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Rainar Nitzsche

Mondinschein und Sein

Fantastische Nachtgeschichten


Allen Freunden in Kaiserslautern und den anderen Städten dieser Erde


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Die dritte Mondin

Im Dunkel leben,

im Dunkel tun, was wir können

- das soll sein.

 

Gottfried Benn: Die Stimme hinter dem Vorhang

 

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

weiter geht unsere Reise durch die fantastischen Welten der Nacht, in der unsere Mondin dort oben ewig und unveränderlich rund und voll erstrahlt. Das ist das Sein im Mondinschein.

Eine erste Sammlung von Geschichten erschien am 7.8.92 unter dem Titel Ruf der Mondin. Am 16.11.96 folgte dann die zweite mit dem Titel Im Licht der Vollen Mondin. Nun liegt die dritte Sammlung vor. Es handelt sich um Nachttexte aus 20 Jahren, kurze Prosa sowie auch Lyrik. Angeordnet sind sie grob thematisch in wenigen größeren Kapiteln, innerhalb dieser dann einfach alphabetisch nach Titeln sortiert.

Nun aber zum Inhalt: Seltsame Dinge geschehen da in den Zimmern und auf den Straßen der Stadt, auf den Wiesen und im Wald. Begeben wir uns auf die Reise von innen nach außen ins Irgendwo. Längst haben wir die Menschenwelt verlassen und erwachen in den Körpern von Tieren auf dem Land, im Wasser und in den Lüften der Erde. Andere Wesen aber existieren in unseren Träumen, Sagen, Märchen und Mythen. Da sind Götter und Göttinnen, Engel und Dämonen, Drachen und Elben. Doch wir begegnen auch dem Vampir, Nosferatu, und einem Dichter namens Edgar Allan Poe. Sie alle folgen der Mondin Ruf, und einige von ihnen rufen die Lebenden in den Tod.

Erinnern wir uns an den Rahmen der ersten Mondin-Bände. Einst saß da ein junger Mann auf einer Bank im Park unter ihrem Licht. Träumt nun nicht auch ein Penner, der ihn fand (ATON - Vater Sonn), und wenn ja, wovon? Oder aber erträumt sich der eine die Nacht und der andere den Tag? Und was ist mit den Frauen und Kindern, den Tieren und Pflanzen? Und lebt dieser junge Mann nicht auch zugleich unter anderen Namen andernorts in anderen Körpern? Erträumte ich ihn nicht eins mir selbst?

So viele Wesen und Räume und Zeiten! Und alles entwickelt sich nach überallhin. Ungeheuer sind diese Welten - ja, auch mir! - ungeheuer kompliziert, verschachtelt. Alles hängt mit allem zusammen. Also wollte ich die Geschichten auch verknüpfen, gut gedacht und nicht vollbracht. Denn da blickt so ein kleiner Rainar einfach nicht mehr durch. Und so sind es einfach kurze Geschichten, die alle eins gemeinsam haben: die Nacht, in der eine Volle Mondin scheint. Dies nur und nicht mehr?

 

Prolog im Park

Wenn einer zur Mondin kommt

so fragt ihn diese:

»Wer bist du?«

 

Dann soll er antworten:

»Ich bin du ...«

 

Wenn er so spricht

dann lässt ihn die Mondin

über sich selbst

hinausgelangen

 

Die Upanischaden

 

 

Seltsam. Dort sitzt gar kein junger Mann auf einer Bank im Park. Andererseits, so seltsam ist das auch wieder nicht, denn es sind Jahre vergangen - da wird Mann einfach alt. Doch er sitzt da noch immer - oder aber schon wieder?

Schon lange wächst dort im Zentrum kein Rosendickicht mehr. Jetzt sind es bunte Blumenbeete und ein sich kreuzender Weg aus Pflastersteinen. Auch ist es ja gar kein Park - da sieht man mal wieder, wie die Dichter lügen! -, sondern ein kreisrunder Platz.

Nein, die Bänke sind noch die alten - gut, älter geworden, aber noch dieselben. Abgesägt sind die Platanen, neue Triebe zahlreich emporgeschossen und schon ein wenig grün. Auch die Hecken zwischen den Bäumen wurden gestutzt. Ein warmer Tag im Mai mit Hochsommertemperaturen nach der eisigen Kälte im Frühling, dieses Jahr wieder wie im letzten Jahr. Wahrlich gewandelt haben sich die Zeiten.

Frühlingswetter, an das du dich erinnerst, hat es nie gegeben, glaubst du den Wetterfröschen im Fernsehen, die immer wieder versichern, dass alles schon immer so war - vermutlich auch Schnee im August - und das in der Pfalz, also mitten in Europa. Nein, nicht in der Eiszeit, sondern Ende des 20. Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung. Andererseits sollen wir laut Wissenschaft gerade eine Kaltzeit haben, die überdeckt wird von der globalen Erwärmung, verursacht durch vielerlei Gase und Staub.

Oder 30 °C im Schatten an meinem Geburtstag, fällt ihm ein, dem doch noch nicht so alten Mann, der jetzt am späten Nachmittag dort auf einer der vielen Bänke sitzt. Er lächelt und glaubt immer weniger, was andere ihm erzählen. Alles Lüge, denkt er, systemimmanent: Wer rechts ist, schaut nur nach links und umgekehrt. Wer was hat, will es behalten - und mehr, immer mehr haben, haben, haben! Wer nichts hat, will auch was und alles anders machen, bis er endlich selbst was hat. Hast du was, hast du Probleme. Hast du nichts, hast du nur dieses eine Problem. Ach, Lügen gibt es ja gar nicht mehr, »Unwahrheiten« heißt das jetzt in Neudeutsch. Und einer, der gelogen hat, machte nur einen Fehler. Und niemand hat mehr Macht, nur noch Verantwortung, was immer das auch heißen mag. Die trägt er natürlich nur so lange, wie nichts passiert und niemand daran erinnert. Aber das ist ja nur Politik und Alltag der Gegenwart. Das interessiert doch wirklich morgen niemanden mehr.

Warum er lächelt beim Gedanken an Hochsommerwetter am Tag seiner Geburt, willst du wissen?

Nun, weil er am dritten nicht existenten Weihnachtsfeiertag geboren wurde, spät in der Nacht, zwei Wochen und somit ein Jahr zu früh, konnte es wohl gar nicht erwarten, hier auf dieser Welt zu erscheinen. Das war mein erster großer Fehler, fiel ihm später mal ein, dem viele, viele folgen sollten. Deshalb also lächelt er nun und schließt die Augen und öffnet sie wieder und sieht ...

Dort gegenüber auf einer anderen Bank klettert ein kleiner Junge herum, vielleicht 5 Jahre alt. Zu weit entfernt, um sein Gesicht erkennen zu können, aber er kommt ihm irgendwie doch bekannt vor. Und dann sitzt dort rechts auf einer anderen Bank ein alter Mann, so um die sech... - 65, fällt ihm seltsamerweise ein. Weiter links sieht er einen jungen Mann von 15 und einen Greis von 85 und ein schreiendes Baby, 5 Monate alt und ganz allein. Und dort, das bin doch ich als Student, 25 Jahre jung und nicht mehr weit vom Diplom entfernt! Seltsam, denkt er, überall steckt da diese »Vier” im Alter drin, als habe sich das irgendwer ausgedacht, bin ich doch selbst jetzt 55. Nein, das kann wirklich kein Zufall sein!

Dann schauen alle sieben, jung und alt und älter, auf. Sie drehen ihre Köpfe und sehen sich an. Alle stehen sie von den Bänken auf, auch das Baby schwebt da. So erheben sich sieben Menschen, verlassen sieben Bänke jetzt gegen Abend auf einem ansonsten menschenleeren kreisrunden Platz. Sie krabbeln, rennen, gehen, schreiten langsam und bedächtig, streben alle dem Zentrum des Platzes zu. So kommen sich die Sieben einander näher. Staunend berühren sie sich und begreifen, dass sie alle nur einer sind. »Du!”, stammeln, sprechen, rufen die Älteren und nehmen die Jüngeren in ihre Arme. Die antworten nicht, sind ganz still und scheinen doch alles zu verstehen.

Und es herrscht schwarze Nacht über dem Zentrum des Platzes in dieser einen Stadt. Keine Sterne und keine Mondin und auch kein anderes Licht irgendwo. Schwärze ist, als wir alle zu einem werden, das leuchtend und singend emporsteigt.

Andere Menschen gehen zu anderer Zeit vorüber. Sie sehen Sterne funkeln und eine leuchtende Scheibe und warten doch auf die vielen bunten kurzlebigen Lichter des großen Feuerwerks zum Beginn der Maikerwe.

»Guck mal da!«, zeigt ein Mädchen empor, »Mutti, die Mondin ruft!« Sie schließt die Augen und sieht einen Jungen dort oben als Schatten in ihrem Licht stehen und winken, einen Jungen, der Gestalt und Größe blitzschnell - in der Dauer eines Augenzwinkerns - zu wechseln scheint. Er winkt ihr zu und lockt.

Sie aber schüttelt nur den Kopf. Nein, nein, darauf fällt sie nicht rein, sondern öffnet ihre Augen und geht weiter mit Mutti und Vati - anderen Verlockungen entgegen.

Innenraum 1

Alles bewegt sich

nach innen

Immer weiter

näherst du dich dir

 

Einst draußen auf einer Bank im Park

Dann in deinem Zimmer unter dem Dach

Und nun?

 

Hinein in deinen Geist

deine Seele

deine Träume

deine Fantasie