Ilona Einwohlt

Nonstop online?

grenzenlos digital unterwegs

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Ebenfalls von der Autorin im Arena Verlag erschienen:
Mein Pickel und ich
Die Schule und ich
Mein Knutschfleck und
ich Die Jungs und
ich Meine Clique und
ich Mein Schutzengel und ich
Das Model und ich
Die Welt und ich
Die Liebe und ich
Meine Ökokrise und ich
Mein Leben und ich
AllerBesteFreundinnenZeiten und ich

Alicia. Unverhofft nervt oft
Alicia. Wer zuerst küsst, küsst am besten
Alicia. Liebe gut, alles gut

Felis Überlebenstipps. Zettelkram und Kopfsalat.:
Neue Schule, neues Glück
Freundschaftskribbeln im Bauch
Familienkrach und Herzenstrost

Beste Freundinnen gegen den Rest derWelt (Geschichten-Sammelband zusammen mit Margot Berger, Stefanie Dörr und Alice Pantermüller)

Drillingsküsse. Wen lieb ich, und wenn ja, wie viele?

Schmetterlingsflügel für dich

Ilona Einwohlt,
geboren 1968, hat sich mit ihren Mädchenbüchern längst einen Namen gemacht – nicht zuletzt deshalb, weil sie mit ihrem locker-einfühlsamen Ton über Themen schreibt, die Mädchen wirklich interessieren. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Darmstadt. Mehr über die Autorin unter www.ilonaeinwohlt.de.

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1. Auflage als aktualisierte Ausgabe im Arena-Taschenbuch 2016
© Arena Verlag GmbH, Würzburg 2013
Dieses Buch ist bereits in anderer Ausstattung unter dem Titel
„Goldmarie online. Im Internetfieber – und jetzt?“ beim Verlag erschienen.
Alle Rechte vorbehalten
Einbandgestaltung: Maria Proctor unter Verwendung einer Illustration
von Annabelle von Sperber
Umschlagtypografie: KCS GmbH ·Verlagsservice & Medienproduktion,
Stelle/Hamburg
ISSN 0518-4002
ISBN 978-3-401-80604-4

Besuche uns unter:
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Inhalt

1 Neustart

2 It’s Partytime

3 Ausgespielt

4 Goldmarie …

5 … und Pechmarie

6 Alle gegen eine

7 Blind Date

8 Voll gelinkt

9 Aufgewacht?!

10 Alles echt

Kapitel, die Probleme lösen

11 Gut zu wissen

12 Copy and Paste

13 Ja zum Urheberrecht

14 Safe Surfen

15 Recht am Bild

16 Computergesunde Tipps

17 Cybermobbing

18 Von wegen blinde Kuh

19 Bist du mediensüchtig?

20 Alles Freunde – oder was?

1 Neustart

„Puh, geschafft!“ Erleichtert schiebe ich die Schublade meiner nigelnagelneuen Kommode zu. Soeben habe ich das letzte Paar Socken einsortiert – Sneakersocken neben die bunten Happy Socks, die einfarbigen dahinter. Einen extra Wäscheschrank – so viel Platz hatte ich in meinem alten Zimmer gar nicht! Denn in unserem neuen Haus ist alles dreimal so groß. Meine Eltern haben an nichts gespart, mir scheint es, als hätten sie nur darauf gewartet, endlich mit vollen Händen das Geld ausgeben zu können, das sie in ihren Managerjobs verdienen und jahrelang gespart haben. Hatten wir vorher eine gemütliche Altbauwohnung mitten in der Stadt, wohnen wir seit vierzehn Tagen in einem verschachtelten, sehr modernen Bungalow, den meine Eltern dreißig Kilometer außerhalb auf dem Land gebaut haben – mit allem Pipapo: Im Keller gibt es eine Sauna und einen Partyraum, ein Weinlager mit Klimakühlschrank und einen Hauswirtschaftsraum für Marianne, unsere Zugehfrau.

Im Erdgeschoss befindet sich eine geräumige Wohnküche mit einer Kochinsel, weil mein Vater zur Entspannung gerne kocht und sich dabei von seinen Freunden bewundern lässt. Ich glaube, alleine deshalb ist ihm dieses Haus so wichtig, weil er jetzt endlich im Mittelpunkt stehen kann, wenn er sein berühmtes Boeuf Bourguignon zubereitet, und nicht mehr wie in der alten Wohnung alleine in der Küche werkeln muss. Natürlich haben wir einen Kamin, zwei Gästeklos, eins davon mit Dusche, oben mehrere Schlafzimmer, zwei davon mit einem Bad ensuite. Und Mama nennt einen begehbaren Kleiderschrank, in dem sie ihre Business-Anzüge ordentlich und ebenfalls farblich sortiert aufbewahrt, ihr Eigen.

Mein „Reich“ besitzt ein überdimensionales Panoramafenster, von dem aus ich über die Felder bis hinüber auf die Reitanlage schauen kann, weil der Bungalow am Hang liegt. Alles ist hellgelb und in warmen Orangetönen gehalten, ein lichtdurchfluteter Raum mit einem Kingsize-Bett, einem gemütlichen Sofa und einem Designerteppich. Auf dem lässt es sich super herumlümmeln und Musik hören, ich weiß gar nicht, wie ich vorher ohne ihn sein konnte. Ich überlege, dort in Zukunft auch meine Hausaufgaben zu erledigen, aber das erzähle ich meinen Eltern lieber nicht. Denn sie sind ordentlich streng und verstehen bei allem, was mit Schule zu tun hat, überhaupt keinen Spaß – oder anders gesagt: Wenn ich keine sehr guten Noten nach Hause bringe, gibt es Ärger.

Das Beste an unserem neuen Zuhause ist jedoch unsere Mediathek im Ostflügel, die Papa ganz zeitgemäß mit Flatscreen, einem Full-HD-Beamer und Digital-Theater-Surroundsystem ausgestattet hat, ultragemütlichen Liegesofas inklusive, natürlich alles kabellos über Bluetooth gesteuert. In einer kleinen, unscheinbaren silbernen Kiste befinden sich an die tausend digitalisierte Filme; die DVD-Klassiker-Sammlung daneben macht sich richtig breit … Hier Lieblingsfilme zu gucken, ist besser als Kino! Außerdem darf ich sehen, was ich möchte, denn im Gegensatz zu den Gepflogenheiten in anderen Familien gibt es bei uns keine strikte Regelung was Fernseh- oder Computerzeiten betrifft, dafür sind meine Eltern in allen anderen Dingen unerbittlich. Im Medienzimmer habe ich freie Hand und kann tun und lassen, was ich möchte, ich darf sogar den großen Rechner benutzen, wenn ich etwas für die Schule recherchieren muss.

Eine nigelnagelneue Wii steht hier natürlich auch, Just Dance, Tennis, Lernspiele – alles, was man zum Sportmachen braucht begehrt. Zum Einzug hat mir meine Mutter Zumba-Fitness mit extra Hüft-Controller geschenkt und gemeint, damit könnte ich mit „ultra-fun“ meine Kondition und Figur verbessern. Sie ist nämlich der Meinung, dass mein Body optimierungsbedürftig ist, und macht mir diesbezüglich Dauerstress. Das ist noch schlimmer, als wenn sie ständig nach meinen Schulnoten fragt …

Ich überlege gerade, ob ich eine weitere Session einlege, da höre ich Marianne von unten rufen. Ihre Stimme klingt genervt, aber das tut sie in letzter Zeit immer, seit Marianne hier zu uns immer eine halbe Stunde stadtauswärts fahren muss.

„Johanna, da ist Besuch für dich!“

Besuch? Für mich?

„Komme!“, rufe ich und beeile mich, die unzähligen Holzstufen nach unten zu laufen. Ein schwieriges Unterfangen, an das ich mich erst noch gewöhnen muss, denn es handelt sich hier nicht um irgendeine Treppe, sondern um maßangefertigte Holzblöcke, die mit einer besonderen Technik an die Wand gedübelt wurden und einen an eine Art Hühnertreppe erinnern. Das darf man nur nicht laut sagen, sonst ist der Architekt beleidigt …

Als ich unten im Eingangsbereich ankomme, steht da Alina aus meiner Parallelklasse, barfuß, in Shorts und mit wippendem Pferdeschwanz. Ich kenne sie aus den Pausen, außerdem waren wir mal während der Projektwoche in einer Gruppe und ab und zu reden wir miteinander, wenn wir uns nachmittags in der schulischen Mediathek treffen. Ich finde sie eigentlich ganz nett, wenn auch ein bisschen langweilig, weil sie ständig nur von Pferden erzählt.

„Hi, was machst du denn hier?“, begrüße ich sie verwundert.

„Und was machst du hier?“, fragt sie ebenso kess zurück.

Einen Moment lang gucken wir uns schweigend an.

„Ich bin deine neue Nachbarin – oder du meine, wie man’s nimmt“, sagt sie und hält mir grinsend die Hand hin. „Willkommen in Liederhausen, Ort der Lindenblüte, Landluft und Langeweile.“

Verblüfft schlage ich ein. „Sag bloß … ich wusste gar nicht …“ „Wir wohnen hier schon seit über zwei Jahren, wenn du magst, zeige ich dir alles.“ Alina guckt mich mit ihren blauen Augen erwartungsvoll an. „Ich war in den Ferien bei meinen Großeltern, Mama hat mir vorhin erst gesagt, dass da ein Mädchen in meinem Alter eingezogen ist. Da war ich natürlich neugierig und musste schnell mal gucken kommen …“

„Gute Idee“, mischt sich Marianne ein, die die ganze Zeit über schweigend danebengestanden hat. „Dann kann Alina dir schon mal zeigen, wo morgen der Schulbus abfährt, und deine Mutter muss dich nicht fahren.“ Sie nickt uns beiden aufmunternd zu, nach dem Motto Und jetzt spielt mal schön.

„Geile Bude!“ Alina nickt anerkennend. „Wir haben uns bereits während der Bauphase gefragt, welche reichen Schnösel hier wohl einziehen. Uuups.“ Erschrocken hält sie sich die Hand vor den Mund.

Ich verziehe mein Gesicht. „Tja, wennschon, dennschon. Aber wenn es dich beruhigt. Sooo reich sind wir gar nicht, meine Eltern haben nur sehr lange gespart, um sich endlich ihr Traumhaus leisten zu können.“ In Wahrheit verdienen sie ordentlich Kohle, wie ich neulich zufällig herausgefunden habe – mein Vater ist Controller im mittleren Management, meine Mutter Regional-Managerin für Ostasien im Investmentbereich in einer Bank. Beide arbeiten leidenschaftlich gerne und lang und sind zu Hause so gut wie nie ohne ihre Unterlagen und Smartphones anzutreffen. Selbst beim Kistenauspacken stand Mamas Laptop mit den aktuellen Börsendaten auf dem Fensterbrett. Wir haben überall im Haus WLAN und natürlich sind Rollläden, Alarmanlage, Licht und Türen über das iPad gesteuert.

„Soll ich dir alles zeigen?“, frage ich Alina, die erwartungsvoll neben mir steht, halb belustigt über ihre Neugier, halb genervt. Eigentlich wollte ich nicht hierherziehen, weil es mir in unserer alten Wohnung an nichts fehlte. Hier ist mir alles eine Spur zu groß und zu modern eingerichtet, aber mein Zimmer ist natürlich einsame Spitze.

Also mache ich eine Hausführung, fange unten bei Sauna und Whirlpool an und höre oben in der Mediathek auf. Alina bringt vor Staunen kaum ein Wort über die Lippen.

„Wow!“ und „obergeil!“ ist alles, was sie sagt. Mir ist das ein bisschen unangenehm, ich bin nicht der Typ Angebertussi, auch wenn das vielleicht alle von mir denken, weil ich immer teure Markenklamotten trage und fast alles bekomme, was ich mir wünsche. Aber in Wirklichkeit mache ich mir nicht sonderlich viel daraus. Ob da Boss Orange oder Ralph Lauren draufsteht, ist mir herzlich egal, für mich ist es normal, so angezogen zu sein. Außerdem bin ich nicht sonderlich schlank, weshalb ich, anders als Krizia und Doreen aus meiner Klasse, mit denen ich befreundet bin, nicht so viel Spaß an Mode habe. Die beiden legen großen Wert auf ihr Styling und diskutieren stundenlang über mögliche und unmögliche Outfits, während ich mit Jeans und Shirt zufrieden bin – zum Leidwesen meiner Mutter, die meist coolere Klamotten für mich raussuchen würde, in die ich aber leider nicht reinpasse. Einzig bei meinen Haaren, die lang, blond und in weichen Locken mein Gesicht umrahmen, lege ich Wert auf regelmäßige Pflege. Da kann ich stundenlang vor dem Spiegel stehen und sie mit allen möglichen Kuren und Tinkturen beackern, bis sie wunderschön glänzen und gesund aussehen. Da meine Mutter die Friseurtermine ausmacht, gehe ich natürlich nicht in irgendeine Haarfabrik, sondern genieße Luxusshampoo einer Luxusmarke in einem Luxussalon mit einem Luxushaarschnitt zu einem Luxuspreis. In diesem Fall habe ich ausnahmsweise nichts dagegen, wenn sie sich in meine Belange einmischt, ansonsten nervt mich ihre ständige Gängelei tierisch. Vor allem wenn sie an meiner Figur herummeckert und mich nach meinen Zumba-Fortschritten fragt. Ich stehe zu meiner starken Figur, die – by the way – so unansehnlich nun auch wieder nicht ist. Nur neben meiner Mutter, die die zierliche Kleidergröße sechsunddreißig trägt, wirkt jeder normale Mensch stämmig und dick.

„Wenn du magst, können wir heute Nachmittag ein paar Folgen von Pretty Little Liars zusammen gucken“, schlage ich Alina vor, als ich ihre Begeisterung für das Liegesofa bemerke.

„Au ja, gerne.“ Sie schaut mich strahlend an und lässt sich aufs Sofa plumpsen. Doch dann verfinstert sich ihre Miene. „Geht leider nicht, ich habe Mama versprochen, auf Leo aufzupassen. Sie muss zum Zahnarzt und kann ihn nicht mitnehmen. Aber komm du doch mit zu mir, dann können wir zusammen was spielen. Das ist viel lustiger, als alleine zu sein.“

Dieses „Das ist viel lustiger, als alleine zu sein“ geht mir dann die nächsten Stunden über nicht aus dem Sinn. Gleich nach dem Mittagessen bin ich rüber zu Alina. Eigentlich hätte ich noch eine Lerneinheit Chinesisch pauken müssen, aber da Mama durch den Umzug so eingebunden ist, fällt ihr sowieso nicht auf, wenn ich nicht in meinem Zeitplan bin. Außerdem macht mir dieses Gequake überhaupt keinen Spaß, Sprachen gehören nun mal nicht zu meinen Stärken, da hilft mir auch dieser Online-Kurs nichts. Ich bin froh, dass ich es in Englisch und Französisch auf eine gute Zwei bringe, aber das ist meiner Mutter natürlich nicht gut genug. Sie selbst spricht Chinesisch nicht gerade fließend, aber es reicht, um in ihrer Bank die Abteilung für ostasiatische Geschäfte zu leiten. Deshalb findet sie auch, Sprachen seien das Tor zur Welt und heutzutage müsse man mindestens Englisch und Chinesisch sprechen, um sich auf dem internationalen Parkett behaupten zu können. Zu ihrem Leidwesen hat sie bisher noch niemanden gefunden, der ihrer Vorstellung als Lehrerin für mich entspricht, weshalb sie darauf besteht, dass ich mich jeden Tag einlogge und selbstständig lerne. Alle drei Wochen fragt sie mich Vokabeln ab und macht einen kleinen Test. Bisher war sie mit meinen Lernfortschritten nie zufrieden.

Das Haus von Alina nebenan ist ein zweistöckiges Satteldachhaus und ganz anders eingerichtet als unseres. Es ist mindestens so groß wie unseres, aber viel konventioneller aufgeteilt. Unten gibt es eine Küche, Wohn-Ess-Bereich, oben befinden sich vier Schlaf- bzw. Kinderzimmer. Im Keller gibt es einen Hobbyraum, in dem Alinas Mutter ihre Bastelsachen aufbewahrt. Sie näht, strickt und bastelt kleine feine Dinge, teilweise auf Bestellung, die sie dann in einem Internetshop präsentiert und verkauft. Weil ich so begeistert von einem niedlichen Patchwork-Kissen bin, bekomme ich es geschenkt.

„Als Willkommensgruß“, lacht Frau Willmer. Mir fällt auf, dass sie kaum Fältchen hat, obwohl sie locker an die fünfzig sein muss. „Ich freue mich so, dass Alina jetzt eine Freundin in der Nachbarschaft hat.“

Bevor sie geht, stellt sie in der Küche einen Schokokuchen und Apfelsaft bereit.

„Tamara kommt später, sag ihr bitte, sie soll ihre Bluse bügeln“, verabschiedet sie sich. „Ach ja, und wenn Leo wieder nicht aufräumen will, du weißt ja …“

„Jaja, ich weiß“, grinst Alina und winkt ihr nach. „Dann gibt es kein Lego Star Wars zum Geburtstag, gell?“

Leo zwinkert ihr verschmitzt zu. So klein ist er gar nicht mehr, ich schätze mal neun, also vier Jahre jünger als wir. Aber er besteht darauf, dass wir den gesamten Nachmittag mit ihm spielen. Weil ich keine Lust auf Star Wars habe, einigen wir uns darauf, immer abwechselnd mal mit den Lego-Fightern – und dann wieder eine Runde UNO zu spielen. Wie er später erzählt, ist sein bester Freund und Kumpel Jonas in den Ferien überraschend weggezogen, sodass ihn jetzt nicht nur der Abschiedsschmerz, sondern auch die große Langeweile plagt.

„Langeweile kenne ich auch, aber anders“, tröste ich ihn, „ich habe nachmittags volles Programm, weil ich in der Ganztagsklasse bin, also spät nach Hause komme und dann noch ständig andere Termine habe … und wenn ich die Freundinnen aus meiner Klasse treffen will, haben die nie Zeit, wenn ich mal Zeit habe. Außerdem erlauben es meine Eltern nicht, dass ich alleine mit dem Bus wohin fahre.“

Es ist tatsächlich so, dass ich meistens für mich alleine bin. Früher hat sich Marianne mehr um mich gekümmert, aber seit dem Gymnasium habe ich eine Fulltime-Woche mit AG, Tennis, Klarinette und natürlich tausend Hausaufgaben. Da bleibt für Freundinnen wenig Zeit. Einzig mit Krizia und Doreen aus meiner Klasse verstehe ich mich ganz gut, sie sind wie ich in der Ganztagsklasse. Ab und zu treffen wir uns abwechselnd am Wochenende und übernachten auch mal beieinander, aber so richtig dicke enge ABFs sind sie nicht. Ich habe mich daran gewöhnt, für mich zu sein, und finde es normal, entweder zu lernen oder ein Buch zu lesen.

Deshalb wundern sich meine Eltern auch sehr, als ich zu spät zum Essen komme. Das sind sie von mir nicht gewohnt. Aber Alina und ich haben noch auf dem Riesentrampolin in Willmers Garten Saltos geübt und darüber glatt die Zeit vergessen, weil Alina so ulkige Verrenkungen gemacht hat, dass mir jetzt noch der Bauch vom vielen Lachen wehtut.

„‚tschuldigung“, murmele ich, als ich an meinen Platz schleiche. Wir haben jetzt einen zwei Meter fünfzig langen Holztisch und sitzen an der kurzen Seite über Eck. Marianne hat die Paprikasuppe bereits aufgetragen, das Sahnehäubchen in meinem Teller ist bereits verflossen.

„Wo bleibst du denn?“, begrüßt mich mein Vater vorwurfsvoll. „Die Suppe wird kalt.“

„Ich war bei Alina drüben, stell dir vor, sie geht in meine Parallelklasse …“, sprudele ich hervor und fange an zu löffeln.

„Alina?“, fragt meine Mutter und nimmt sich ein Stückchen Weißbrot. „Noch nie gehört. Aber wenn sie nebenan wohnt, hast du vielleicht bald eine neue Freundin …“

Ich will gerade von ihr erzählen und sagen, dass ich mir auch ein Trampolin für unseren Garten wünsche, da klingelt Papas Smartphone. Wie immer, wenn wir beim Essen sind. Und wie immer geht er natürlich dran, ruft mit wichtiger Miene ein paar Anweisungen hinein und legt es dann wieder zur Seite. Diese Szene passiert meistens so vier- bis fünfmal während des Essens. Ich bin froh, dass ich die anderen Mahlzeiten alleine einnehme, da stört dann wenigstens kein Handy. Morgens, wenn ich frühstücke, sind meine Eltern noch im Badezimmer, mittags sind sie in ihren Büros und ich esse in der Mensa (da nerven nur die Handys meiner Mitschüler). Dafür ist das Abendessen die heilige Familienstunde, wie mein Vater sie nennt, bei der niemand stören darf – außer seinen Teamkollegen. Aber wehe, eine meiner Klassenkameradinnen ruft an und erkundigt sich nach den Hausaufgaben. Dann gibt es lautstarken Ärger in der Hütte.

„Gut, dass du nicht die Schule wechseln musstest“, sagt meine Mutter jetzt und nickt Marianne freundlich zu, die die Teller abräumt und den Hauptgang serviert. „So musst du dich nur an einen neuen Schulweg gewöhnen. Der Bus fährt alle halbe Stunde … besser hättest du es nicht treffen können. Sag und diese Alina … was machen denn ihre Eltern so?“, hakt sie neugierig nach.

„Von ihrem Vater weiß ich nichts und ihre Mutter hat ein Kreativstudio“, erzähle ich, springe auf und hole rasch das Patchwork-Kissen, herein, was mir einen Stirnrunzler von Papa einbringt, der hingebungsvoll über sein Rindergeschnetzeltes gebeugt ist.

„Womit man so seine Zeit verbringen kann …“ Mama betrachtet mit skeptischer Miene die Handarbeit. Dann stochert sie wieder in ihrem Teller herum, ihr Essen ist längst kalt. Natürlich ein Grund für sie, es stehen zu lassen, kein Wunder, dass sie so hager ist. Seit ich denken kann, findet Mama immer einen Grund, die Hauptspeise stehen zu lassen. „Geht Alinas Mutter denn nicht richtig arbeiten?“, fragt sie.

„Ich glaube nicht, da sind ja auch noch Leo und Tamara“, antworte ich.

„Als ob das ein Grund wäre! Wozu geht ihr denn auf eine Privatschule mit all den vielen wertvollen Nachmittagsangeboten?“ Mama schüttelt den Kopf. „Demnach ist Alina nicht in deiner Gruppe?“

„Nein, sie ist ja nicht in der Ganztagsklasse, deshalb fährt sie nach Schulschluss immer nach Hause.“

Meine Eltern hatten Wert darauf gelegt, mich in einer Ganztagsklasse unterzubringen mit der Option auf Extraförderung für Hochbegabte. Es ist ein privates Gymnasium, bei dem Elterninitiative gefragt ist. Entweder in Form von persönlichem Einsatz als Vorstand, Hausmeister oder Gruppenleiter – oder als finanzielle Stütze für Sportgeräte, neue Computer oder Workshops. Dreimal darfst du raten, in welcher Form meine Eltern aktiv sind …

In der Ganztagsklasse sind ausnahmslos Mädchen aus besseren Häusern, wie meine Mutter sich ausdrückt, Krizia und Doreen gehören auch dazu. Sie besitzen in ihren Augen Anstand, Werte und Moral, sprechen ordentliches Hochdeutsch und verfügen über eine gute Allgemeinbildung, was für meine Eltern einen hohen Stellenwert besitzt.

„Hast du deinen Ferienplan für die Schule erledigt? Und hast du heute schon Klarinette geübt?“, wechselt Mama jetzt das Thema. „Wenn du auf Papas Weihnachtsfeier spielen willst, musst du noch ein bisschen was dafür tun.“ Sie schaut meinen Vater bedeutungsvoll an, nach dem Motto „Jetzt sag du doch auch mal was!“. Doch der wischt mit seinem Finger nur auf seinem iPhone herum und hat noch nicht einmal gehört, was sie gesagt hat.

„Ja klar“, lüge ich sie an, um sie zu beschwichtigen. In Wahrheit liegt meine Klarinette seit unserem Einzug unberührt im Kasten. Ich spiele eigentlich ganz gerne, am liebsten variiere ich Pophits wie I believe I can fly oder My heart will go on oder Someone like you, das darf nur meine strenge Lehrerin nicht mitbekommen, die der Meinung ist, damit verdürbe ich mir meinen Stil. Für den Unterricht spiele ich Jenseits der Stille zu der Klavier-Stimme auf der CD, das habe ich ihr abgetrotzt, weil mich der Film so berührt hat. Muss noch ein bisschen üben, vor allen den Problemkandidaten C3. Aber mit dem neuen Mundstück klappt es schon ganz gut … Papa hat sich allerdings ausgedacht, dass ich auf seiner Betriebsfeier ein paar weihnachtlich verjazzte Spezialarrangements zur Background-CD spielen soll – gruselig.

„Bis Dezember ist es ja noch eine Weile hin, da kann ich noch ganz viel üben“, füge ich rasch hinzu, als ich ihren skeptischen Blick bemerke.

Mama seufzt und schält sich eine Orange zum Nachtisch, während ich genüsslich meine Zitronencreme löffele. „Du hast recht, jetzt sollten wir den Sommer erst noch ein bisschen genießen … schade, dass unsere Terrasse noch nicht so weit ist, sonst könnten wir draußen essen.“

„Das können wir doch auch so! Morgen Abend machen wir ein Picknick auf dem Rasen, was haltet ihr davon?“ Erwartungsvoll blicke ich von einem zum anderen.

„Ohne mich“, meint Papa kopfschüttelnd, „ich kann auf dem Boden nicht essen.“

„Ach komm schon, Spielverderber, bitte, nur das eine Mal! Das wird sozusagen unser ganz privates Einweihungsfest.“ Ich lächele ihn mit meinem umwerfenden Bittebettelblick an, von dem ich weiß, dass er ihm nicht widerstehen kann. Schließlich bin ich seine kleine Prinzessin, von der er, wenn er einmal Zeit für sie hat, nie genug haben kann. Leider hat Papa in den letzten Wochen sehr viel zu tun gehabt. Aber jetzt guckt er mich liebevoll an und ich weiß, ich habe gewonnen. Für einen kurzen Augenblick ist es so wie früher.

„Also gut, du hast recht! Nur wir drei, ganz gemütlich und romantisch auf der Picknickdecke. Marianne soll uns einen Korb machen … aber du versprichst dafür, eine Extra-Einheit Klarinette zu üben, damit du mich dann Weihnachten vor meinen Leuten nicht blamierst. Versprochen?“ Er nickt mir zu.

Weil Papas Handy erneut den Eingang einer Nachricht vermeldet und ich Mamas bohrende Fragen nach der Schule nicht mehr ertrage, stehe ich auf und verschwinde auf meinem Zimmer. Dort stülpe ich mir meine Kopfhörer über und träume mich zu der wunderschönen Stimme von Adele an einen warmen Strand, an dem ich barfuß durch die Wellen laufe und vom Wind meine Haare durchpusten lasse, während ich lachend einem Jungen entgegenlaufe, der mich liebevoll auffängt und umherwirbelt. Es ist Marvin, der süßeste Junge aller Zeiten, mit blonden Locken und tiefblauen Augen … Marvin gibt es nicht in echt, er ist mein sprichwörtlicher Traumboy, an den ich so oft denke und zu dem ich mir Geschichten ausmale, wenn ich alleine bin und nicht einschlafen kann. Und ich kann oft nicht einschlafen …

Alles, was man wissen sollte, wenn man im Internet surft, liest du in Kapitel 11, S. 142.

2 It’s Partytime

„Hey, Jenny, warte mal!“

Doreens Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Beinahe hätte ich nicht reagiert, sechs Wochen lang hat mich nämlich fast niemand mehr so genannt. Meine Mutter besteht darauf, mich Johanna zu nennen, ich bin ja schon froh, dass sie die Marie weglässt. Johanna Antonia Marie von Gunzenbach, wer heißt denn so?