straßen zum Steintor hin, wo die Hinrichtung vollzogen werden sollte. Die Menschen drängten und schubsten, um voranzukommen. Sie lärmten und lachten, schrien und pöbelten. Jan Kock saß auf seinem Wagen, neben ihm die Mörderin, in eine härene Decke gewickelt. Das Messer, mit dem die Mutter die Tat begangen hatte, hing um ihren Hals. Der Wagen war umringt von Kavalleristen, die den Pöbel im Zaum hielten. Einige Reiter ritten mitten in die Volksmenge hinein und sprengten sie mit Gewalt auseinander. Menschen stürzten und drohten von der Masse zertreten zu werden.

Das Militär hatte um den Köppelberg einen großen Kreis geschlossen. Hinter der Absperrung hielten viele Wagen. Manche brachen unter der Last der Zuschauer zusammen, worauf die umstehende Menge mit Hohngelächter antwortete. Zwischen den Volksmassen drängten sich zahllose Marketender, die Likör und Branntwein feilboten und ihre Waren reißend verkauften.

Der Tag versprach heiß und stickig zu werden. Die Sonne stach bereits in den Morgenstunden. Jan Kock wischte sich die schweißnassen Hände an seinem Mantel ab. Er blickte weder nach rechts noch nach links, bis die Garde ihn mit der Verurteilten vor die Richtertribüne geleitet hatte. Der Oberstrichter schnaufte und schlug mit seinem Amtsstab auf.

»Stille, Stille!«, riefen die Gerichtsdiener.

Der Richter ergriff das Wort. »Du, Maria Voßen, tritt hervor und vernimm hier unter Gottes freiem Himmel das Strafurteil, welches die höchsten Richter dieser Stadt, zwar mit blutendem Herzen, aber auch mit höchster Gerechtigkeit gegen dich ausgesprochen haben, weil gegen dich Recht ergehen muss vor Gnade.

Mit dem Schwert sollst du hingerichtet werden vom Leben zum Tode. Gerecht, im höchsten Grade gerecht ist dieses Urteil, denn du hast dein eigenes Kind mit dem Messer getötet. Dein Leben ist verwirkt, auf dieser Erde ist für dich kein Platz mehr. Ich trenne das Band zwischen der Menschheit und dir. Nur bei Gott kannst du noch Gnade finden.«

Er klopfte erneut mit dem Stab.

»Scharfrichter Kock, ich übergebe Euch die hier vor mir stehende arme Sünderin, sie mit dem Schwert zu richten. Tut nun Eure Schuldigkeit, wir haben die unsrige getan.«

In der Mitte des Platzes befand sich das siebzehn Fuß hohe, teils gemauerte, teils hölzerne Gerüst. Jan Kock stieg mit der Delinquentin, den Scharfrichterknechten, dem Prediger und einigen Amtsvertretern die Treppe zum Schafott hinauf.

»Stille!«, riefen die Gerichtsdiener. »Stille!«

»Im Namen des Hoch- und Wohledlen Rates«, sprach der Richter, »gebiete ich von Obrigkeit wegen, bei Leib und Gut, dem Scharfrichter keine Hinderung zu tun, auch wenn ihm, Gott bewahre ihn davor, etwas misslingen sollte. Niemand darf Hand an ihn legen, denn auch er steht unter dem Schutz der Gesetze, und sollte er fehlen, so wird auch ihn sein Richter finden. Darum haltet Frieden! Haltet Frieden!«

Jan Kock trat an die linke Seite der Delinquentin. Der Prediger gebot der Mörderin, auf die Knie zu fallen und ein kurzes Gebet für die Vergebung ihrer Sünden zu sprechen. Die Verurteilte brach in krampfhaftes Weinen aus. Der Fronknecht führte sie auf den Richtstuhl, band ihr Arme und Beine und befestigte das Kinn mit einer Lederschlinge.

»Richtet sie«, schrie das Volk, »richtet die Teufelin.«

Jan Kock zog das Schwert unter seinem Mantel hervor. Es war des Vaters Schwert, in dessen Klinge der Spruch Die Herren judizieren, ich tue exequieren eingraviert war. Eine unheimliche Stille legte sich über den Richtplatz. Männer, Frauen und Kinder verstummten, selbst die Hunde hörten auf zu bellen. Es war kurz nach zwölf. Die Sonne stand im Zenit und brannte unerbittlich. Jan Kock richtete seine Augen starr auf den Nacken der Verurteilten. Er atmete tief ein, führte das Schwert nach oben. Längst hätte der Kopf fallen müssen, aber er vermochte nicht zuzuschlagen. Er stand mit erhobenem Schwert, wie eine Statue, neben der Verurteilten.

Tosender Lärm verdrängte die Stille. Die Menge schrie und pöbelte. Flaschen flogen durch die Luft und zerschlugen auf dem Pflaster.

»Richtet sie, richtet sie«, tönte es von überall.

Jan Kock liefen Schweißtropfen über Gesicht und Hals. Er begann, vor Anspannung zu zittern. Er setzte das Schwert ab.

»Kopf ab, Kopf ab«, schrie der Pöbel. Die Pferde der Garde scheuten.

Er holte aus, hörte, wie der Kopf über die Klinge sprang und dumpf zu Boden fiel. Zwei Blutsäulen schossen aus dem Rumpf hervor, fast zwei Ellen hoch, wie aus einem Springbrunnen. Jan Kock spürte Blutspritzer auf seinem Gesicht. Er blickte auf den abgeschlagenen Kopf, der zu seinen Füßen lag. Der Mund der Geköpften stand offen, die Zunge zuckte noch, als wolle sie reden. Er spürte, wie er erblich, aber er konnte seinen Blick nicht von ihr lösen. Für einen kurzen Moment schien ihm, er würde in die Knie sinken, ohnmächtig werden. Doch plötzlich fuhr ein heftiger Ruck durch seinen Leib. Er riss sein Schwert in die Höhe und salutierte dem Gericht:

»Richter, habe ich recht gerichtet?«

»Ihr habt recht gerichtet, wie Recht und Ordnung spricht, darum habt Ihr recht gerichtet«, verkündete der Richter.

Und er antwortete: »Davor danke ich Gott und meinem Meister, der mich solche Kunst gelehrt.«

Am Fuße des Gerüstes sammelten sich die Fallsüchtigen. Die Knechte reichten den Kranken das aufgefangene Blut der Geköpften. In der Hoffnung zu gesunden, ergriffen die Menschen die Becher und stürzten das noch warme Blut hinunter. Der Gesang der Geistlichen und Schulkinder drang an Jan Kocks Ohr.

»Ist denn das Herze und Genicke

Zusamt dem andern Leibesrest

Zerteilt in zwei getrennte Stücke,

dass Seel und Geist den Leib verlässt,

So höre, was mein Blut noch spricht:

Verstoße die Zertrennte nicht.«

Als der Gesang ausklang, begann der Musikzug zu spielen. Jan Kock stieg taumelnd die Treppen des Schafottes hinab. Mit Pauken und Trompeten und geschützt von einer Garde Reiter wurde er nach Hause geleitet.

2. Kapitel

Jan Kock saß auf dem Baumstamm, der als Begrenzung des Kräutergartens diente. Benommen blickte er auf die blühenden Kräuter. Wieso kam ihm seine Meisterprüfung ins Gedächtnis? Er hatte jahrelang keinen Gedanken daran verschwendet. Sechs Jahre war es her, dass er seine Probe abgelegt hatte. Sechs Jahre. Wieso dachte er gerade heute daran? Vielleicht, weil an diesem Tag die gleiche lastende Schwüle in der Luft lag, vielleicht, weil er sich alt und erschöpft fühlte. Menschen lebten immer in der Vergangenheit, wenn sie für sich keine Zukunft mehr sahen.

Der intensive Duft der Kräuter stieg ihm in die Nase. Heute war ihm dieser Duft lästig. Er war schwer, betäubend. Er wünschte sich nichts sehnlicher als eine frische Brise. Sechs Jahre lang war er jeden Mittwoch auf die Amtsstube gegangen, seine Aufträge entgegenzunehmen. Sechs Jahre lang hatte er den Knechten für die Torturen, das Stäupen und Brandmarken am Pranger und für alle Galgenurteile Anweisungen gegeben. Er selbst hatte eigenhändig acht Hinrichtungen mit dem Schwert vollstreckt, ›glücklich vollzogen‹, wie in den Schriftstücken vermerkt war. Freitags wurden die Urteile gesprochen, montags hingerichtet, immer um zwölf Uhr mittags.

Sechs Jahre lang hatte er angenommen, dass das Leben, das er führte, erträglich wäre, solange er seinen Garten und den Fluss hatte, solange er seine Spaziergänge an der Elbe machen konnte, aufs Wasser blickte und die Schiffe zählte, die mit der Flut einwärts oder mit der Ebbe auswärts fuhren, oder sich an den Möwen erfreute, die in weiten Bögen über das Wasser flogen.

Jan Kock schüttelte sich. Es war sicher die drückende Luft, die ihn melancholisch stimmte. Er ging zur Regentonne und schüttete sich eine Kelle Wasser über den Kopf. Aber die Gedanken rasten weiter.

Warum war er damals nicht mehr in die Schule gegangen, warum hatte er nicht den Mut gehabt, den Lehrern und Mitschülern die Stirn zu bieten, seinen Weg zu gehen, dafür zu kämpfen, Arzt werden zu können? Gewiss, nur wenige Scharfrichter hatten es zum Chirurgen oder Arzt gebracht. Aber einige hatten den schweren Weg auf sich genommen und waren erfolgreich gewesen. Auch er, Jan Kock, hätte es schaffen können. Warum hatte er mit seinem Hund auch den Wunsch, Arzt zu werden, begraben?

»Jan, du bist zum Arzt geboren«, hatte der Vater gesagt, »du sollst Arzt werden, nicht Scharfrichter!«

Seit seinem zehnten Lebensjahr hatte Vater ihn die Wunden der Verbrecher behandeln und verbinden lassen. Vater hatte ihn so vieles gelehrt. Stundenlang hatten sie zusammen Pflanzen gesammelt, getrocknet und gepresst, sie beschriftet, ihre heilenden Kräfte notiert und Salben und Tinkturen gemischt. Er hatte sogar die Erlaubnis erhalten, das Gymnasium zu besuchen. Nicht, weil er als Sohn des Scharfrichters gern gesehen war. Kein ehrbarer Bürger wollte sich mit jemandem abgeben, der Menschen tötete, ihre Leichname beseitigte, herrenlose Hunde schlug, das Aas wegschaffte und Abortgruben ausräumte. Niemand wollte sich mit einem Scharfrichter- und Abdeckersohn beflecken. Nur weil der Vater den Sohn des Senators geheilt hatte, als kein Arzt mehr helfen konnte, erhielt er die Erlaubnis, am Unterricht teilzunehmen.

Das Lernen fiel ihm immer schon leicht. Er wurde schnell der Klassenbeste. Doch dann, eines Tages, hatte er sich geschworen, das Schulgebäude nie wieder zu betreten! Er hätte alles ertragen, das Gehänsel und Gelächter seiner Mitschüler, die Ungerechtigkeiten und Schläge der Lehrer. Er wurde verhöhnt, beschimpft, gequält, misshandelt, das alles hätte er ertragen, wenn nicht das mit seinem Hund passiert wäre.

Sultan hatte er ihn gerufen. Er war der treueste und bravste Hund der Welt. Er hatte ihn an den Hundstagen, an denen die Abdecker herumstreunende Hunde in den Straßen einfingen und erschlugen, vor dem sicheren Tod und dem Abledern gerettet. Das Hündchen lag in einer Hausecke hinter einem Bierfass. Er hatte das braun-weiße Wollknäuel in seine Manteltasche gesteckt und mit nach Hause genommen.

»Jan hat keine Freunde, lassen wir ihm das Hündchen«, hatte die Mutter gesagt.

Dann, eines Nachmittags, an der Elbe, er stromerte gerade mit Sultan am Ufer entlang, traf er auf eine Gruppe von Mitschülern, die auf dem Wasser Kiesel springen ließen. Sultan war fröhlich auf sie zugelaufen. »Sultan, zurück!«, hatte er gerufen, aber Sultan zottelte unbeirrt den Jungen entgegen. Sofort liefen einige Jungen auf Jan zu und hielten ihn fest. Die anderen droschen mit Stöcken und Steinen auf den Hund ein. Sie schlugen ihn wund und blutig, danach ertränkten sie Sultan im Fluss. Sie lachten und krakeelten dabei.

Seit jenem Nachmittag ging er nicht mehr in die Schule. Vater und Mutter beknieten ihn, zum Unterricht zu gehen. Er blieb stur. Er ging nicht mehr. Sie versuchten schließlich, ihn in einem ehrlichen Handwerk, einerlei in welchem, unterzubringen, aber kein Gewerk wollte einen Scharfrichtersohn als Lehrling aufnehmen. Seitdem war er für die Pflege des Gartens zuständig und assistierte dem Vater.

Was war von seinem Traum, Arzt zu werden, geblieben? Er verkaufte den Menschen Arzneien, heilte ihre gebrochenen Knochen. Auch die Reichen schlichen im Schutz der Nacht durch die Straßen zur Fronerei. Winselnd standen sie vor seiner Tür, Menschen, die ihn verachteten und einen großen Bogen um ihn machten, wenn sie keine Hilfe brauchten. Seit sechs Jahren beschwerten sich die Ärzte, Barbiere und Chirurgen in der Stadt über seine Praxis und bemühten sich, ihm das Handwerk zu legen. Dabei hatte er, der Scharfrichter, mehr Kenntnis vom Menschen als diese Kurpfuscher. Er, Jan Kock, hatte viele Leichen gesehen. Er kannte jeden Winkel des menschlichen Körpers. Und das schätzte man in Hamburg. Seit der Vater den Sohn des Senators gerettet hatte, hatte er Fürsprache im Rat, und man gestattete ihm, zu praktizieren. Und nun suchten die Quacksalberbrotneider durchzusetzen, dass man ihm, Jan Kock, das Heilen verbot.

Es war sicher die drückende Luft, die ihn melancholisch stimmte. Er goss sich eine weitere Kelle Wasser über den Kopf. Das Wasser war von der Sonne aufgeheizt. Es war zu warm, erfrischte nicht.

Er warf einen Blick in den Garten. Blumen, Kräuter, Gemüse und Beerensträucher bildeten ein scheinbar wirres Durcheinander. Aber jede Pflanze befand sich am richtigen Ort. Borretsch neben dem Spinat, Pfefferminze neben Kohlpflanzen, Schwertlilien neben Sellerie, Knoblauch neben Fenchel. Überall blühten Ringelblumen in leuchtendem Gelb. Sie durften sich wegen ihrer entzündungshemmenden und wundheilenden Wirkung ungehindert ausbreiten. Am Fuße des Staketenzaunes hatten sich allerlei Wildkräuter und Kapuzinerkresse ausgebreitet. An der hinteren Hauswand blühten Stockrosen und Löwenmäulchen in allen Farben. Heute, dachte Jan Kock, konnte er sich dieses bunten Farbenspiels nicht erfreuen.

Seit sechs Jahren war er Meister, lebte in der Scharfrichterei, im Zentrum der Stadt, am Berg, südwestlich der Hauptkirche Sankt Petri. Manchmal saßen in den neun Kojen bis zu neunzehn verurteilte Männer und Frauen. Sie wurden Tag und Nacht von einem seiner Knechte und vom Nachtwächter bewacht. Im Keller wurden die peinlichen Fragen gestellt, immer in Gegenwart zweier Gerichtsherren, eines Schreibers und eines städtischen Arztes. Selbst die aus der Bürgerschaft zum Gericht deputierten Bürger verlangten vielfach, den Befragungen beizuwohnen, was der Rat gestattete. Es waren schmerzhafte Fragen, um Angeklagte zum Geständnis zu bewegen, inquiriert und protokolliert vom Actuarius in criminalibus. Warum waren es die Scharfrichter, die dafür verachtet wurden? Warum verachtete man nicht die Untersuchungsrichter, die diese Quälereien anordneten, die ihnen oft mit unbewegter Miene beiwohnten und die Dauer der Tortur und ihren Grad bestimmten?

»Merke dir«, hatte der Vater gesagt, »du kannst die Tortur nicht verhindern, aber die Art und Weise, wie du die Strafen ausführst, liegt allein in deiner Hand. Du kannst dafür sorgen, dass die Angeklagten nicht zu sehr leiden. Du hast gesehen, ich füge den Menschen nur Verletzungen zu, die sich wieder heilen lassen. Und ich benutze Drogen, mit denen ich die Schmerzen betäube. Mische stets etwas Maulbeersaft, Schierling und Mandragorawein ins Wasser und gib davon den Angeklagten zu trinken.«

Erneut kam ihm seine Meisterprüfung ins Gedächtnis. Alle Scharfrichter der Umgebung waren mit ihren Familien in die Fronerei gekommen, um die bestandene Prüfung zu feiern. Die Glückstädter Linie, die Itzehoer Scharfrichter und der Lüneburger Zweig. Auch Vetter Christian Jassen, Scharfrichter in Schleswig, war angereist.

»Jan muss sparsam sein, um euch durchzubringen«, sagte Vetter Christian zur Mutter. »Das Geschäft geht immer schlechter, die Hinrichtungen nehmen ab, und die Tortur wird auch nur noch selten angewandt. An vielen Orten ist sie bereits abgeschafft. Stattdessen baut man immer mehr Zuchthäuser. Die Reformen nehmen uns unsere Existenz.«

»Das ängstigt mich nicht«, antwortete die Mutter. »Auch wenn Tortur und Hinrichtungen zurückgehen, in Hamburg wird hart bestraft.«

Mutter war lange gestorben, aber die Strafen in Hamburg waren hart geblieben. Jan Kock blickte auf den Kaak, der sich vor seinem Haus befand. Jeden Samstag um Viertel vor zwölf fand am Pranger das Auspeitschen und Brandmarken statt. Was war verachtenswerter, die Huren, Klatschweiber und Kupplerinnen, die kleinen Betrüger und Verleumder oder die Menschen, die sich auf der Straße drängten, die aus den Fenstern der umstehenden Häuser gafften und jeden Schlag mitzählten? Sie zählten bis vierundfünfzig. Vierundfünfzig Streiche! In Hamburg hielt man sich nicht an die Bibel. Moses spricht: ›Wenn man ihm vierzig Schläge gegeben hat, soll man ihn nicht mehr schlagen: auf dass nicht, so man mehr Schläge gibt, er zu viel geschlagen werde.‹

»Sei stolz auf Jan«, hatte Vetter Christian zur Mutter gesagt. »Er wird unser Geschlecht weitertragen und für Ordnung sorgen in der Welt.«

»Aber er wird zeitlebens ein Unehrlicher bleiben«, hatte die Mutter geantwortet. »Wo er auftaucht, werden die Menschen ihn meiden. Das ist kein Leben, Christian. Du weißt es.«

»Wir haben uns, Frieda, wir sind stark, und wir halten zusammen. Und eines Tages werden auch die Scharfrichter zu den ehrlichen Bürgern zählen und Bürgerrechte haben, davon bin ich überzeugt.«

Ehrlicher Bürger, Bürgerrechte. Er, Jan Kock, hatte keine Bürgerrechte. Er durfte inzwischen ein bisschen Land erwerben, darüber hinaus hatte sich nichts geändert. Bis heute war er kein ehrlicher Bürger, und die Menschen mieden oder verhöhnten ihn. Dabei hieß es, die Hamburger seien dem Scharfrichter wohlgesinnt.

Bitterkeit stieg in ihm auf. Ein Nachrichter vollstreckte ein nach göttlichen und menschlichen Rechten ergangenes Urteil. Dennoch entehrte ihn jede Strafe, die er vollzog. Jede Berührung seiner Hand war verboten. Selbst beim Einkaufen durfte er nichts antasten, sondern nur auf die Ware zeigen, die er kaufen wollte. Begegnete er einem der Bürgermeister, musste er den Hut abnehmen, grüßen und danach bis über den äußersten Rinnstein ausweichen. Selbst in der Kirche, selbst vor Gott war er ein Aussätziger. Sein Platz lag weitab von allen anderen, in der hintersten Ecke der Kirche. Er hörte viel über Liebe und Nächstenliebe, von der er als Einziger ausgeschlossen war. Auch das Abendmahl erhielt er abgesondert von den anderen, allein und als Letzter.

Jan Kock dachte an die Beerdigung seines Vaters. Die Mutter hatte darum gebeten, den Sarg wenigstens einmal durch eine Kirche tragen lassen zu dürfen. Es wurde abgelehnt. Sie fand nicht einmal Sargträger. Kein Bürger, kein Handwerker hätte den Sarg eines Scharfrichters angefasst. Es war die Pflicht der Kranzieher, ihn zu Grabe zu tragen. Aber selbst diese schmutzigen Kerle, meist übles Gesindel, hatten sich geweigert. Die Mutter hatte einige Matrosen gegen hohen Lohn gefunden, um Vater unter die Erde zu bringen. Um kein Aufsehen zu erregen, kamen sie des Nachts, mit vermummten Gesichtern. Sie trugen Vater zum Sankt-Petri-Friedhof, zu den abseits gelegenen Gräbern der Scharfrichter, draußen am Beinhof, auf der Südseite der Kirchhofsmauer. Als sie vor dem Grab standen, schossen Männer aus dem Gebüsch hervor und rissen den Bootsleuten die Kopftücher und Mäntel herunter. Einige Kranzieher wollten sich vergewissern, ob sich einer von ihren Genossen zum Leichentragen hergegeben hätte. Die Matrosen wehrten sich, schlugen drauflos. Es kam zu einer wilden Prügelei. Als die Kranzieher sicher waren, dass niemand der ihrigen unter den Leichenträgern war, machten sie sich wieder aus dem Staube. Endlich fand Vater seine Ruhe. Es war wenigstens kein Eselsbegräbnis, bei dem er wie ein Hund verscharrt worden wäre.

Jan Kock blickte zu Boden, scharrte mit dem rechten Fuß im Sand, bis sich eine tiefe Mulde bildete. In den Akten nannte man ihn den seligen Fron. Und jedes Jahr zu Weihnachten erhielt er vom Rat als Dank für seine Treue ein Paar Handschuhe aus Hundsleder. Und jedes Jahr grämte er sich und warf sie ins Kaminfeuer, wegen Sultan, und weil die hohen Herren seine Treue mit der eines Hundes verglichen. Die hoch geachteten Männer glaubten tatsächlich, ihm seine harte Arbeit, sein Leben als Einsiedler dadurch zu erleichtern. O ja, sie waren gütig, die Herren. Er durfte sogar den Hut aufbehalten, wenn er den Ratskeller betrat, sich an jeden freien Tisch setzen und sich bringen lassen, was er wollte. Er trank nur den einfachen Rheinwein zu vierzehn Schilling. Er war nicht so reich wie die hohen Herren, die in den Nischen und Separees die edleren Tropfen tranken und ihre Mahlzeiten einnahmen.

Es war noch nicht lange her, als er von einem seiner Knechte erfahren hatte, dass einer seiner Abdeckerhalbmeister Geschäfte mit dem Koch machte und ihm Hunde und Katzen lieferte. Der Koch hatte sie als Lamm- und Hasenbraten auf den Tisch gebracht, sogar die Köpfe der Tiere hatte er verarbeitet. Er, Jan Kock, hatte den Wirt zur Rede gestellt. Der Wirt hatte ihm einige Taler Schweigegeld zugesteckt und versprochen, den Koch sofort zu entlassen. Dennoch kam die ganze Sache heraus. Der Koch hatte sich längst aus dem Staub gemacht. Der Wirt wusch seine Hände in Unschuld. Die Herren schienen diesen Skandal bereits vergessen zu haben. Sie speisten genüsslich und reichlich. Jan Kock war der Appetit seitdem vergangen.

Dennoch besuchte er keine andere Schankstube als den Ratskeller. In jeder anderen Wirtschaft hatte er damit zu rechnen, sofort hinausgeworfen zu werden. Wollte er eine Schenke betreten, musste er in der Tür stehen bleiben, den Hut abnehmen und sich als Nachrichter ausweisen. Er durfte nur eintreten, wenn niemand von den Gästen protestierte. Ihm war nicht danach zumute, all dies zu erdulden.

Warum hatte er nicht geheiratet, wie Mutter es wünschte? »Jan«, hatte sie gesagt, »heirate, dann ist alles leichter zu ertragen.« Noch auf dem Sterbebett drängte sie ihn, endlich zu heiraten. Wenigstens diese Frage konnte er sich beantworten. Er, Jan Kock, wollte der letzte Scharfrichter der Familie sein.

Um den Gehässigkeiten der Menschen zu entfliehen, um das Gefühl zu haben, nur für kurze Zeit ein normales Leben zu führen, hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, sich zu verkleiden. Sein Doppelleben begann mit einem Schnauzer, den er auf dem Trödelmarkt erstanden hatte. Dann folgten Gehrock, Hose, gute Schuhe und ein Dreispitz. Über das rechte Auge zog er sich stets eine Augenklappe, wie sie viele Kapitäne und Bootsmänner trugen, die zu lange in die Sonne gepeilt hatten. So schlenderte er unerkannt durch die Stadt, besuchte die Kaffeehäuser der Bürger. Es gab viele Kaffeehäuser. Je nach Vorliebe wechselte er von diesem zu jenem. Er setzte sich mit einer Zeitung an einen Tisch, las ausgiebig oder hörte den Kaufleuten, Politikern, Advokaten oder Literaten bei ihren Gesprächen zu. Sie unterhielten sich über Krieg und Frieden, über Handelsgeschäfte, Opern- und Konzertaufführungen. Wer nicht Zeitung las oder diskutierte, spielte. Manchmal ging er in den Spielsaal, beobachtete das Wechselspiel von Furcht und Hoffnung, Wonne und Verzweiflung, das sich auf den Gesichtern der Spieler widerspiegelte, Gesichter, die, wenn sie sich vom Spieltisch abwandten, nur noch von Niedergeschlagenheit gezeichnet waren. Er hatte so manchen Mann beobachtet, der sich reich gekleidet und mit gefüllter Geldbörse an den Tisch setzte, um am nächsten Tag ohne einen Schilling in der Tasche in Lumpen zu laufen. Es war ihm unbegreiflich, wie erwachsene Männer Stunde um Stunde wie kleine Kinder spielten und dabei ihr Vermögen gefährdeten.

Doch er besuchte nicht nur die Kaffeehäuser mit ihren Spielzimmern, sondern schlenderte auch über die Märkte, wo er unbehelligt das bunte Treiben der Menschen beobachten konnte. Natürlich nicht, wenn er auf die Amtsstube ging. Jan Kock hielt inne. Er spürte, wie ihm das Blut aus dem Kopf wich.

Auf einem dieser Märkte, es war auf dem Neuen Markt, hatte er sie das erste Mal gesehen. Es war vor der Kasperbude. Sie lachte. Perlend. Frei. Wie das offene Meer. Auch er musste lachen, nicht wegen des Puppenspiels, er lachte, weil sie lachte. Ihr Lachen nahm ihn gefangen. Zuerst entwichen seiner Kehle nur rostige, abgehackte Klänge. Dann öffnete sich sein ganzer Leib. Sein Lachen quoll aus den Tiefen seines Körpers hervor. Dieses Lachen, das er nicht als das seinige erkannte, hatte seine Brust gesprengt und seine Augen mit Tränen gefüllt. Dieses Mädchen hatte sein Innerstes aufgewühlt, hatte seine Fröhlichkeit, die tief in ihm verborgen schlummerte, entfacht. Eine Ausgelassenheit, von der er nicht wusste, dass sie existierte. Er hatte nicht mehr gelacht, seit das mit seinem Hund passiert war, seit er nicht mehr aufs Gymnasium gegangen war. Er hatte sein Lachen verloren. Er hatte es nicht einmal bemerkt. Er fühlte, wie sich sein Brustkorb zusammenzog.

In der Hoffnung, sie wieder zu treffen, war er in der folgenden Woche zur gleichen Zeit zur Kasperbude gegangen. Sie erschien, in ihrer Dienstmädchenkleidung, in schlichtem Kleid und Haube, und mit ihrem Einkaufskörbchen in der rechten Hand. Und wieder lachte sie, dass ihm das Herz schmerzte. Ihr ganzer Körper schüttelte sich übermütig. Ihre Wangen glühten, und ihre Augen sprühten vor Lebendigkeit. Wie Sternschnuppen. Sie lachte frei wie der Ozean. Und auch er lachte und fühlte sich dabei, als müsse er gleichzeitig weinen. Sie hatte es nicht bemerkt, was sie in ihm auslöste. Er hatte sie nicht ein einziges Mal angesprochen. Er hatte stets in einiger Entfernung zu ihr gestanden, sie in der ersten Reihe, er seitlich hinter ihr.

Vier Wochen lang hatte er mit ihr gelacht. Vier Wochen hintereinander hatte er ihr Lachen gehört und sein Herz gespürt. Dann war sie nicht mehr wiedergekommen. Und sein Lachen war so plötzlich erstorben, wie es aus ihm herausgebrochen war. Nur die Erinnerung und eine schmerzliche Sehnsucht blieben in Leib und Seele haften. Warum hatte er sie niemals angesprochen? Was hätte das geändert? In dem Moment, wo er ihr gestanden hätte, dass er der Scharfrichter sei, wäre sie davongelaufen. Und er hätte sie nie wiedergesehen.

Hätte er sie doch nie wiedergesehen.

3. Kapitel

Es war halb sechs Uhr morgens. Hanna zog die Bettdecke über den Kopf. Sie fror. Sie fror immer, wenn sie erwachte. Auch im Sommer. Ihre Knochen schmerzten vor Kälte, und wenn sie atmete, stieg jener modrig beißende Geruch in ihre Nase, der die Lunge reizte. Ihre Kammer lag im Souterrain, gleich neben der Küche. Es war feucht, die Wände von Schimmel überzogen.

Schwerfällig rollte sie sich von ihrem Bett, stellte sich auf die Füße, strich über ihren Bauch. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie wurde von Tag zu Tag dicker. Sie griff zum Mieder, hielt den Atem an, schnürte es so fest wie möglich. Darüber stülpte sie ihr graues Dienstkleid. Nachdem sie die Schürze gebunden hatte, schlüpfte sie in ihre Pantinen. Ihre Strümpfe trug sie bereits. Sie zog sie nur noch zum Waschen aus, wegen der Kälte und weil sie immer mehr Schwierigkeiten hatte, sie über die Füße zu streifen.

Hanna benetzte ihr Gesicht, wusch sich die Hände. Das Wasser war eiskalt. Schnell trocknete sie sich ab. Sie war spät dran. Sie eilte in den Salon, begann sofort, die Fensterrahmen zu wischen. Dann entstaubte sie Möbel und Fauteuils, schüttelte Troddeln, Quasten und Deckchen aus. Sie staubte die Vorhänge ab und fegte den Teppich. Danach machte sie den Speisesaal rein und deckte den Frühstückstisch für die Herrschaften. Hanna stöhnte auf. Ein Stoß. Die Tasse in ihrer Hand fiel zu Boden. Sie stützte ihre Hände in den Rücken, bis der Schmerz nachließ, sammelte die Scherben zusammen. Wie sollte sie den Tag überstehen? Achtzehn Stunden. Es war erst früh am Morgen. Und die zerbrochene Tasse würde ihr vom Lohn abgezogen. Sie weinte. Was hätte sie darum gegeben, Hilfe zu haben. Ein anderes Dienstmädchen. Eine Freundin. Aber außer der Waschfrau, die alle vier Wochen zum Helfen ins Haus kam, hatte sie den ganzen Haushalt allein zu besorgen. Saubermachen, Kochen, Waschen. Das ständige Treppauf, Treppab über mehrere Stockwerke. Im Keller die Küche, im Parterre die Diele und Lagerräume, dann das Kontor, oben die Empfangs- und Wohnräume. Wenn das Essen nicht heiß auf den Tisch kam, beschwerte sich die Herrin. Dabei war der Weg von der Küche zum Speisezimmer viel zu weit, um heiße Speisen servieren zu können, und einen Aufzug gab es nicht.

Hanna rieb sich die Oberschenkel. Sie durfte nicht klagen, sich nichts anmerken lassen, auch wenn ihr die Arbeit von Tag zu Tag schwerer fiel. Wo sollte sie hingehen, wenn sie hinausgeworfen würde? Sie hatte doch niemanden. Sie kannte keinen anderen Ort, an dem sie hätte leben können. Zum Herrn Pastor könnte sie unmöglich zurückkehren. Undenkbar. Sie würde vor Scham im Boden versinken. Nichts anmerken lassen. Sonst gäbe es für sie nur die Gosse. Ein Leben unter den Obdachlosen und Bettlern. Sie hatte noch nie so viele Bettler wie in Hamburg gesehen. Darunter so viele Frauen und Kinder. Ganze Schwärme liefen in den Straßen umher, zerlumpt, verstümmelt, voller Ungeziefer.

Schweigen. Weiterarbeiten. Als wäre nichts.

Hanna lief in die Küche. Sie bereitete das Frühstück, ließ heimlich ein wenig Brot unter ihrer Schürze verschwinden. Die Herrin verschloss alle Lebensmittel, selbst Brot, bevor sie das Haus verließ, aber Hanna fand immer einen Augenblick, einen kleinen Brocken für sich abzuzweigen. Manchmal gelang es ihr, ein Stück von Boubous Fleisch abzuschneiden, ohne dass die Herrin es bemerkte. Hanna konnte Boubou nicht leiden. Er war ein dicker, überfressener Mops mit glasigen Augen, die aus seinem aufgedunsenen Hundegesicht herausglotzten. Immerzu kläffte er. Sein ganzes Aussehen und Wesen unterschied sich kaum von der Erscheinung seines Frauchens, die ihn sogar mit ins Bett nahm. Dass der Hund ständig krank war, musste an den Törtchen liegen, die die Herrin ihm zu fressen gab. An ihr lag es jedenfalls nicht. Sie war strengstens angehalten, Boubou niemals mit fettem Fleisch, vor allem nicht mit Knochen zu füttern, sondern nur feinstes Filet zu verwenden. Sie hielt sich daran, auch wenn es für sie selbst bereits ein Fest war, ausnahmsweise eine Frucht- oder Milchsuppe statt einer Sauerampfersuppe zu erhalten. Sie hatte geglaubt, dass sie nicht mehr hungern müsse, wenn sie bei so hohen Herrschaften in Dienst käme. Beim Herrn Pastor musste sie manches Mal im Dorf für die Familie betteln gehen, und wenn die Bauern ein paar Kartoffeln abgaben, bekamen zuerst seine Kinder zu essen. Für sie blieb nur selten etwas übrig. Auch beim Herrn Pastor hatte sie immer etwas beiseitegeschafft, sonst wäre sie wahrscheinlich verhungert. Aber Pastor Tadsen hatte sechs Kinder und kein Geld. Die Herrin hingegen war sehr reich. Dennoch gab sie ihr nichts. Wenn der Herr ihr nicht ab und zu etwas zu essen zustecken würde, müsste sie auch in diesem Hamburger Kaufmannshaus hungern. Sie wollte nie mehr hungern, nie mehr.

Hanna knabberte am Brotkanten. Vierzehn Jahre hatte sie bei den Tadsens gelebt. Sie musste etwa drei Jahre alt gewesen sein, als der Pastor sie eines Morgens schlafend auf einer Kirchenbank gefunden hatte. »Du musst auf eigenen Beinen stehen, Hanna«, hatte Pastor Tadsen gesagt, als sie siebzehn war. »Du bist jetzt erwachsen. Ich habe dich der Senatorenfamilie Broderjahn als Dienstmädchen empfohlen. Mehr kann ich nicht für dich tun.«

Ein Jahr war es jetzt her, dass sie ihr Bündel geschnürt hatte. Hanna wischte sich mit der Schürze die Augen trocken. Wenn doch nur Putschenelle bald käme, dachte sie.

Die Tür zum Speisezimmer öffnete sich. Hermine Broderjahn trat ein. Sie trug eines ihrer schlichten Hauskleider aus bräunlichem, einfachem Baumwollstoff. An der rechten Hand hielt sie Boubou am Halsband. Sie setzte sich, ohne Hanna eines Blickes zu würdigen, an den gedeckten Tisch. Der Mops legte sich auf den Teppich.

»Guten Morgen, Frau Senator.«